MUZIKOLOŠKI ZBORNIK - MUSICOLOGICAL ANNUAL XVI, LJUBLJANA 1980 UDK 784.5 Mahler BEMERKUNGEN ZU GUSTAV MAHLERS KINDERTOTENLIEDERN - DARGESTELLT AM BEISPIEL DES ZWEITEN Volker . K a l i s c h (Adliswil) Angesichts der zahlreichen Mahlerliteratur scheint es eher f.rag­ wilrdig, d~eser einen weiteren Aufsatz hinzuzufiigen. Glaubt man doch, alle Problemfelder Mahlerschen Schaffens erfaBt zu haben und durch weitere Veroffentlichungen schon Gesagtes lediglich zu wiederholgen oder rsich in Banalitaten zu ergehen. Allein ein Blick in die veroffen­ tlichte Mahler-Literatur (1siehe das umfassende Verzeichnis der Von­ denhoffs) liiBt den Interess;ierten dariiber erstaunen, wie widerspriich­ lich und teilweise unvollstandig die Aneignung des Mahlerschen Ouevres in dessen Rezeptionsgeschichte vonstatten g1egangen ist. Die Kindertotenlieder sind ein solches Beispiel.1 Merkwilrdig um so mehr, aLs es geniigend Autoren gibt, die sich darum bemiihen, die Bedeutung der Kinderto:tenlieder zwar zu unterstreichen,2 aber den Beweis dafiir 1schuldig bleiben. Hinzu kommt, daB der Zeitgeschmack eher unvexstiindig auf Mahlers Wahl der Rilckertschen Lyrik reagiert, zumal Mahler als auBerordentlich literaturbelesen eingeschiitzt wird, Rilckert aber sicherlich heute nicht unter den »ganz GmBen« rangiert.3 Der VerweiJs auf »groBte Kiontrolle durch den kompositorischen Ver­ stand«4 vermag den angedeuteten Verdacht, Mahler wollte sich viel­ leicht in dem bedeutungsvollen Jahr 1901 (schwere Krankheit, Urauf­ fiihrung von »Da:s klagende Lied« und der »Vierten Symphonie«, Rilcktritt von der Leitung der Philharmonischen Abonnementskonzer­ te, Begegnung mit Alma Schindler, Beginn der Komposition der »Fiinf Rilckert-Lieder«, »Filnften Symphonie« und »Kindertotenlieder«; ge- * An dieser Stelle mochte ich Herrn Prof. Dr. U. Siegele, Herrn Prof. Dr. W. Dilrr, Herrn J. Beurle (alle Tilbingen), sowie Herrn R. Hopkins filr Ihre 'konstruktive Kri'tik und freundlichen Anregungen zum Aufsatz danken. 1 Siehe Vondenhoff, S. 432/33. 2 Vergleiche hierzu Redlich B., Spalte 1496, Ba·rford, S. 18 u. a. 3 Siehe Adorno C., S. 127. 4 Siehe Klemm A., S. VI. 31 nauen Daten siehe Schreiber S. 166) lieber lyrischen Gefiihlswallungen hingeben, kaum zu relativieren. Selbst die auBeren Daten der Entstehung der Kindertotenlieder sind in der Mahler-Literatur umstritten: s:icher ist, daB Mahler Ge­ dichte Riickerts zehnmal in zwei Zyklen vertont hat und dies iiber einen Iangeren Zeitraum hinweg. Die Entstehungszeit 1901 bis 1904 mutet allerdings eher wie eine Konvention unter Mahlerforschern an und bedarf immernoch einer schlagenden philologischen Klarung.4a Nur die Anekdotensammler und unverbesserlichen Mahlerverklarer wiss:en die »wahre« Bedeutung der Lieder einzuschatzen, indem sie sich auf die beriihmte »Schicksals-Vorwegnahme-Stelle« in Alma Mahlers Memoiren5 berufen und somit ihren Teil zur Mystifizierung beitragen. Am 29. Januar 1905 fand in einem Konzert des Vereins schaffen­ der Tonkiinstler in Wien die Urauffiihrung unter anderem der Kin­ dertotenlieder mit Friedrich Widemann, Bariton, statt. Eine der we­ nigen Auffiihrungen, in denen der K!omponist nacht den Quellen zu schlieBen von dem Publikum und Kollegen akzeptiert und