IM VISIER DER NAZI-JÄGER Die Verfolgung der NS-Verbrecher geht weiter. Spät erst kommen viele braune Täter vor Gericht – auch, weil Kirche und Politik sie jahrzehntelang vor Strafe schützten. / VON CHRISTIAN HABBE alb Europa war 55 Jahre lang dem Zahl der Verfahren will nicht abnehmen: Argentinien abgeschobene Erich Priebke, Mann auf den Fersen. Denn Anton In Ravensburg wurde der frühere SS-Un- der vor zwei Jahren in Italien wegen HMalloth, den sie in Böhmen einst tersturmführer Julius Viel, 83, wegen Er- Geiselerschießung verurteilt wurde und den „schönen Toni“ nannten, gilt als Mehr- mordung von Gestapo-Häftlingen in Böh- wenigstens noch Hausarrest bekam. fachmörder. men verurteilt. Zehn Jahre älter noch ist Unübersehbar nähert sich dieser Justiz- Im Polizeigefängnis „Kleine Festung Friedrich Engel, ehemals Chef der Sicher- bereich der Altersgrenze. Aber der Stoff Theresienstadt“ hat der damalige SS-Ober- heitspolizei in Genua. Italienische Richter geht nicht aus – im Gegenteil: Kurz bevor scharführer, so berichten Augenzeugen, verurteilten ihn vor zwei Jahren schon we- die Verfolgung der Jahrhundertverbrechen Häftlinge umgebracht – „sehr brutal mit gen Massenerschießungen, jetzt ermittelt zur Gespensterparade mutiert, gibt es einem höhnischen Lä- fast überall neuen Auf- cheln“. In der Tsche- schwung bei der Jagd choslowakei wurde er nach den letzten Tätern. dafür 1948 zum Tode Die Polizeischergen verurteilt, allerdings in von Vilnius sind im ame- Abwesenheit, denn der rikanischen Exil vom US- Mann war nie zu fassen. Justizministerium aufge- Erst floh er nach spürt worden. Dessen Österreich, dann weiter Office of Special Investi- nach Italien. Dort schaff- gations (OSI) durchsucht ten sie nicht einmal sei- alte Einwandererlisten ne Ausweisung – Mal- nach versteckten Nazis. loth tauchte ab und leb- Gegen 222 US-Bürger er- te jahrelang in Südtirol AKG mittelt das OSI, schon als Illegaler, der oft nur Erschießung polnischer Zivilisten (1939): Riesiger Todesapparat 54 Delinquenten wurden nachts das Haus verließ. ausgewiesen. Einwande- 1988 schien die Flucht zu Ende, Malloth auch die Justiz in Hamburg, wo der „Hen- rungsländer wie Kanada, Australien und zog in ein Münchner Altersheim und war ker von Genua“ bislang unbehelligt lebte. Neuseeland lassen Fahndungsexperten ihre von nun an behördlich erreichbar. Aber Die alten Verbrechen steigen aus der Akten durchforsten. Selbst Südamerika, weitere zehn Jahre vergingen mit schlep- Vergessenheit und zeigen Gesicht: In Vil- Lieblingsplatz brauner Ruheständler, ist penden Ermittlungen, ehe die Staatsan- nius kamen der frühere Chef der litaui- nicht mehr sicher. Täter sollen „für ihre waltschaft Anklage erhoben hat. schen Geheimpolizei Saugumas, der 93- Verbrechen bezahlen, solange Strafverfol- So erschien in diesem Frühjahr, sehr jährige Aleksandras Lileikis, sowie sein gung irgend möglich ist“, fordert Simon bildhaft, die Vergangenheit vor Gericht: gleichaltriger Stellvertreter Kazys Gim- Wiesenthal, 92, weltweit der angesehenste Der „schöne Toni“ von einst, mittlerweile zauskas vor Gericht. Sie waren für den Ermittler von NS-Taten. 