
Stephan Stracke Der Novemberpogrom 1938 in Solingen im Spiegel der Justiz Darstellungen und Dokumente Das Projekt wurde initiiert von und Cover Layout: Wiebke Warncke Abbildung auf dem Einband: Stadtarchiv Solingen 1 Stephan Stracke Der Novemberpogrom 1938 in Solingen im Spiegel der Justiz Darstellung und Dokumente Ausgewählt und eingeleitet von Dennis Mühlsiegl und Dieter Nelles Solingen 2018 Druck: Stadt Solingen, Medien-/Druck und Post-Service Herausgeber: Stadtarchiv Solingen Redaktion: Ralf Rogge Alle Rechte vorbehalten Vorwort Die Pogrome am 9. und 10. November 1938 waren keine Reaktion des „spontanen Volks- zorns“ auf die Ermordung eines deutschen Diplomaten durch einen Juden, wie es die NS-Propa- ganda behauptete, sondern im Gegenteil ein zielgerichteter Terrorakt des Regimes. Spätestens nach dieser Nacht konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord ein Staatsziel geworden war. Die Novemberpogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete. In Solingen galt die erste Aktion der Nationalsozialisten der Synagoge in der Malteserstraße. Nach dem diese in Brand gesetzt war, wurden Wohnungen und Geschäfte der Juden in Alt-Solin- gen, Ohligs und Wald verwüstet und mit der Zerstörung des jüdischen Friedhofes an der Vereins- straße begonnen. Der kommunistisch-jüdische Kulturredakteur Max Leven wurde in seiner Woh- nung erschossen, andere Personen bedroht und misshandelt. Insgesamt wurden 32 Solinger Juden im Stadthaus inhaftiert, mindestens zehn Männer aus dieser Gruppe wurden in Konzentrationsla- gern interniert. Neben Max Leven sind noch Paul Steeg, Oskar Strauss, Gustav Joseph und der Düsseldorfer Simon Pinkus als direkte bzw. mittelbare Opfer des Novemberpogroms in Solingen zu beklagen. Der Novemberpogrom 1938 in Solingen wurde schon vor Jahren in der Stadtgeschichtsfor- schung aus der Perspektive der Opfer eindrücklich dargestellt – so von Horst Sassin und Aline Poensgen in dem verdienstvollen Sammelband der Solinger Geschichtswerkstatt e.V. (Hg.): „...daß ich die Stätte des Glückes vor meinem Tode verlassen müßte", Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Solingen. Auf den Webseiten des Stadtarchivs Solingen zu den in Solingen verlegten Stolpersteinen werden die entsprechenden biographischen Schicksale ausführlich gewürdigt. Die Darstellung von Stephan Stracke setzt nun einen neuen Akzent, der bei der Erforschung des Solinger NS-Regimes bisher zu kurz gekommen ist: Er stellt die nationalsozialistischen Täter bzw. Akteure der Pogromnacht in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses. Seine umfangreiche und detaillierte Darstellung geht weit über eine Einführung zu den fünfzig ausgewählten und im Dokumentteil präsentierten Quellen hinaus. Stracke rekonstruiert die Ereig- nisse am 9. und 10. November 1938 in Solingen, soweit sie nach dem Zweiten Weltkrieg von der Justiz zum Gegenstand von Gerichtsverfahren wurden. Aus diesen Unterlagen formt er ein bisher unbekanntes Bild der Beschuldigten und Täter. In einem akribischen Vorgehen beleuchtet Stracke das Problem der juristischen Wahrheitsfindung und widmet sich auch den aus heutiger Sicht meist verblüffend milden Urteilen der Nachkriegsprozesse. Es ist das Verdienst der Darstellung von Stephan Stracke, dieses neue Täter-Kapitel bei der Erforschung der NS-Geschichte Solingens aufgeschlagen zu haben. Die von den beiden Lehrern des Mildred-Scheel-Berufskollegs Solingen, Dennis Mühlsiegl und Die- ter Nelles, ausgewählten Dokumente zum Novemberpogrom 1938 in Solingen sollen vor allem als Materialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit dienen, sie richten sich aber auch an historisch interessierte Leserinnen und Leser. Der Blick in die zeitgenössische Berichterstattung in den Lokalzeitungen im November 1938 ist nicht zuletzt deshalb so lohnenswert, weil er zeigt, dass alle Solinger Bürgerinnen und Bürger über den Terror gegen ihre jüdischen Mitmenschen informiert sein konnten. Die Veröffentlichung umfangreicher Unterlagen aus den Nachkriegsjustizverfahren zu den So- linger Ereignissen im November 1938 - Urteile aus zwei Gerichtsverfahren, Vernehmungen der Beschuldigten, Aussagen von Zeugen sowie der Geschädigten und Opfer – bietet einen interes- santen Blick auf die Strategien der Beschuldigten, sich einer Verurteilung zu entziehen, den Schwierigkeiten der Justiz bei der Wahrheitsfindung und - besonders intensiv - der Gefühlslage der Opfer. Die vielleicht eindrücklichsten Dokumente handeln von dem Sozialdemokraten Friedrich Kaiser aus Solingen. Er war einer der wenigen Menschen, die verfolgten Juden während der Pogrom- nacht zur Seite standen. Kaiser versteckte den jüdischen Kaufmann Max Rothschild aus Wuppertal und unterstützte ihn bei seiner anschließenden Flucht nach Holland. Im Jahr 1939 floh