gefeiert wurde.6 I. Friedrich Riickerts »Kindertotenlieder« l. Die literarische Quelle Wer versucht, die literarische Quelle fiir Mahlers Kindertoten­ lieder ausfindig zu machen, 'stoBt zunachst auf den widrigen Umstand, daB die unter dem schlichten Titel »Kindertotenlieder« erschienene Gedichtsammlung nicht in der Gesamtausgabe der Werke Friedrich Riickerts aufgenommen ist, sondern nachtraglich und separat 1872 als einzelnes Biindchen verčiffentlicht wurde. Fragt man nach der Ent­ stehungsgeschichte der »Lieder«, 1so st6Bt man auf die traurigen Ereig­ nisse von 1833/34 in Riickerts Familienleben. Am 31. 12. 1833 :starb namlich zunachst die 3-jahrige Tochter Luise, wenige Tage spater von ihrem etwas alteren Bruder Ernst (4 Jahre) gefolgt, offenbar an Scharlach.7 Entgegen der im Vorwort der Ausgabe publizierten Ansicht, daB die Gedichte »vom Ende des Jahres 1833 bi's in den Anfang des Sommers - Mai und Juni - 1834 wahrend der Ereignisse, die sie erzeugten, ents:tanden« und nieder­ geschrieben wurden, weist die neuere Riickertforschung plausibel nach, daB als wahrscheinlicher Entstehungszeitra.um fiir die Gedichte eine weitaus Iangere Zeitspanne anzunehmen ist.8 4a Vill, S. 108. 5 Siehe A. Mahler, S. 70. 6 Vergleiche A. Mahler, S. 81 und Blaukopf, S. 236. 7 Siehe Vorwort, S. IV, abweichende Angabe bei Prang, S. 153. 8 Prang, S. 153. 32 2. Der Lied-Text Van den insgesamt 428 veroffentlichten Gedichten wahlte Mahler bekanntlich fiinf aus: es handelt sich dabei um die Nummern 47, 56, 69, 83, 115 der Erstausgabe, die er in der Reihenfolge 115 = 1, 69 = 2, 56 = 3, 47 = 4, 85 = 5 komponierte. Beim Vergleich der originalen mit den komponierten Texten Mah­ lers fallen folgende Veranderung auf (Lesart entspricht der eines kri­ tis:chen Berichts, ausgegangen wird vam vertonten Text): I. Nun will die Sonn' .so hell aufgehn! l. Vers, 4. Wort: »Sonne« statt »Sonn'« 3. Vers, 5. Wort: »auch« statt »nur« 5. Vers, Umstellung: »Du muflt die Nacht nicht ... « statt »Du muBt nicht die Nacht ... « 6. Vers, 4. Wort: »ewige« statt »ew'ge« 7. Vers, l. Wort: »Lampchen« statt »Lamplein« 8. Vers, 4. Wort: »Freudenlichte« statt »Freudenlicht« II. Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen l. Strophe, 3. Vers: nach 4. Wort »voll« hinzugefiigt 3. Strophe, 2. Vers: 5. Wort »immer« fiillt weg 4. Strophe, l. Vers: »Sieh recht uns an!« abgewandert in 4. Strophe, 2. Vers: »Sieh uns nur an,« »noch« statt »nur«. III. Wenn dein Miitterlein' Die Neuordnung des Textes besteht darin, daB das 2. Lied l. Stm­ phe vorangestellt wird, gefolgt vam l. Lied l. Strophe, wobei l. Strophe, l. + 2. Vers gegen den Anfang des 2. Lieds l. Strophe aus;getauscht wird. Die 2. Strophe des l. Lieds fant ganz weg, an dessen Stelle steht die Schluflstrophe des 2. Lieds mit kleinen Abanderungen: 4. Strophe, l. Vers: »O du, der Vaterzelle« heiBt jetzt »O du, des Vaters Zelle« 4. Strophe, 2. Vers: zum Anfang der Vevszeile wird noch ein zusatzliches »ach« eingeschoben. IV. Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen! 2. Strophe, 2. Vers: 5. Wort: »Haus« .statt »Hause« 2. St11ophe, 4. Vers: nach 2. Wort »nur« eingefiigt 3. Strophe, 2. Vers: 4. Wort: »hier« statt »wieder« 3. Strophe, 4. Vers: nach 6. Wort zusatzlich »auf jenen Hohn!