Teil 1: 1918–1923 Deutschland und Sowjetrussland als Protagonisten der europäischen Revolution: Idee und Wirklichkeit Die ersten fünf Jahre der Komintern — bis zum Scheitern des „Deutschen Oktober“ 1917/18 Dok. 1a Erlass des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare (Lenin) und des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten (Trotzki) zur Unterstützung des linken, internationalistischen Flügels der Arbeiterbewegung Moskau, 11.(24.).12.1917 Typoskript in russischer Sprache, veröffentlicht u.a. in: Pravda, 12.12.1917. Ins Deutsche übertragen von Ruth Stoljarowa in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1998), Nr. 4, S. 75, nach: Dekrety Oktjabrʼskoj revoljucii, Bd. I, Moskva, 1933, S. 280f. Erlaß1 Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Sowjetmacht auf dem Boden der Prin- zipien der internationalen Solidarität des Proletariats und der Brüderlichkeit der Werktätigen aller Länder steht, daß der Kampf gegen Krieg und Imperialismus nur im internationalen Maßstab zum vollen Sieg führen kann, erachtet es der Rat der Volks- kommissare für erforderlich, dem linken, internationalistischen Flügel der Arbeiter- bewegung aller Länder mit allen notwendigen, darunter auch finanziellen, Mitteln zu Hilfe zu kommen, völlig unabhängig davon, ob diese Länder mit Rußland im Krieg stehen, ob sie mit ihm verbündet sind oder eine neutrale Stellung einnehmen. Zu diesem Zweck beschließt der Rat der Volkskommissare den Auslandsvertretern des Kommissariats für auswärtige Angelegenheiten zwei Millionen Rubel für die Erfor- dernisse der internationalistischen revolutionären Bewegung zur Verfügung zu stellen. Der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare V. Uľjanov (Lenin). Der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten Trotzki.2 Der Leiter der Geschäftsstelle des Rats der Volkskommissare Vlad. Bonč-Brujevič Der Sekretär des Rats N. Gorbunov 1 Das Dokument wurde, nachdem es in der Nacht vom 9. zum 10. (22. zum 23.) 12.1917 als Tagesordnungs- punkt der Sitzung des Rats der Volkskommissare behandelt worden war (siehe V.I. Lenin. Biografičeskaja chronika, Bd. 5, Moskva 1974, S. 121), am 11.(24.)12.1917 verabschiedet und am folgenden Tag in den Zeitun- gen „Gazeta“, „Izvestija“ und „Pravda“ sowie kurze Zeit später in Nr. 8 der Gesetzessammlung „Sobranie Uzakonenij“ veröffentlicht. Es trägt die Nr. 2525 des Archivs des Rats der Volkskommissare und enthält folgende Randbemerkungen des Sekretärs des Rats der Volkskommissare N.P. Gorbunov: „Zum Protokoll vom 9.XII.17. Original bei Genossen Trotzki. Diese Kopie an mich zurück. Zur Veröffentlichung. An die PTA [Petrograder Telegrafenagentur].“ Am 12.(25.)12.1917 wurde es aus Carskoe Selo abgesandt und von der deutschen Funkstation in Brest-Litovsk aufgefangen. Von dort wurde es am 26.12.1917 in deutschsprachi- ger Fassung an den Reichskanzler Graf von Hertling weitergeleitet (siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfel- de, 0901 Auswärtiges Amt, Bestand: Film, Nr. 939, Bl. 820343–820344). Die Übersetzung sowie die Anmer- kung stammt von Ruth Stoljarowa und wird mit ihrer freundlichen Erlaubnis abgedruckt. 2 Die Veröffentlichung in der Zeitung Izvestija schließt an dieser Stelle ab. 44 1918–1923 Dok. 1b Brief des sowjetrussischen Vertreters in Deutschland, Adolʼf Ioffe, an Lenin über die Unfähigkeit der deutschen Linkssozialisten zur Revolution Berlin, 5.9.1918 Autograph in russischer Sprache. RGASPI, Moskau, 5/1/2134, 32–34. Erstveröffentlichung Berlin 5/IX Lieber Vladimir Ilʼič! [Lenin] [...]3 Die Unruhen in den [deutschen] Streitkräften werden nicht durch Gewalt, sondern mit Überzeugungskraft und Nachgiebigkeit unterdrückt.4 Das schlimme dabei ist, dass je klüger und entschlossener die deutsche Regierung ist, umso zögerlicher und buchstäb- lich dümmer die hiesigen „revolutionären“ (in Anführungszeichen) Parteien sind. Ein charakteristisches Beispiel ist der Streik in den Kohlebergwerken.5 Sie wissen selbstver- ständlich, dass es beinahe ein Generalstreik war und dabei ausschließlich wirtschaftliche Forderungen aufgestellt wurden (die auch erfüllt wurden), jedoch hat niemand auch nur versucht, diesem Streik eine politische Färbung zu verpassen. Sowohl von den Spartakus- leuten6 als auch von den Unabhängigen7 wurde absolut nichts in diese Richtung getan, 3 Adolʼf A. Ioffe (1883–1927), russischer Arzt und Revolutionär, einer der Verhandlungsführer in Brest-Litowsk, war von April bis November 1918 sowjetrussischer Vertreter in Deutschland. Im No- vember 1918 wurde er u.a. wegen finanzieller Unterstützung der deutschen Linken von der Reichs- regierung ausgewiesen. In den 1920er Jahren nahm er diverse diplomatische Tätigkeiten wahr. Als Anhänger Trotzkis und Gegner Stalins beging er im November 1927 aus Protest gegen Trotzkis Verban- nung Selbstmord. Siehe Dok. 5 mit weiteren Angaben. 