Willem de Vries. Sonderstab Musik: Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45. Köln: Dittrich Verlag, 1998. 384 S. ISBN 978-3-920862-18-7. Reviewed by Michael Walter Published on H-Soz-u-Kult (January, 1999) [Das Buch erschien zuerst unter dem Titel Reihenfolge durch mühsames Vor- und Zurück‐ "Sonderstab Musik. Music Confiscation by the Ein‐ blättern, durch Vergleichen, durch Prüfung der satzstab Reichsleiter Rosenberg under the Nazi Relevanz der Informationen und ihrer Einord‐ Occupation of Western Europe" bei Amsterdam nung in das Gesamtbild erst erschliessen. De University Press 1996] Vries' eigenartiger Umgang mit den Quellen führt Während eine gründliche akademische Unter‐ auch dazu, dass vieles nach handwerklich-histori‐ suchung von Pamela M. Potter über die Musikwis‐ schen Maßstäben als nicht gesichert gelten muss, senschaft im Dritten Reich (1) bisher kaum auf geschweige denn im historischen Zusammenhang ausserakademisches Interesse stiess (2), ist de geklärt ist oder erklärt wird. Die bislang vorliege‐ Vries' Buch vor allem infolge seiner Darstellung nen unkritischen Lobpreisungen des Buches, das der Tätigkeit des (bis vor kurzem noch lehrenden) auch im Hinblick auf mögliche Restitutions‐ Göttinger Emeritus Wolfgang Boetticher im "Son‐ ansprüche durchaus nicht unbrisante Thema und derstab Musik" in den letzten Wochen auf überre‐ die Involvierung eines noch lebenden Protagonis‐ gionales Medienecho gestossen (3), was ein Lehr‐ ten machen es notwendig, das Buch detailliert zu beispiel dafür ist, dass die Sensationsgier eines besprechen, was die Länge dieser Rezension er‐ unbedarften Autors allemal auf mehr Interesse klärt. Da sich die Besprechung überwiegend am stößt als eine seriöse Untersuchung. Denn, um es Darstellungsgang des Buches orientieren muss, vorweg zu nehmen, de Vries' Buch ist, trotz der habe ich versucht, sie wenigstens ansatzweise bislang unbekannten Informationen, die in ihm durch Zwischenüberschriften zu gliedern. enthalten sind, wissenschaftlich und darstelle‐ ERGEBNISSE DES BUCHES VON DE VRIES risch ein Desaster, um nicht zu sagen ein Skandal. Um mit dem Verdienst des Buches zu begin‐ Nicht nur muss man sich die wirklich wichtigen nen: De Vries beschreibt das Ausmass der Plünde‐ Informationen über das Amt Rosenberg und des‐ rungsaktionen des "Sonderstabs Musik" im Rah‐ sen "Sonderstab Musik" und ihre chronologische men des "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" H-Net Reviews (ERR). Im Mittelpunkt stand dabei die Teilnahme unterschiedlichen Sammellager und Ausweich‐ an der "M-Aktion", deren Ziel es war, sogenanntes quartiere des ERR. "herrenloses" jüdisches Gut zu beschlagnahmen Rosenbergs zuständiger Mann für Musik war und nach Deutschland zu schaffen. "M" bezieht Herbert Gerigk, Leiter des Amts Musik bzw. der sich nicht auf "Musik" oder "Musikalien", sondern Hauptstelle Musik (beide sind nicht identisch) im auf "Möbel". Das Kürzel wird von de Vries zum sogenannten Amt Rosenberg. Zusammen mit erstenmal ohne Erläuterung auf S. 66 verwendet, Theo Stengel gab Gerigk das "Lexikon der Juden dann wieder auf S. 72, erst auf S. 137 wird der Be‐ in der Musik" heraus, das von de Vries beschrie‐ zug auf "Möbel" erläutert, und