« V. in diesem Wetter l. Strophe, 3. Vers: 4. + 5. Wort vertauscht l. Strophe, 4. Ve11s: 3. + 4. Wort vertauscht 33 Nach der 3. Strnphe folgt nochmals die l. Strophe, dabei steht in dem l. Vers, 6. Wort: »Braus« statt »Graus« 4. Strophe, l. Vers nach 3. Wiort zusatzlich »in diesem Saus« eingefiigt Nach 4. Vers wird nochmals der 2. Vers wiederholt. Da sich nicht nachweisen liiBt, daB Mahler eine andere Ausgabe der Kindertotenlieder vorliegen hatte, sind die Textveranderungen, wenn auch im geringen Umfang,9 wohl von seiner eigenen Hand. Diese Feststellung i:st insofern wichtig, da sie als Indiz fiir die These gewertet werden kann, Mahler behandle seine zu vertonenden Lied­ texte gleich wie zu komponierendes Material.10 3. Textanalyse des zweiten Kindertotenliedes. Der auBeren Form nach handelt es sich um ein Sonett11 mit dem Schema (Daten in der Reihenfolge: Endreim, S!i.lbenzahl, Vers­ rhythmus): a (11) e e e e ee e ee ee b (11) e ee e e ee eeee b (12) e ee ee e e e ee ee a (11) e ee ee ee e eee a (11) e e e e e ee e eee b (11) eee e eeee eee b (11) e e e e ee e ee ee a (11) ee e ee ee ee ee c (11) e ee e e ee ee ee d (9) e ee e e ee ee C (11) e e e e e ee eeee d (11) e e e e e e e e ee c (11) e e e ee e e ee ee d (11) e ee ee e e e e ee Interessanterweise ergeben sich die UnregelmaBigkeiten des an­ sonsten schematisch gebauten Sonetts lediglich durch Mahlers Tex:t­ anderungen und keinesfalLs in der originalen Version. So stoBen jetzt in der l. Strophe 3. Vers die 1 + 2. (O Augen!«) betonte und die 5. + 6. (»Gleichsam um«) unbetonte Silbe zusammen und erweitern das Vers­ maB zum 12-Silben, wahrend in der 3. Strophe 2. Vers der formale Bau durch das Hinweglassen zweier Silben (»immer«) ges:tort wird. 9 Vergleiche hierzu Pamer A !, S. 127. 10 Siehe Borris, S. 579 und Hansen, S. 27; hierzu auch Blaukopf, S. 125. 11 Siehe Ger1ach, S. 33. 34 Betrachtet man die Sprachform des Gedichts, fiillt auf, daB es, obgleich in der Ichform gehalten, erziihlt, berichtet. Dieser Sachver­ halt bleibt in der Mahler-Literatur nicht unerwiihnt12 und wird a1s »epische Lyrik«13 oder »holzschnittartiger Liedtypus«14 benannt. Da:s Neuartige besteht nach Schreibers priizis:eren Formulierung im Vergleich zum friiheren Liedschaffen Mahlers nun darin, daB »die Lieder Riickerts nicht das Individuelle in's Allgemein-Menschliche verallgemeinern, wie die Wunderhorn-Texte, sondern durch die The­ matik von Schmerz und Ungliick ,das Ich-mii.Bige des Fiihlens', den Gegensatz zvischen dem ,einzelnen Erlebenden' und dem ,Weltlauf' betonen «. 15 4. Die Entscheidung Mahlers filr Riickert. Dieser Punkt filhrt mitten in die verwirrenden Deutungen und verwegenen Spekulationen iiber Mahlers Entscheid, die Gedichte Riickerts zu vertonen. Zuniichst jedoch soll die Pame1:1sche These in Frage gestellt werden, daB Mahler quasi als Einziger um die J ahr­ hundertwende die Lyrik Rilckerts filr seine Liedvertonungen wiihlte.16 Eine 1907 von Challier veroffentlichte Studie, die sicher ihre be­ rechtigten Bedenken auslOst, da sie keine priizisen Angaben iiber d~e vorgefundenen statisttschen Bedingungen und Methoden macht, kann Pamers Behauptung entgegengehalten
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