4 Bereits im August 1918 ging das Große Hauptquartier davon aus, dass Deutschland und Österreich- Ungarn den Krieg verlieren würden. Die Verbitterung über die hohe Anzahl der Toten und Kriegs- versehrten (ca. 1,5 Millionen) bei 6 Millionen Soldaten und 800.000 Kriegsgefangenen führten im Verbund mit den sozialen Missständen zu Protesten in den Streitkräften, begleitet von spontanen Demonstrationen auch der Frauen vor den Kasernen. 5 Nach Unruhen in Sachsen und einer neuen Streikwelle im Ruhrgebiet mit Lebensmittelkrawal- len riefen am 9.9.1918 die Militärbehörden den Belagerungszustand über das oberschlesische Revier gegen Streiks und „bolschewistische Unruhen“ aus. Bis Oktober wurden ca. 1800 Personen durch Militärgerichte abgeurteilt. 6 Bis zur Gründung der KPD wirkte der aus der Gruppe Internationale (1915) hervorgegangene Spar- takusbund mit Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht als linker Parteiflügel innerhalb der USPD. 7 Gemeint ist die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), gegründet in Gotha am 6.4.1917 durch den pazifistischen linken SPD-Flügel um Hugo Haase gegen eine Verlänge- rung des Weltkriegs, die annexionistische Kriegszielpolitik und die Burgfriedenspolitik der SPD. Zu ihren bekannten Mitgliedern gehörten neben Haase Wilhelm Dittmann, Karl Kautsky, Wilhelm Barth, Ernst Toller, Kurt Eisner und Franz Mehring. Dok. 1b: Berlin, 5.9.1918 45 obwohl ich persönlich hundertfach mit den Genossen8 darüber geredet und ihnen alle mögliche Hilfe angeboten habe. Jetzt haben wir beschlossen, in diesem Bezirk eine Abtei- lung der P[etrograder]T[elegraphen-]A[gentur] (durch die wir hier die ganze Information leiten)9 einzurichten und das dortige Unabhängigenblättchen zu unterstützen, sowie zusätzlich eine Wochenzeitschrift herauszubringen. Sie liegen falsch, wenn Sie denken, dass mir das Geld zu schade ist; ich gebe ihnen soviel, wie nötig ist, und bestehe ständig darauf, dass sie mehr nehmen, aber was soll man machen, wenn die Deutschen so hoff- nungslos sind: zur illegalen und im unseren Sinne revolutionären Arbeit sind sie einfach unfähig, denn größtenteils sind sie politische Spießbürger, die sich einrichten, um dem Militärdienst zu entgehen, sich an dieser Position festkrallen, der Revolution jedoch nur mit dem Mundwerk bei einem Krug Bier frönen. Als revolutionäre Partei sind die Unab- hängigen völlig hoffnungslos und untauglich; die Besten von ihnen, wie Ledebour,10 sind Parlamentarier par excellence, und wollen nichts anderes erkennen und verstehen; die Spartakusleute fürchten Verhaftungen, sind hauptsächlich jung (wenn nicht unbe- dingt an Jahren, so doch an revolutionärer Erfahrung), sie können nur unter Anleitung arbeiten und haben auch tatsächlich gearbeitet, als Tyszka [d.i. Leo Jogiches]11 noch da war, und sie bilden sich ein, dass wenn sie alle Schaltjahre einmal einen Proklamations- wisch [proklamašku] herausbringen (den sie übrigens nicht einmal ordentlich verteilen können), dass dies sogar schon ein Übermaß revolutionärer Umtriebe sei. Dagegen verstehen Menschen wie Zetkin und Mehring12 vortrefflich den Sinn und die Bedeutung der russischen Revolution und sind ganz bei uns, sie sind jedoch zu alt und krank, und können nicht viel ausrichten, und sogar Genossen wie Rühle13 sind aufrichtig davon überzeugt, dass man mit dem deutschen Arbeiter jetzt nichts ausrichten könnte und man „abwarten“ müsse. – Ich habe Ihnen zwei Artikel von C. Zetkin geschickt, die 8 „den Genossen“: Im russischen Original „Genossʼami“, „Genoss“ in lateinischer Schrift. Bis zum Ausbruch der Revolution im November appellierte die USPD ständig an die Arbeiter „ihre Interessen selbst in die Hand zu nehmen“, doch sie hatte keine Theorie entwickelt, „aus der ein bestimmtes Handeln abzuleiten gewesen wäre. Sie wusste nicht, wie die sozialistische Gesellschaft in der Praxis zu erreichen war.“ (Hartfrid Krause: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt am Main, 1975, S.113). 9 Russisch: pod firmoj kotorogo my zdesʼ vedem vedem [sic] vsju informaciju. PTA (Petrograder Telegra- phen-Agentur): Russische staatliche Telegraphenagentur seit 1914, wurde 1918 in ROSTA umbenannt. 10 Der Journalist und Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour (1850–1947) gehörte dem USPD- Vorstand sowie seit 1918 den revolutionären Obleuten an. 11 Leo Jogiches (1867–1919), polnisch-litauischer Sozialist, engster Mitarbeiter und zeitweiser Le- bensgefährte von Rosa Luxemburg, war Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD. 12 Clara Zetkin (1854–1933), seit 1874 in der Arbeiterbewegung und beste Freundin Rosa Luxemburgs, spielte weiterhin noch eine wichtige Rolle als Frauenrechtlerin und Politikerin in KPD und Komintern. Franz Mehring, geb. 1846, Publizist und herausragender marxistischer Historiker,
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