auf S. 240 fndet ben wird. Daneben war Gerigk auch noch für die sich dann die kursive Abschnittsüberschrift "Die musikalischen Belange im Zusammenhang des Möbel-Aktion (M-Aktion)" (solche Ueberschriften, Aufbaus der "Hohen Schule" zuständig sowie für die sich zum Teil auf keineswegs kurze Abschnitte zwei Publikationsreihen ("Klassiker der Tonkunst beziehen, werden im Inhaltsverzeichnis nicht in ihren Schriften und Briefen" und "Unsterbliche wiedergegeben). Das Beispiel macht deutlich, wie Tonkunst"). In letzterer Publikationsreihe erschie‐ schwierig es ist, dieses Buch zu lesen: häufig wird nen u.a. von Karl Gustav Fellerer, Walter Abend‐ nicht an Ort und Stelle erläutert, was gemeint ist, roth, Hermann Killer, Hans Engel und Rudolph ebenso häufig fnden sich verwirrende Wiederho‐ Gerber verfaßte Komponisten-Biographien. Zur lungen, dringend notwendige Querverweise feh‐ Vorbereitung des Aufbaus der "Hohen Schule" len oder sind vage ("Die Themen einer Unterre‐ wurden "verschiedene Musikwissenschaftler für dung [...] vom 21. Mai 1940 wurden bereits vorher die Arbeit mit Gerigk freigestellt" (S. 57), nämlich behandelt." [S. 105] Der Hinweis bezieht sich auf Werner Danckert, Rudolph Gerber, Karl Gustav S. 54!) Fellerer, Erich Schenk, H. Schole und Erich Schu‐ Im Rahmen der "M-Aktion" wurden vom mann. Dieser Wissenschaftler - die meisten wirk‐ "Sonderstab Musik" enorme Mengen von Klavie‐ ten nach dem Krieg als Ordinarien und prägten ren und Kisten mit Büchern, Schallplatten und die Nachkriegsgeschichte des Faches - wollte sich Noten beschlagnahmt und nach Deutschland ver‐ Gerigk ebenfalls beim ehrgeizigen Projekt eines frachtet. Schon in einer einzelnen Transportliste großdimensionierten Musiklexikons bedienen (als vom 7. April 1943 sind 150 Flügel und Klaviere weitere Musikwissenschaftler werden in diesem verzeichnet. 1942 schätzte Herbert Gerigk, Leiter Zusammenhang Wolfgang Boetticher, Friedrich der Hauptstelle Musik im Amt Rosenberg, daß Blume und Helmuth Osthoff genannt). Bereits an monatlich (!) etwa 200 beschlagnahmte Klaviere dieser Stelle können allerdings die Thesen de in Frankreich "anfallen" würden (S. 76), im August Vries' nicht kommentarlos zusammengefaßt wer‐ 1944 vermerkt eine Aktennotiz einen Transport den, denn er vermutet, daß das Material, auf dem von 76 Kisten mit Harfen (ebd.). Zum beschlag‐ die nach dem Krieg von Friedrich Blume heraus‐ nahmten Material zählte auch die umfangreiche gegebene Enzyklopaedie "Die Musik in Geschichte Tasteninstrumentensammlung der Cembalistin und Gegenwart" basierte, jenes war, das Gerigk Wanda Landowska und der Besitz des Komponis‐ im Amt Rosenberg gesammelt hatte. Nichts be‐ ten Darius Milhaud (beide Beschlagnahmungen rechtigt zu dieser unbewiesenen Annahme, die de werden in zwei Fallstudien geschildert, zwei wei‐ Vries als Faktum mitteilt (S. 113), vieles spricht je‐ tere Fallstudien sind Wolfgang Boetticher und doch dagegen (u.a. der von Blume in Aussicht ge‐ dem Kollaborateur Guillaume de Van gewidmet). nommene Bärenreiter Verlag und die Tatsache, De Vries beschreibt ebenfalls die kriegsbedingt daß an Gerigks Projekt Fellerer und nicht Blume führend mitwirkte.) Auch vieles, das in der obigen Zusammenfassung der Ergebnisse