Metrik Und Nationalismus Im 19. Jahrhundert

Metrik Und Nationalismus Im 19. Jahrhundert

pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXIX (2019), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 265–281 JOHANNES SCHMIDT Im Rhythmus der Nation? Metrik und Nationalismus im 19. Jahrhundert I. Metrik und nationale Tradition. Nachdem der zweite Band seiner Calderón-Übersetzung erschienen war,1 bekam Johann Diederich Gries (1775–1842) einen Brief von seinem guten Freund Johann Georg Rist (1775–1847), der einige Zeit in Spanien verbracht hatte und für den Übersetzer wegen der so erworbenen Sprachkenntnisse eine wichtige Beurteilungsin- stanz darstellte. Rist lobte die Übersetzung im Allgemeinen, kritisierte aber die vierhebi- gen Trochäen, die Gries für sie gewählt hatte, weil es sich bei ihnen um „kein deutsches“ Versmaß handelte.2 Der Übersetzer konterte den Vorwurf mit einer kleinen Genealogie der gängigsten Versarten: Aber welches ist, möchte ich nun fragen, das ursprünglich deutsche Versmaß, dessen man sich unbedenklich bedienen kann und soll? Dies möchte wol schwerlich auszumachen sein, wenn man auch bis in die älteste Zeit der deutschen Poesie zurückgehen wollte. Ob das Versmaß des „Niebelungenliedes“ ursprünglich deutsch sei, darüber lassen sich bedeutende Zweifel erheben, die Minnesänger borgten ihre Versmaße bekanntlich von den Provenzalen. Die leidigen Alexan- driner haben wir von den Franzosen bekommen, die fünffüßigen Jamben von den Italienern und Engländern, die Hexameter und andere antike Metra von den Griechen und Römern. Warum sollten wir uns denn weigern, die vierfüßigen Trochäen von den Spaniern anzunehmen? Aber wir brauchen deswegen nicht erst über die Pyrenäen zu gehen. Schon zu Luther’s Zeiten, und noch viel früher, war diese Versart in Deutschland eingebürgert, wie du dich aus jedem alten Gesangbuch überzeugen kannst.3 Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich Rists Vorwurf und Gries’ Entgegnung als prob- lematisch, denn sie nehmen an, dass, erstens, Sprachen4 ihnen eigene Versarten entwickeln und, zweitens, Versarten einer Sprache sich in eine andere übertragen lassen, ohne eine grundlegende Veränderung zu erfahren, in der Zielsprache also als ,fremd‘ erkennbar bleiben. Diese Annahmen widersprechen sich, setzt doch die erste voraus, dass Sprache die Grundlage eines Metrums ist, was von der zweiten verneint wird, da eine wesentliche Übertragung in eine andere Sprache andernfalls unmöglich wäre. An den vierhebigen Trochäen, die Herder bei seiner Übersetzung spanischer Romanzen erstmals verwendet und die August Wilhelm Schlegel bei seiner eigenen Übertragung 1 Vgl. CALDERÓN (1816). Zu Gries’ Übersetzung vgl. den Beitrag von Héctor Canal („Unterhändler ausländischer Dichter“. Johann Diederich Gries’ Calderón-Übersetzungen) in diesem Heft. 2 [CAMPE] (1855, 116 f.). Rists Brief wird in der Quelle nicht wiedergegeben; Gries zitiert den Vorwurf jedoch in seinem Antwortschreiben: „Umsomehr aber überrascht mich der von dir geäußerte Wunsch, ,daß ich gleich von Anfang herein eine freiere Art und Versmaß der Nachbildung gewählt haben möchte, wodurch der Dichter in dem deutschen Auge mehr gewonnen haben würde als durch die allzu getreue Nachbildung eines Versmaßes, das kein deutsches ist‘.“ 3 [CAMPE] (1855, 117). 4 Dass Gries von den „Franzosen“, „Italienern“ etc. spricht, deutet darauf hin, dass (National-)Sprache und (Kultur-)Nation für ihn – wie für seine Zeit – nicht voneinander zu trennen sind. © 2019 Johannes Schmidt - http://doi.org/10.3726/92165_265 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 266 | Johannes Schmidt: Im Rhythmus der Nation? Calderóns endgültig als ,spanisches Versmaß‘ etabliert hatte,5 lässt sich die Problematik anschaulich machen: Wie etliche Versformen der romanischen Literaturen wird auch der Romanzenvers, um den es sich hier handelt, primär durch die Silbenzahl definiert, nicht durch bestimmte Versfüße.6 Als octosílabo zählt er zu den gängigsten Formen der spani- schen Literatur und taucht in unterschiedlichen metrischen Ausprägungen auf; es lassen sich trochäische, daktylische und gemischte Typen unterscheiden. Machte der trochäische Typ lange den Großteil aller Achtsilber aus, so herrschten im siglo de oro, gerade im Drama, polyrhythmische Formen vor, möglicherweise, weil sie für dramatische Dialoge geeigneter schienen. Die Festlegung auf einen vierhebigen Trochäus im Deutschen reduziert also die Komplexität der originalen Form ganz wesentlich: Das silbenzählende Metrum wird akzentuierend vereindeutigt. Nähme man das silbenzählende Prinzip als dem Spanischen inhärent, so könnte man die deutschsprachige Umsetzung nicht als wirklich gleichwertig ansehen.7 Der Transfer in eine andere Sprache hat die Versform modifiziert, weil sie in ein anderes metrisches System übertragen wurde. Die Frage nach dem ,deutschen Versmaß‘ und die