89, saß, von dicken Kissen fixiert, im Roll- Mord an 200000 jüdischen Litauern mit- So kommen ungeahnte Datenbestände stuhl. Wenn der Richter von den Opfern verantwortlich, müssen aber nicht mehr über noch nicht gesühnte Taten zu Tage. sprach, „die unsägliches Unrecht erlitten sühnen – der eine starb während des Pro- Im Archiv der israelischen Holocaust- haben, die gequält und ermordet wurden“, zesses, der andere kam, Alzheimer-krank, Gedenkstätte Jad Waschem fand Wie- blickte der Alte unbewegt und sagte nur: nach dem Schuldspruch auf freien Fuß. senthal-Mitarbeiter Efraim Zuroff, als er „Ich kann da nicht richtig folgen.“ Das Ur- Verbrecher aus den alten Zeiten büßen Verbrechen im Baltikum recherchierte, teil von Ende Mai – lebenslänglich – müs- überhaupt nur noch ausnahmsweise ihre Tausende von Täterunterlagen, „die dort se der Greis, so sein Anwalt, erst in die Freiheit ein wie der französische Juden- 30 Jahre lagen, bevor jemand es be- „eigene Weltsprache übersetzen“, um es – verfolger Maurice Papon, 90, oder der von merkte“. vielleicht – zu verstehen. Malloth ist ein Problemfall später Ge- rechtigkeit, und er steht für viele. Wie ge- „Der Spion Heinz Felfe wäre nie in die spenstische Relikte aus einer bösen Zeit Organisation Gehlen aufgenommen worden, wenn beschäftigen sie scheinbar ohne Ende die Rechtsinstanzen. Paradox, 55 Jahre nach er nicht Nazi und SS-Mann gewesen wäre.“ Untergang des Nazi-Reichs – die Beschul- digten werden immer hinfälliger, aber die US-Experte Christopher Simpson 164 der spiegel 36/2001 Die National Archives der USA enthal- ten Riesenmengen unangetasteter Nazi- Akten, darunter Großbestände des Nürn- berger Militärtribunals, die 1945 in der Eile der Prozessvorbereitung gar nicht mehr durchforstet werden konnten. Gemäß dem amerikanischen „Nazi War Crimes Disclosure Act“ von 1998 gibt neu- erdings sogar die CIA ein paar Kostproben ihrer Archivakten über braune Täter her- aus – etwas verschämt, denn 9 von 14 NS- Verbrechern, deren Namensdossiers un- längst freigegeben wurden, hatten Kon- takte mit US-Geheimdiensten. Noch mehr Peinlichkeiten sind freilich kaum zu be- fürchten – die Herren sind tot. Die alten Männer, die vor Gericht jetzt ihre späten Schuldsprüche hören, sind die letzten Helfer eines Molochs, der wohl 60 ACTION PRESS ACTION Millionen Menschenopfer forderte, darun- Mörder Malloth (1939), vor Gericht (2001): „Gequält und ermordet“ ter 20 Millionen Sowjetbürger sowie die 6 Millionen planmäßig ermordeten Juden und Zigeuner. Für seine Jahrhundertver- brechen baute das System auf ein mächtiges Schergenheer: • Die Gestapo jagte, vor allem im Landes- innern, mit zeitweise über 30000 Ange- hörigen nach Juden und anderen Miss- liebigen; zusammen mit der deutschen Kripo (fast 13000 Beamte), bildete sie die „Sicherheitspolizei“ – ein allgegen- wärtiges Terrorinstrument; außerdem beging etwa ein Dutzend ihrer „Poli- zeibataillone“ Massenmorde im Osten. • Die allgemeine SS zählte gut 200 000 Mitglieder, von denen schätzungsweise jeder siebte im Beherrschungsapparat engagiert war – als Polizisten, Bürokra- ten oder Vernichtungsgehilfen. • Die Waffen-SS, eine 600000 Mann star- ke, zur Hälfte aus Volksdeutschen und Ausländern rekrutierte Elite-Kampftrup- pe, richtete Massaker an; unter dem Vor- wand der Terrorvergeltung brachte sie Zivilisten um, darunter alle