Verfahrensweisen historischer Wissenschaftsforschung Exemplarische Studien zu Philosophie, Literaturwissenschaft und Narratologie Dissertation zur Erlangung des Grades des Doktors der Philosophie beim Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft der Universität Hamburg vorgelegt von Wilhelm Schernus Stragna Hamburg 2005 Als Dissertation angenommen vom Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwis- senschaft der Universität Hamburg aufgrund der Gutachten von Prof. Dr. Jörg Schönert und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt Hamburg, den 8.12.2004 Inhalt Einleitung …………………………………………………………………………… 5 Die Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie: Programm, Vorträge, Materialien ……………………………………………..……15 Alexander Herzberg: Psychologie, Medizin und wissenschaftliche Philosophie …………………………………………………….105 Der Streit um den Wissenschaftsbegriff während des Nationalsozialismus …………………………………………………123 Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR: Internationalität von Wissenschaft unter den Bedingungen des sozialistischen Systems ……………………….………………. 235 Zum Verhältnis zwischen Romantheorie, Erzähltheorie und Narratologie …………………………………………………………….…… 299 Von Typenkreisen, Kreuztabellen und Stammbäumen. Zur Entwicklung und Modifikation der Erzähltheorie Franz K. Stanzels im Bezug auf ihre visuellen Repräsentationen ……..………… 325 Abschließende Bemerkungen: Von der Wissenschaftsphilosophie zur Literaturwissenschaft …………………………..…351 Einleitung Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bilden durch ihr Verhalten, ihre Handlun- gen und Beziehungen untereinander ein Teilsystem der Gesellschaft, das zuständig ist für die Hervorbringung, Verwaltung und Weitergabe von Wissensansprüchen. Systemtheoretisch lassen sich die Aktivitäten einzelner Wissenschaftlerpersönlich- keiten und Forschergruppen nach 'Forschungshandlungen', die dem "direkten Ziel der Wissenserzeugung" dienen, und 'Wissenschaftshandlungen', die das "Umfeld für Forschungshandlungen absichern und günstig gestalten", unterscheiden.1 Über den Bereich der Wissenschaftshandlungen steht das Teilsystem 'Wissenschaft' mit ande- ren Teilsystemen der Gesellschaft in einem wechselseitigen Austausch.2 Dabei nimmt das 'wissenschaftliche Wissen' als "bestgesichertstes Wissen einer Zeit"3 ge- genüber allen anderen Wissensformen eine privilegierte Sonderstellung ein. Mit dem Beginn der industriellen Revolution vollzog sich – zunächst weitgehend nur vom Produktionsprozeß gesteuert – eine zunehmende Verwissenschaftlichung immer wei- terer gesellschaftlicher Sphären, die immer mehr Gesellschaftsmitglieder unmittelbar oder mittelbar in der Gestaltung ihrer Lebensplanung betraf. Seitdem hat sich der soziale Stellenwert der Wissenschaft dramatisch verändert. Längst wirkt Wissen- schaft nicht mehr nur über Technik oder Technologie auf den Menschen ein, sie hat unsere gesamte Lebenswelt in einer bislang nicht dagewesenen Weise durchdrungen: "Nahezu alle Handlungsbereiche – Wirtschaft, Politik, Recht, aber auch Familie, Gesundheit, Arbeit und selbst Freizeit – sind mehr oder weniger stark 'wissensbasiert' in dem Sinn, dass systematisches, wissenschaftliches Wissen unsere Wahrnehmun- gen, Reflexionen und Handlungen bestimmt."4 Neuere Veröffentlichungen sehen zudem Indizien sich dafür häufen, daß dieser Transformationsprozeß nicht mehr nur in einer Richtung verläuft, von der Wissenschaft zur Gesellschaft, sondern daß der transformierende Effekt sich auch in umgekehrter Richtung vollzieht, von der Ge- sellschaft zur Wissenschaft. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft 1 Vgl. Wolfgang Balzer: Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsätze der Wissenschaftstheo- rie. Freiburg, München 1997, S. 27ff. 2 Zu Überlegungen eines "qualitativen Wandel[s] im Verhältnis von Wissenschaft und Gesell- schaft" vgl. Clemens Burrichter: Wissenschaftsgeschichte oder historische Wissenschaftsfor- schung? In: Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie. Symposi- um der Leibniz-Gesellschaft Hannover, 29. und 30. November 1974. Wiesbaden (= Studia Leib- nitiana. SH6), S. 152-164. 3 Vorwort der Herausgeber in: Hans Poser und Clemens Burrichter (Hg.): Die geschichtliche Per- spektive in den Disziplinen der Wissenschaftsforschung. Kolloquium an der TU Berlin, Oktober 1988. Berlin 1988 (= TUB-Dokumentation Kongresse und Tagungen. 39), S. 5. 4 Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie. Bielefeld 2003, S. 8. 