Stationen eines Lebens 25.11.1906 | Geboren in Wien 1921 | Mitglied der Sozialdemokratischen Mittelschüler 1924 | Matura in Wien 3, Radetzkystraße 1924–1930 | Studium an der TH Wien (Dipl.-Ing. im April 1930); Mitglied des Verbandes Sozialistischer Studenten; Mitarbeiter der Sozialdemokratischen Partei/Bezirksorganisation Wien-Landstraße; Mitglied der Akademischen Legion 1930–1932 | Obmann der Ingenieurgruppe im Bund der Industrieangestellten; Volontariat; Arbeitslosigkeit 1932–1937 | Arbeit bei Kraftwerksbauten in der Sowjetunion 1937–1945 | Angestellter bei Siemens-Schuckert und Schoeller-Bleckmann 1945 | Unterstaatssekretär im Staatsamt für Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr 1945–1946 | Staatssekretär im Ministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung 1945–1971 | Abgeordneter zum Nationalrat 1945–1974 | Mitglied des Parteivorstandes der SPÖ 1946 | Politischer Vertreter Österreichs in Moskau 1946–1956 | Zentralsekretär der SPÖ 1949–1962 | Bundesminister für Verkehr und verstaatlichte Betriebe; ab 1956 für Verkehr und Elektrizitätswirtschaft 1951–1972 | Präsident des BSA 1956–1967 | Mitglied der Parteiexekutive der SPÖ 1962–1970 | Zweiter Präsident des Nationalrats; Stellvertretender Klubobmann der sozialistischen Parlamentsfraktion 1965–1974 | Stellvertretender Parteivorsitzender der SPÖ 1966–1973 | Mitglied des Vorstands der SPÖ Wien 1970–1971 | Präsident des Nationalrats 1972–1980 | Vizepräsident der Oesterreichischen Nationalbank 5.6.1980 | Gestorben in Wien 13 Manfred Zollinger Vorbemerkung Leben lassen sich nur unzureichend beschreiben. Tun es Zeitgenossen, droht die Verzer- rung aus der Perspektive der Nähe, auch wenn sie „Authentizität“ verheißt. Setzen sich Nachgeborene ans Werk, kann die distanzierte Beobachtung des Faktischen und Ob- jektivierbaren leicht in moralisierende Richterschaft umschlagen. Sind andere Interessen im Spiel, bietet sich die hagiografische Glorifizierung an, wächst das Risiko, sich in den Höhen der Heroisierung zu verlieren oder sich lächerlich zu machen. Vollends proble- matisch ist schließlich das Unterfangen, ein ungebrochenes Individuum zu konstruieren und es am erzählerischen Faden entlangzuführen. Spätestens seit Robert Musil wissen wir, dass nicht nur der Einwohner Kakaniens, sondern jeder Mensch mindestens neun Charaktere hat, die er in sich vereinigt, die ihn aber auflösen; und auch der zehnte Cha- rakter ist nichts als „ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt“ (Der Mann ohne Ei- genschaften, 1. Buch, 8. Kapitel). Zu Recht warnt Pierre Bourdieu vor der „biografischen Illusion“, die darin besteht, „ein Leben“ nur als eine mit logischer Konsequenz und Telos ablaufende Folge kohärenter Ereignisse zu sehen, die als einzigen Bezugspunkt das „Sub- jekt“ habe, anstatt als Wege zwischen verschiedenen Feldern des sozialen Raums im En- semble der gegebenen objektiven Beziehungen und in ständiger Konfrontation mit dem Möglichen, in dessen Räumen der soziale Akteur intervenieren kann, je nachdem, wie er sein erworbenes soziales und kulturelles Kapital einsetzen kann.1 Ist also Biografie möglich, fragte schon Wilhelm Dilthey und antwortete: „Nur annä- hernd.“ Biografische Annäherungen können demnach nur versuchen, den Beziehungen zwischen Menschen und den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen nach- zugehen, „den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert“. Das Individuum ist also „Durch- gangspunkt“ oder „Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist“.2 Nichts anderes bezeichnet der Begriff Schnittstellen3, der hier nicht gewählt wurde, um eine „klassische“ Biografie vorzulegen, sondern um über das Wirken Karl Waldbrunners einen Zugang zu Stationen und markanten Entwicklungs- verläufen, Brüchen und Kontinuitäten der österreichischen Geschichte zu versuchen, in denen er – als Ingenieur – geformt wurde und denen er – als Politiker – Richtung und Gehalt verlieh. Dass zu diesen „Als“ noch ein sozialdemokratisches, eines der Herkunft und Sozialisation hinzutritt und alle miteinander verwoben sind, liegt diesem Versuch zugrunde. 1 Pierre Bourdieu, L’illusion biographique, in: Actes RSS 62/63 (1986) 69–72. 2 Wilhelm Dilthey, Die Biographie, in: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen- schaften, Frankfurt a. M. 1981, 303–310, 304 und 310. 3 Für eine biographische Zugangsweise findet er sich auch in Barbara Serloth, Kampf wider die „Normali- sierung“, in: Franz Richard Reiter (Hrsg.), Wer war Rosa Jochmann? (Dokumente, Berichte, Analysen 9), Wien 1997, 149–164, 149. 