SAMMLUNG GÖSCHEN BAN D 571 Geschichte der Philosophie VIII Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts I Von Gerhard Lehmann Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlags- budihandlung • Georg Reimer > Karl J. Trübner > Veit & Comp. Berlin 1953 Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photo- kopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten Copyright 1953 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Ver- lagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin W 35, Genthiner Str. 13 Archiv-Nr. 110 571 Druck von $ Saladruck, Berlin N 65, Friedr.-Krause-Ufer 24 Printed in Germany Inhaltsübersicht Einleitung 4 Literatur 15 Erster Teil: Die deutsche Philosophie im ersten Drittel des 19 Jahrhunderts 17 I. Die philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen . 17 Literatur 22 "II. Grundsatzphilosophie und Wissenschaftslehre . 22 Karl Leonhard Reinhold 25 Gottlob Ernst Schulze 29 Salomon Maimon 29 Johann Gottlieb Fichte (I) 34 Literatur 45 III. Romantische Philosophie 46 Friedrich Schlegel 50 Daniel Friedrich Schleiermacher (I) 52 Friedrich Leopold von Hardenberg 58 Karl Wilhelm Ferdinand Solger 62 Karl Christian Friedrich Krause 67 Literatur 72 VI. Der absolute Idealismus 74 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ...... 77 Daniel Friedrich Schleiermacher (II) 88 Johann Gottlieb Fichte (II) 90 Georg Friedrich Wilhelm Hegel 94 Literatur 117 V. Die Gegner 119 Jakob Friedrich Fries 125 Johann Friedrich Herbart 131 Arthur Schopenhauer . 138 Literatur 145 Zeittafel I: Fichtes Wissenschaftslehren 147 Zeittafel II 148 Namenverzeichnis 150 EINLEITUNG Die Philosophie des 19. Jahrhunderts läßt sich, nid« als ein Neben- oder Nacheinander zufällig im gleichen Zeitraum entstandener Lehrmeinungen darstellen. AI; Einheit, d. h. eigener Sinn- und Wirkenszusammenhang, läßt sie sich nur geschichtlich darstellen. Wozu spräche man auch sonst von Philosophiegeschichte? Nur ist die Bedeutung dieses Begriffs im 19. Jahrhundert eine andere als in früheren Jahrhunderten. Erst seit Herder und der deutschen historischen Schule gibt es „Geschichte" (Histo- rie) in unserem Sinne, und erst seit Hegel „Philosophie- geschichte". Das 19. Jahrhundert entdeckt geschichtliche Maßstäbe, die früheren Zeiten unbekannt waren; das geschichtliche Bewußtsein vertieft sich, es dringt in alle Sadi- und Lebensgebiete ein. Sie alle werden historisiert und relativiert. Beides nun: die Entwicklung des historischen Denkens und die da- durch bewirkte Relativierung des Erkennens — jenen steten Bezug des Denkens auf seine „Geschichtlichkeit", der Endgültigkeit und Überzeitlichkeit philosophischer „Wahrheit" in Frage stellt — bezeichnet man" als Historismus des 19. Jahrhunderts. Und Historis- musproblem ist dann das Problem, ob und wie es mög- lich ist, diese Gebundenheit zu „überwinden". Doch ist das Problem des Historismus nur ein Teil- problem. Sind doch, wie die Geschichte, so auch die anderen Wissenschaften: Mathematik und Naturwissenschaften vor allen, aber auch Sprach- und Religionswissenschaft, Psychologie und Sozialwissenschaft, im 19. Jahrhundert zu ungeahnter Höhe emporgestiegen. Und wie sich das neue Verhältnis der Geschichte zur Philosophie nicht nur darin ausspricht, daß neues Material neue Bearbeitung Einleitung 5 erfordert, sondern auch darin, daß das philosophische £>enken von geschichtlichen Kategorien bestimmt wird, so kann sich die Philosophie des 19. Jahrhunderts auch zu den anderen Wissenschaften nicht bloß teilnehmend verhalten: sie wird von ihnen umgeformt; die philoso- phische Begriffsbildung verbindet sich mit der einzel- wissenschaftlichen und löst sich in ihr auf. Damit aber ist die Überlegenheit der Philosophie über die (weltlichen) Wissenschaften, wie sie seit alten Zeiten bestand, erschüttert. Wenn alle Erkenntnisgegenstände zu „Objekten" von Fachwissenschaften geworden sind, bleibt für die Philosophie kein Raum. Und auch die Metaphysik muß verdorren, wenn die Philosophie kei- nen eigenen Zugang zur Wirklichkeit besitzt. Bezeichnen wir den Verzicht auf jede „Deutung" der Welt, die über die einzelwissenschaftliche Erkenntnis hinausgeht, als Positivismus, und den Zustand einer selbst zur Einzelwissenschaft gewordenen bzw. nach den Methoden und Ergebnissen der Einzelwissen- schaften allein sich richtenden Philosophie als S z i e n - tismus, so ist klar, daß dies nicht besondere „Strö- mungen" im Denken des 19. Jahrhunderts sind, sondern unvermeidliche Begleiterscheinungen der Auseinander- setzung zwischen Philosophie und Wissenschaft. Die Philosophie wird positivistisch, wenn der Szientismus in ihr Fuß faßt. Der Positivismus der Philosophie aber hat zur Folge, daß die Einzelwissenschaften „letzte" Fragen des Erkennens und der Weltanschauung von sich aus zu lösen versuchen. • Das geschah im „Zeitalter