de Vries' als 2 H-Net Reviews klare Aussage des Buches erscheint, ist im Detail mutlich ursächlich mit einem Schreiben des Chefs problematisch (wodurch dann wiederum das Dar‐ des Oberkommandos der Wehrmacht ("gez. Kei‐ stellungs- und Argumentationsgebäude des Bu‐ tel", unterschrieben von einem Adjutanten) an ches insgesamt fragwürdig wird). "den Oberbefehlshaber des Heeres [neue Zeile:] QUELLEN- UND BEURTEILUNGSKOMPETENZ den Wehrmachtbefehlshaber in den Niederlan‐ VON DE VRIES den" vom gleichen Tag zusammen, in dem Keitel mitteilt, daß Hitler Rosenbergs Vorschlag auf Be‐ De Vries kennt weder die musikhistorische schlagnahmungsaktionen in den besetzten Gebie‐ Sekundärliteratur zum noch die Primärliteratur ten entsprochen habe (Facsimile des Schreibens aus dem Dritten Reich gut genug (bzw. gar nicht). auf S. 123; vermutlich wurden mehrere Schreiben Es entsteht darum ein historisches Bild, das gele‐ an verschiedene Befehlshaber gesandt, wovon gentlich ans Groteske reicht. So etwa wenn de auch de Vries stillschweigend ausgeht, ohne dies Vries auf S. 259 behauptet, die Ausstellung "Entar‐ als Vermutung zu kennzeichnen). Dieser Brief ist tete Musik" habe die "Krönung" der Reichsmusik‐ im übrigen mitnichten, wie de Vries (S. 122) be‐ tage von 1938 dargestellt. Tatsächlich war Goeb‐ hauptet ein "Führerbefehl". Er basiert zwar auf ei‐ bels wenig erbaut über die Ausstellung und be‐ nem solchen ("der Führer hat angeordnet"), doch suchte sie demonstrativ nicht, in der Presse wur‐ ist mindestens die Datierung von Hitlers Entschei‐ de kaum darüber berichtet. Wenn auf S. 59 be‐ dung unklar, die wohl vor dem 5. Juli erfolgt sein hauptet wird, das Reichspropagandaministerium muß. Dieser "Führerbefehl" wird einerseits mit ("insbesondere seine Reichsmusikkammer") hätte "CXLIV-449 (139-PS; NS 8/167)" (Anm. S. 350 zur die Politik Herbert Gerigks "natürlich" unterstützt, Erwähnung auf S. 122) und andererseits mit "CL‐ so ist das schlichter Unfug. Das Gegenteil ist der XIV-449 (137-PS; NS 8/167)" (Anm. S. 353 zur Er‐ Fall: Bis zum Ende des Dritten Reiches führten wähnung S. 163) nachgewiesen. Was stimmt denn Propagandaministerium und Amt Rosenberg nun? Handelt es sich um Druckfehler oder um einen beständigen und hartnäckigen Kleinkrieg einander ergänzende Archivbestände? Damit um musikpolitische Maßnahmen, der nicht selten noch nicht genug: das gleiche Schreiben wird auf sogar öffentlich ausgetragen wurde. Weil de Vries S. 217 als "Aktenvermerk" Keitels bezeichnet; als diese Antagonismen aber weder kennt noch er‐ Quelle wird nun angegeben "CXLIV-449 (137-PS; kennt (denn auf S. 174/5 beschreibt er sie im kon‐ NS 8/259)". Zu allem Ueberfluß wird hier auch kreten Fall Gerigk vs. Drewes vom Propagandami‐ noch falsch zitiert, indem die Zitate in eckigen nisterium, aus dem deutlich wird, daß Goebbels Klammern nach den Ordnungsziffern "1." und "2." sich kurzfristig an einem möglicherweise erfolg‐ mit drei Pünktchen eingeleitet werden, als hätte reichen Unternehmen Rosenbergs zwar beteilig‐ de Vries hier etwas ausgelassen. Tatsächlich sind ten wollte, aber umgehend wieder ausgebootet die Ordnungsziffern bereits im Original vorhan‐ wurde) unterlaufen
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