6 Einleitung werde damit nicht nur immer enger und komplexer, sie sei zugleich auch nur noch als ein interaktives Verhältnis zu erfassen.5 Seit der Etablierung in ihrer modernen Form im 17. Jahrhundert wurden Wissen- schaft und ihre kontinuierliche Weiterentwicklung mit der Idee verknüpft, nicht nur die wissenschaftlich-technischen Kenntnisse zu vermehren, sondern auch Garant für den menschlichen Fortschritt zu sein. Insbesondere die aufstrebenden Naturwissen- schaften, die im 19. Jahrhundert eine rasante Entwicklung erlebten, machten sich diesen Gedanken zu eigen, so daß Werner von Siemens in seinem Vortrag auf der "Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte" 1886 sich "be- rechtigt" sieht, dieses Jahrhundert als "das naturwissenschaftliche Zeitalter" auszuru- fen.6 Ungebrochen vom Fortschrittsoptimismus schließt von Siemens seine Rede mit dem Appell: "Und so, meine Herren, wollen wir uns nicht irre machen lassen in un- serem Glauben, daß unsere Forschungs- und Erfindungstätigkeit die Menschheit hö- heren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, daß das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnot, ihr Siechtum mindern, ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird."7 Andererseits kann von Siemens aber auch nicht umhin zuzugestehen, daß die durch Naturwissenschaft und Technik hervorgerufenen Veränderungen schwerwiegende Umwälzungen auch in den sozialen Verhältnissen nach sich ziehen und der Preis für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt mit- unter sehr hoch ausfallen kann. Doch die wirklich dramatischen Veränderungen standen erst noch bevor. Das 20. Jahrhundert begann 1900 mit Max Plancks Entdeckung des elementaren und später nach ihm benannten Wirkungsquantums, durch das die Grundlagen der klassischen Physik vollkommen umgestoßen worden sind und die Physik sich als Leitdisziplin etablieren konnte.8 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt die Wissen- schaft insgesamt einen weiteren kräftigen Anstieg ihres Wachstums. Nahezu alle wesentlichen Kennziffern der Wissenschaftsentwicklung weisen exponentielle Wachstumsraten auf.9 Doch nicht nur die Produktion wissenschaftlichen Wissens nimmt beständig zu, auch die Nachfrage wächst. Begleitet wird dieser Wissen- schaftsprozeß durch die Herausbildung neuer Wissenschaftszweige, Ausdifferenzie- rung von Disziplinen, Spezialisierung auf hochkomplexe aber kleine Arbeitsberei- che, den raschen Wandel von Theorien und Konzepten sowie die disziplinäre Kon- kurrenz um den Status als Leitdisziplin. 5 Vgl. dazu Helga Nowotny, Peter Scott, Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen- schaft und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit. Übersetzt von Uwe Opolka. Wei- lerswist 2004. 6 Werner von Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter. 1886. In: Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Na- turforscher und Ärzte (1822-1958). Hg. von Hansjoachim Autrum. Berlin u.a. 1987, S. 143-155. 7 Ebd., S. 155. 8 Zur Entstehung und Deutung der Quantentheorie im gesellschaftlich-kulturellen Rahmen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts vgl. die Diskussion der sog. Forman-Thesen in: Karl von Meyenn (Hg.): Quantenmechanik und Weimarer Republik. Braunschweig, Wiesbaden 1994. 9 Dazu schon Derek de Solla Price: Little Science, Big Science. New York, London 1963. – Zu Prices Thesen zum Wissenschaftswachstum vgl. jetzt den Überblick Antonio Fernández-Cano, Manuel Torralbo, Mónica Vallejo: Reconsidering Price's model of scientific growth: An over- view. In: Scientometrics 61 (2004), S. 301-321. Einleitung 7 Parallel dazu wachsen aber auch Wissenschaftskritik und Wissenschaftsskepsis. Die langgehegten Ansprüche der Wissenschaft auf Objektivität, Neutralität und Ra- tionalität werden in Frage gestellt. Vor allem aber schwindet in weiten Teilen der Gesellschaft das "Vertrauen in die wissenschaftlich-technische Problemlösungskapa- zität" und wächst das Bewußtsein, "daß Wissenschaft und Technik selbst jene Pro- bleme produziert haben, zu deren Lösung sie jetzt wieder beitragen sollen".10 Wis- senschaft wird zunehmend als komplexes Phänomen wahrgenommen, dessen Grund- lagen, Entscheidungen und Praxis kaum noch zu durchschauen und zu vermitteln sind. Vor diesem Hintergrund konnte es nicht ausbleiben, daß die Wissenschaft selbst Gegenstand von Untersuchungen in Wissenschaftsform werden mußte, um Aufklä- rung über diesen herausragenden Bereich menschlicher Tätigkeit zu gewinnen. Selbstreflexion, das Nachdenken über die Gegenstände, Ziele und Methoden sowie Fragen der Erkenntnisgewinnung und Geltungssicherung gehören freilich zur Wis- senschaft seit ihren Anfängen. Der professionelle und selbst mit Wissensanspruch verbundene Zugriff darauf ist jedoch neueren Datums. Nach ersten systematischen Anfängen im 19. Jahrhundert11 setzt mit der Wende zum 20. Jahrhundert ein Prozeß der Trennung der Naturwissenschaften und der Me- dizin von ihrer Geschichte ein, der in unterschiedliche institutionelle Anbindungen oder Ausprägungen mündet und sich geeignete Kommunikationsnetze schafft.12
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