der Fachwissenschaften" fortwährend, und geschieht auch heute noch. Im 19. Jahrhundert gibt es — und das ist ein wesentlicher Unterschied zu früheren Jahrhunderten — neben der Schulphilosophie eine „Philosophie" der Einzelwissen- schaften. Man denkt dabei zumeist an dilettantische Versuche (Büchner, Häckel, Ostwald u. a.). Es ist aber in dem sehr viel ernsteren Sinne zu nehmen, daß große und weltverändernde Begriffe, Lehren, die unstreitig 6 Einleitung philosophischen Ursprungs und von philosophischer Tragweite sind, gar nicht mehr auf den Traditions- bestand „Philosophie" bezogen und sogar heute noch in Philosophiegeschichten weggelassen werden1). Daraus ergibt sich, daß die Schulphilosophie des 19. Jahrhunderts den Anspruch, Repräsentant des „Kul- turbewußtseins" zu sein, verliert. Wenn sich das un- gleich spannungsärmere 18. Jahrhundert mit Stolz als „philosophisches Jahrhundert" bezeichnet, so ist im 19. Jahrhundert dieser Stolz vergangen. Die Philosophie ist nicht mehr Lebensform; philosophierend zu „existie- ren" wird ein Anachronismus. Die Lebensideale der Klassik werden zu „Bildungsidealen", entleert durch die um sich greifende realistische Bildungsbewegung. Die schnelle Industrialisierung, Bevölkerungszunahme und Vermassung, die immer schärfer werdenden Gegensätze zwischen den Parteien und Klassen, die revolutionären Erschütterungen und Wirtschaftskrisen, — alle diese aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts wohlbekannten Er- scheinungen greifen zusammen, um die für die Stellung der Philosophie im Geistesleben gefährlichste Lage her- beizuführen: ihre Verdrängung durch eine Fülle mit- einander konkurrierender, geistiger Legitimierung über- haupt unbedürftiger Ideologien. Wir verstehen unter der Ideologisierung des Denkens im 19. Jahrhundert, die mit der Autonomie der Einzel- wissenschaften und der Strukturveränderung der Philo- sophie aufs engste zusammenhängt, nicht die faktische Abhängigkeit des Denkens von „Interessen" irgend- welcher Gruppen, Klassen, Schichten oder Machtträger, und nicht das Wissen darum, sondern die Anerkennung Die Verselbständigung der Einzel wissen schaf ten ist schon im 18. Jahrhundert vorbereitet und durch das Übergewicht des spekulativen Denkens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nur aufgehalten. Audi eine „Philosophie" der Einzelwissenschaften im Gegensatz zur »Schul- philosophie" kennt bereits das 18. Jahrhundert (Newtonismus — Wolf- lianismus). Man kann dies natürlich nodt weiter zurüdtverfolgeil bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft in der Scholastik (Nominalismus der Pariser Artistenfakultät gegenüber dem Aristotelismus der Sdiule). Dodi ist die Lage im 19. Jahrhundert trotzdem eine wesentlidi andere. Einleitung 7 dieser determinierenden Faktoren als letzter G e 1 - t u n g s grundlage. Ideologisch sind Aussagen, die zwar auf rationale Form gebracht, begründet und ver- allgemeinert werden, aber nur zum Schein, bzw. nur im Hinblick auf die dadurch im Kampf um die Macht, Herrschaftssicherung usw. zu erlangenden Vorteile. Ideologien bilden sich im Denken, wenn es sich durch seine „Gebundenheit" zugleich bedingt und legiti- miert weiß. Nichtideologisch sind Aussagen, in denen der Einfluß von „Interessen", die Abhängigkeit von Machtfaktoren usw. als Einschränkung bzw. Aufhebung der Geltung zum Ausdruck kommt. Da keine Wissenschaft ideologische Aussagen (im angegebenen Sinne) enthält, kann die Autonomie der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert nicht unmittel- bar zur Ideologisierung führen. Wohl aber mittelbar. Die Wissenschafft erkennt keine „höhere" Instanz an, weiß aber auch, daß sie Werturteile nicht fällen kann („Wertfreiheit der Wissenschaft"). Für den einzel- wissenschaftlichen Positivismus, bzw. Szientismus in der Philosophie, gibt es keine übergreifenden Deutungen, die vielmehr „subjektiv" sind und das Gegebene „verfäl- schen". Wo also im individuellen und sozialen Leben ideelle Aspekte auftreten, sind sie nach Herkunft, Lage und Häufigkeit zu beschreiben, und in solcher Form — aber n u r in solcher — als „Realitäten" hinzunehmen. Da sich ideelle Aspekte ihrem Sinne nach wissen- schaftlich nicht rechtfertigen oder widerlegen, sondern nur nach ihrer tatsächlichen Beschaffenheit beschreiben und auf ihre realen Voraussetzungen und Bedingungen zurückführen lassen, leistet das wissenschaftliche Denken der Ideologisierung Vorschub. Es suggeriert die Vor- stellung, daß „Sinnaussagen", die auf alle Fälle unbe- weisbar sind, ihre Legitimation durch die reale Lage der an ihnen Interessierten erhalten. Der Tatsachenkult und „Realismus" des 19. Jahrhunderts, die Relativierung aller „Maßstäbe", die Entwertung der Philosophie sind die Quellen der Ideologisierung. 8 Einleitung Diese Betrachtung wäre
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