17 Manfred Zollinger Dem Dank der Herausgeber an Personen und Institutionen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben, füge ich gerne den an Karl Bachinger hinzu. Seine freund- schaftliche Bereitschaft zur aufmerksamen Lektüre und zu kritischen Kommentaren brachte wertvolle Anregungen und half zahlreiche Irrtümer und Fehler zu vermeiden. Wenn solche dennoch vorhanden sind, habe ich sie alleine zu verantworten. 18 Der Ingenieur Arbeiterkind und sozialistischer Student „In Wien am 25. November 1906 als Sohn eines Metallformers geboren, der selber ein Wiener Kind war, bin ich unter der fast ausschließlichen Obhut meiner Mut- ter, die aus einer niederösterreichischen Bauernfamilie stammte, herangewachsen, denn mein Vater hat zeit seines Lebens für das Wohl seiner Arbeitskollegen in der sozialdemokratischen Partei und in der Metallarbeitergewerkschaft mit der größten Opferbereitschaft gewirkt.“1 Vor dem Ersten Weltkrieg als Proletarierkind geboren zu sein, verhieß eine nur ge- ringe Chance, jemals etwas anderes als ein Leben in Lohnabhängigkeit kennenzu- lernen oder gar die Aussicht auf eine weiterführende Bildung zu haben. Es war aber gerade die organisierte Arbeiterschaft, die in jenen Jahren für die Überwindung der aus Herkunft und ökonomischer Lage resultierenden sozialen und politischen Schranken besonders stark kämpfte. Der industrielle Aufstieg, der Österreich vor dem Ersten Weltkrieg allmählich an das Wohlstandsniveau westeuropäischer Län- der heranführte, sollte sich auch in einer Verbesserung der Lebensverhältnisse und vermehrter Mitsprache derer niederschlagen, die ihn durch ihre Arbeit ermöglich- ten. Das Eintreten für das Wohl aller Arbeitenden erforderte oft jene Opferbereit- schaft, die Karl Waldbrunner seinem Vater attestierte und die er wohl als Maßstab für sein eigenes Handeln ansetzte. Karl Waldbrunner wuchs in einer Welt heran, die urban-industriell, materiell be- scheiden und in seiner nächsten Umgebung sozialdemokratisch war. Wie aus den eingangs zitierten Worten hervorgeht, maß er der organisierten Arbeiterschaft, der institutionellen Verankerung dieses Wirkens, bei der Erreichung der gesetzten Ziele offenbar ein besonderes Gewicht bei. Die Gewerkschaften, die organisatorische Kraft der Partei, vertraten dabei schon vor dem Ersten Weltkrieg Positionen, de- ren Umsetzung zu einem Merkmal sozialdemokratischer Politik nach 1945 wer- den sollte. In ihrem Eintreten für den industriell-technischen Fortschritt und die Ausweitung des Massenkonsums als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fort- schritt setzten sie auf einen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit und wiesen dabei ein stark mechanistisches Verständnis von Modernisierung auf, demzufolge Kapitalismus und Technik sich streng gesetzmäßig und logisch entwickelten.2 Die- se gewerkschaftliche Grundhaltung blieb in der sozialistisch geprägten Sozialisa- 1 Wiener Zeitung, 15.11.1945, 4. – Alle Quellenzitate wurden der derzeit gültigen Rechtschreibung angepasst. 2 Meißl Gerhard, Klassenkampf oder Harmonieduselei? Auf dem österreichischen Weg zur Massengewerk- schaft (1890 bis 1914), in: Erich Fröschl/Maria Mesner/Helge Zoitl (Hrsg.), Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich, Wien 1990, 95–103, 100. 19 Manfred Zollinger tion Karl Waldbrunners nicht ohne Einfluss. Dies umso mehr, als auch der große Gewerkschafter Karl Maisel in seinem Leben eine wichtige Rolle spielte. Der Me- tallarbeiter und spätere Bundesminister für soziale Verwaltung und Präsident der Arbeiterkammer kannte die Familie und stand nicht nur mit Waldbrunners Vater in enger freundschaftlicher Verbindung – besonders nachdem dieser nach 1918 so- zialdemokratischer Vertrauensmann bei Siemens & Halske und Bezirksvertrauens- mann der Metallarbeitergewerkschaft geworden war3 –, er wurde auch dem Sohn ein enger Freund. Mit Maisel verband Waldbrunner das Andenken an seinen Vater und die Nähe zur Gewerkschaft wurde Waldbrunner zu einem Stützpunkt seiner späteren politischen Tätigkeit: „Die Gewerkschaft der Metall- und Bergarbeiter ist für mich immer eine Art Elternhaus gewesen. Schon als Junge habe ich für meinen Vater in seinen Funktionen innerhalb dieser Gewerkschaft Hilfs- und Botendienste geleistet. Dort habe ich auch die Freunde kennengelernt, mit denen ich in schlech- ten und in guten Zeiten aufs Engste verbunden blieb und zusammenarbeitete.“4 Als die „Tragödie der Erschöpfung“5, das Ende des ersten „totalen Krieges“6, sich ab- zuzeichnen begann, Hungerkrawalle, Streiks und soziale Protestbewegungen Wien und andere Teile der noch bestehenden Monarchie erfassten, ermöglichte ihm der Vater einen ersten Schritt aus den gewöhnlichen Bahnen eines Arbeiterkindes hin- aus: 1917 trat Karl Waldbrunner in die Realschule ein. Für die Familie bedeutete das in den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren zusätzliche Entbehrungen. Doch die materielle
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