Kaiser selbst über die Niederlande nach Luxemburg, wo er Kontakte zur Widerstandsbewegung hatte. Nach dem Krieg war Friedrich Kaiser von 1946 bis 1948 Stadtverordneter der SPD in Solingen. Für die Hilfe für Max Rothschild und sein Mitwirken am demokratischen Aufbau erhielt er am 12. Dezember 1972 das Bundesverdienstkreuz. Der Novemberpogrom von 1938 liegt jetzt 80 Jahre zurück. Nicht mehr lange, dann werden die letzten unmittelbaren Zeitzeugen nicht mehr leben. Doch allen politisch Interessierten, die das Gegenwartsgeschehen in Deutschland und Europa aufmerksam verfolgen, ist klar, dass wir weit entfernt davon sind, einen „Schlussstrich“ unter die Geschichte des Nationalsozialismus zie- hen zu können. Im Gegenteil: „Der Schoß“, mit Bertolt Brecht gesprochen, aus dem der Natio- nalsozialismus „gekrochen ist“, ist immer noch fruchtbar. Völkische Ideologen, die auf „natürli- che Ungleichheit“ der Menschen setzen und meinen, zwischen „Pass-Deutschen“ mit Migrati- onsgeschichte und genetisch „richtigen Deutschen“ unterscheiden zu können, finden wieder Anhänger. Führende Politiker einer Partei, die im Bundestag vertreten ist, verniedlichen die zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur samt Holocaust und Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zu einer Fußnote der deutschen Geschichte: Angesichts von tausend Jahren erfolgreicher deut- scher Geschichte sei die Nazi-Barbarei gleichsam ein „Vogelschiss“ der Geschichte, so tönen sie. Verharmlosen sie das Dritte Reich, weil sie von einem Vierten träumen? Es ist an uns aufgeklär- ten Bürgerinnen und Bürgern, dem entgegenzutreten. Bücher wie das vorliegende müssen unse- ren Blick schärfen und unsere Wachsamkeit erhöhen. Es ist an der Zeit! Tim-O. Kurzbach Oberbürgermeister Inhalt Stephan Stracke Darstellung Einleitung 9 Solingen – eine Hochburg der Arbeiterbewegung 11 Die NS-Bewegung in Solingen 12 Nazifizierung 13 Jüdisches Leben in Solingen in der NS-Zeit 14 Die Vorgeschichte des Novemberpogroms 17 Überfallene jüdische Wohnungen, Geschäfte und Firmen 20 (Re)konstruktionsversuch des Novemberpogroms in Solingen 24 Der Ablauf des Novemberpogroms in Solingen – ein Zwischenfazit 61 Die Rolle der Gestapo 62 Die Rolle der Schutzpolizei 63 Ein Blick aus dem Sicherheitsdienst (SD) 67 Die Todesopfer 67 Nach dem Novemberpogrom 69 Nach dem Ende des NS-Regimes 72 Die Strafverfolgung der Novemberpogrom-Täter 73 Verfahrensübersicht 76 Prozesse wegen des Novemberpogroms in Solingen 77 Artur Bolthausen 88 Ernst Baumann 90 Heinrich Krahne 96 Die Täter 103 Die Beschuldigten in den Verfahren zum Solinger Novemberpogrom 104 Erinnerung an die jüdischen NS-Opfer und den Novemberpogrom in Solingen 109 Dennis Mühlsiegl und Dieter Nelles Dokumentensammlung 117 Vorbemerkungen 119 Verzeichnis der Dokumente 185 Einleitung Der 9. November 1938 und die Folgetage des Pogroms waren für die jüdische Bevölkerung in Nazi-Deutschland ein dramatischer Wendepunkt. Zum ersten Mal wurden reichsweit koordiniert ihre Synagogen und Gebetshäuser niedergebrannt, ihre Friedhöfe geschändet, ihre Privatwohnun- gen und Geschäfte demoliert. Die Bilanz der antisemitischen Pogrome war erschreckend: Über tausend Synagogen waren abgebrannt, mindestens 8.000 jüdische Geschäfte zerstört sowie zahl- lose Wohnungen verwüstet. Über hundert Juden waren erschlagen, niedergestochen, erschossen oder zu Tode geprügelt worden.1 Nach den Pogromen wurden allein aus dem Bergischen Land über hundert jüdische Männer in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. An den Novemberpogrom in Solingen wird seit 1978 in vielfältiger Form erinnert. Im Mittel- punkt des Gedenkens stand zunächst die Zerstörung der Synagoge an der Malteserstraße und das Schicksal des ehemaligen Redakteurs der Bergischen Arbeiterstimme, Max Leven, der von führen- den Solinger Nationalsozialisten am Morgen des 10. Novembers 1938 in seiner Wohnung über- fallen und durch einen Kopfschuss getötet wurde. Darüber hinaus wurden Privatwohnungen und Geschäfte jüdischer Mitbürger von nationalsozialistischen Trupps verwüstet und die Bewohner z.T. misshandelt und bedroht. In derselben Nacht wurden auf dem jüdischen Friedhof die Kapelle be- schädigt und Gräber geschändet. In der folgenden Nacht versuchten SA-Leute vergeblich, die Friedhofs-Kapelle zu sprengen. Im zweiten Versuch gelang es den Tätern, das Gotteshaus in Brand zu stecken. Ebenfalls am Abend des 10. Novembers 1938 wurde ein Wochenendhaus eines Düs- seldorfer Bürgers angezündet und die Praxis und die Wohnräume der jüdischen Kinderärztin Erna Rüppel und ihres christlichen Ehemanns Hans Rüppel überfallen. Mit den vorliegenden Materialien möchten wir zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms die furchtbaren Ereignisse auf
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