Probleme, die damit aufgeworfen werden, sind symptomatisch für einen Zug, der den metrischen und prosodischen Debatten des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts eignete. Er gehört in den Kontext des Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der die Entwicklung der modernen Nationalstaaten begleitete und grundierte. Während solcher Entwicklungen werden Gemeinschaften imaginiert,8 denen bestimmte Traditionen zugeschrieben bzw. innerhalb derer bestimmte Traditionen erfunden werden, die anschließend als ,nationale‘ gelten.9 In diesen Kontext gehört auch die Metrik,10 die als Regelwerk die prosodische Struktur einer Sprache für die gebundene Rede fruchtbar machen will. Insofern lässt sich sagen, dass „jede Metrik ein gewollt nationales Unterfangen“ ist, das auf der Annahme „künstlicher Grenzen zwischen Sprachen“11 beruht – die Prosodie des Deutschen erfordert eine deutsche Metrik, die des Französischen eine französische etc.; diese Annahme ist es, die eingangs am Beispiel Gries’ und Rists beschrieben wurde. Metrische Systeme entstehen demnach in ihren jeweiligen Sprachräumen durch ein Zusammenspiel von „linguistische[n] Prozesse[n], ästhetische[n] Erwartungen und kulturpolitische[n] Ambitionen“12. Anders gesagt: In jedem Sprachraum erfolgt eine Ver- ständigung darüber, was als ,Tradition‘ des gebundenen Redens gilt und was nicht, wobei der Abgrenzung zu anderen Sprachräumen eine entscheidende Rolle zukommt – erst im Angesicht des Anderen wird das Eigene erkennbar. Damit ist ,Metrik‘ Teil einer je eigenen, ,nationalen‘ Kulturpolitik, also einer Ansammlung von Strategien, die darauf zielen, „so auf die gesellschaftlichen Verfahren der Signifikanzerzeugung einzuwirken, dass dadurch 13 (neue) Verbindlichkeiten entstehen“. 5 Vgl. SCHLEGEL (1803). Vgl. auch CANAL (2017, 261 f.). 6 Vgl. für das Folgende BAEHR (1962, 61–73). 7 Vgl. BOCKELMANN (1991). 8 Vgl. zur Theorie der ,imaginierten Gemeinschaft‘ einer Nation ANDERSON (2006). 9 Vgl. HOBSBAWM (1983, 1–14). 10 Der Begriff wird hier in seinem weitesten Sinne verstanden, der alle Aspekte von Versbau und -lehre, Prosodie, Literaturgeschichte und literaturwissenschaftlicher Theorie des Verses umfasst. 11 BUNIA (2014, 13). Für das 20. Jahrhundert (und für die literaturwissenschaftliche Metrik) gilt das nicht mehr. 12 BUNIA (2014, 9). 13 DEmbECK (2015, 85). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXIX (2019) Peter Lang Johannes Schmidt: Im Rhythmus der Nation? | 267 Die Metrik scheint solche Systeme gleichzeitig zu stützen und zu unterlaufen. Denn in Europa entstehen Versformen bis ins späte 19. Jahrhundert in erster Linie aus der Ausformung metrischer Schemata […]. Damit ist der Versbau unmittelbar an die phonologischen Regularitäten der jeweils beteiligten Sprachsys- teme gebunden. Zugleich ist es gerade der bloße Schematismus der Metrik, der die Übertragung von Versformen über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht […].14 Das heißt: Aus der Idee einer bestimmten ,(National-)Sprache‘ entsteht ein metrisches Regelwerk, das die Prosodie dieser Sprache in Schemata gebundener Rede übersetzt; diese Schemata sind aufgrund ihres Abstraktionsgrades aber potentiell übertragbar und anpas- sungsfähig. Auch dies zeigte sich eingangs an Gries’ Übersetzung: Für die Zeitgenossen bildete der vierhebige Trochäus im Deutschen die ,richtige‘ Entsprechung des spanischen octosílabo, das metrische Schema des spanischen Verses ließ sich ,korrekt‘ in den Kontext der deutschen Prosodie einfügen. Damit wird die Idee einer nationalen metrischen Tradition, die sich aus der Nationalsprache ergibt, allerdings unterlaufen – die nationalen kulturpo- litischen Strategien stellen sich gewissermaßen selbst ein Bein, zumindest, solange sie ihre vollkommene Eigenständigkeit behaupten. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, wie metrische Formen zwischen den Sprachen wandern und welche Dynamiken diese Bewegungen ihrerseits auslösen. Dazu sollen zwei Beispiele in den Blick genommen werden, die zeigen, wie, erstens, der deutsche Versbau auf- grund seiner Möglichkeiten gewissermaßen zum primus inter pares unter den europäischen Literaturen erklärt wird (Tiecks Minnelieder-Sammlung), und wie, zweitens, die Einführung eines ,fremden‘ Versmaßes in eine nationalliterarische Tradition eine vielfältige, von Fragen nationaler Selbstständigkeit und transnationaler Konkurrenz durchzogene Debatte auslöst (der englische Hexameter). II. Ludwig Tiecks Minnelieder. Tiecks Vorrede zu den Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter (1803) ist als Schlüsseltext der Frühromantik berühmt geworden. In ihr reformu- liert er die universalpoetischen Vorstellungen Friedrich Schlegels, indem er sie seiner eigenen Konstruktion der mittelalterlichen Literatur gewissermaßen unterschiebt.15 Das Ergebnis

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