Einwohner VERGANGENHEIT DER GEGENWART DIE OLYMPIA des französischen Orts Oradour. Kriegsverbrecher Priebke, beim Prozess in Rom (1996): Hausarrest für Geiselmord • Vier „Einsatzgruppen“, 3000 Mann aus Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst der SS, hatten laut Aussage ihrer in Nürn- berg angeklagten Führer „Zigeuner, Sa- boteure und Agenten“ zu liquidieren, und dabei mit Vorrang „das Ostjuden- tum“ als „Reservoir des Bolschewismus“. Allein auf sowjetischem Gebiet ermor- deten sie über 500000 Menschen. Diesem riesigen Mordapparat stellte die Anti-Hitler-Koalition lange vor Kriegs- schluss ein Strafgericht ohnegleichen in Aussicht. Alle „hitleristischen Hunnen“, so schworen die alliierten Staatschefs Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin und Winston Churchill in ihrer Moskauer Er- klärung vom Oktober 1943, müssten für „ihre ruchlosen Grausamkeiten“ zahlen; JENS PALME sie würden „zur Stätte ihrer Verbrechen Kriegsgefangener Engel in Italien (1945), Beschuldigter Engel in Hamburg (2001) Als „Henker von Genua“ gesucht 165 SERIE – TEIL 18 ❚ ABRECHNUNG MIT DEN TÄTERN gebracht und dort von den Völkern abge- Insgesamt, bilanzierte das Bundesjustiz- Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger we- urteilt, an denen sie sich vergangen haben“. ministerium 1965, seien etwa 80000 Deut- gen dessen Nazi-Vergangenheit Aufsehen So startete 1945 eine wohlvorbereitete sche „wegen der Beschuldigung, Kriegs- erregte. Aktion; nach einer siebenstelligen Na- verbrechen oder nationalsozialistische Der Versuch eines vierköpfigen Klars- mensliste wurden Kriegsverbrecher ausge- Straftaten begangen zu haben, verurteilt feld-Teams, den früheren Pariser Gestapo- siebt und 85000 Steckbriefe ausgestellt. worden“, 12 000 davon durch DDR-Ge- Chef Kurt Lischka im Mossad-Stil von Köln Als Erstes sorgten die Siegermächte richte. (Das waren immerhin doppelt so nach Frankreich zu verschleppen, endete für die Aburteilung und Hinrichtung viele wie in der nach Einwohnern 3,5-mal tragikomisch: Die Amateurtäter bekamen der deutsch-österreichischen Nazi-Spitze so großen Bundesrepublik.) den strampelnden Alten nicht ins Flucht- mitsamt zahlreichen Handlangern – die Weltweit lief die Strafaktion über Jahre auto, hoben ihm aber, bevor sie das Weite „Hauptkriegsverbrecher“ hatten sich weiter, ein enges Fahndungsnetz entstand, suchten, noch sein Rentnerhütchen von vor dem Nürnberger der Straße auf. Allerdings sorgte das Ehe- Viermächtetribunal zu paar für die Bestrafung mehrerer in verantworten, zwölf Deutschland lebender NS-Verbrecher; auch Nürnberger „Nachfol- Lischka kam später daheim vor Gericht. geprozesse“ der US- Das war in den siebziger Jahren; wie Militärjustiz sowie viele solcher NS-Kaliber bis heute überlebt weitere NS-Verfahren haben mögen, weiß kein Fahnder. Den nach der Alliierten richte- Syrien entwischten Österreicher Alois ten vor allem Mörder Brunner, prominenter Helfer Adolf Eich- und Menschenschin- manns bei der Judendeportation aus Wien, der aus den Todesap- bekam selbst der Mossad nicht zu fassen; er paraten, all den KZs, wäre jetzt 89 Jahre alt. Brunner wird schon Mordbataillonen, Eu- seit Jahren totgesagt, steht
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