Stefan Wulf Morphinismus und Kokainismus Anmerkungen zum Konstrukt der Psychopathie im Hamburger Drogendiskurs der 1920er Jahre* Der Psychiater Albrecht Langelüddeke,1 Assistenzarzt an der Hamburger Staats- krankenanstalt Friedrichsberg,2 stellte 1926 in einem seiner zahlreichen Gutachten eine bemerkenswerte Behauptung auf: „Um zum Morphinisten zu werden, müssen in der Regel zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muß der Betreffende ein Psycho- path (oder Ähnliches) sein und zweitens muß er einmal eine Morphiuminjektion er- halten haben. Beide Bedingungen stehen in einer gewissen Wechselwirkung zu ein- ander; je schwerer die Psychopathie, desto leichter ständiger Morphiummißbrauch. Treten Schmerzen hinzu, braucht der Grad der Psychopathie nicht so groß zu sein.“3 * Der Aufsatz ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförder- ten und von Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach geleiteten Projekts „Rausch – Sucht – Wahn- sinn. Drogen-Wahn in Hamburg (1900–1930)“ am Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) entstanden. Das Hamburger Projekt ist Teilprojekt der zweiten Förderphase der DFG-Forschergruppe 1120 „Kulturen des Wahn- sinns (1870–1930). Schwellenphänomene der urbanen Moderne“. 1 Albrecht Langelüddeke (1889–1977): seit Mitte Dezember 1918 in Friedrichsberg tätig, zunächst als Volontär-, dann als Assistenz- und schließlich als Abteilungsarzt (1930 Venia Legendi); ab Herbst 1935 Direktor der Landesheilanstalt Haina (Hessen-Nassau); ab April 1937 Direktor der Landes- heilanstalt Marburg; lehrte an der Marburger Universität u. a. Gerichtliche Psychiatrie (ab 1940 als apl. Prof.); während des Zweiten Weltkriegs u. a. psychiatrischer Gutachter bei Militärgerichtspro- zessen; nach 1945 auf Veranlassung der US-Militärregierung als Direktor der Landesheilanstalt Mar- burg entlassen, zwischen 1949 und 1954 – allerdings nur noch als leitender Arzt – dort wieder tätig; nach seiner Pensionierung Rückkehr nach Hamburg, gefragter Gutachter bei Strafgerichtsprozessen und psychiatrischer Sachverständiger der Bundesregierung („Kastrationsgesetz“ 1969). Vgl. Roland Müller: Wege zum Ruhm. Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Marburg. Köln 2001, S. 271–278, vgl. auch S. 174–198; Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 131-8 (Senatskommission für den höheren Verwaltungsdienst), G1c HV 1935, La III/11 (Langelüddeke) und G1c HV 1935, La IV/6 (Langelüddeke); Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen in Kassel, Bestand 16 (Marburg), Unterbestand Personalakten (Langelüddeke). 2 Wilhelm Weygandt: Friedrichsberg. Staatskrankenanstalt und psychiatr. Universitätsklinik in Hamburg. Ein Beitrag zur Krankenanstaltsbehandlung und Fürsorge psychisch Kranker und Nervenleidender. Hamburg 1922; ders.: Die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg und Psychiatri- sche Universitätsklinik Hamburg. Düsseldorf 1928. 3 Historisches Krankenblatt-Archiv des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Me- dizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Akte Friedrichsberg, No. 56.743: Gutach- 186 Stefan Wulf Mit dieser Feststellung Langelüddekes ist das Thema des vorliegenden Beitrags bereits klar umrissen. Untersucht wird jener Zusammenhang zwischen Drogen- sucht und Psychopathie, wie er bereits vor dem Ersten Weltkrieg von den Psychi- atern konstruiert worden war4 und im Kontext eines veränderten und zunehmend inkriminierten Drogenkonsums während der Weimarer Republik die psychiatri- schen Erklärungsmodelle auf dem Gebiet der Intoxikationspsychosen beherrsch- te. Gefragt wird nach den verschiedenen Spielarten dieses Konzepts, den Abwei- chungen und Besonderheiten im Wechsel der Fälle und der verantwortlichen Psy- chiater. Vor allem aber stellt sich die Frage, ob hier primär das Bemühen um eine medizinische Erklärung von Krankheitszusammenhängen im Vordergrund stand oder ob die beschriebene Konstruktion nicht vielmehr vor dem Hintergrund ju- ristisch-administrativer Funktionszusammenhänge zu betrachten und zu interpre- tieren ist. Die oben zitierte Feststellung Langelüddekes ist einem Gutachten entnommen, in dem es um den Grad der Arbeitsverminderung durch Morphiumabhängigkeit geht. In den allermeisten einschlägigen Friedrichsberger Gutachten allerdings wird der Zusammenhang zwischen Psychopathie und Rauschmittelsucht unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Entmündigung der betreffenden Patienten diskutiert und ausgelotet. Dieser Quellenbestand der zahlreich überlieferten Fried- richsberger Entmündigungsgutachten der 1920er Jahre und damit zusammenhän- gend die Frage einer möglichen Zwangsbehandlung Drogensüchtiger in der An- stalt stehen im Fokus dieses Beitrags. Räumlicher Bezugsrahmen ist Hamburg mit seiner zentralen psychiatrischen Versorgungsanstalt, der Staatskrankenanstalt und zugleich psychiatrischen Universitätsklinik Friedrichsberg, ehemals gelegen im Osten des Stadtgebiets, zwischen Barmbek-Süd und Wandsbek. Die Untersuchung trägt der Fragestellung des vorliegenden Bandes nach For- men der Entgrenzung des Wahnsinns insofern Rechnung, als vor allem der Begriff der „Psychopathie“ vor dem Hintergrund der Drogenfrage der 1920er Jahre im Zentrum der Betrachtung stehen wird. Morphium und Kokain (wie auch Heroin) erlebten in der Weimarer Republik einen nicht unbeträchtlichen Schub vom Arz- nei- zum Genussmittel, und zwar insbesondere in Großstädten wie Hamburg und bei zunehmend breiteren Bevölkerungsschichten.5 Ob man hinsichtlich des Ver- ten Langelüddeke, 5. 7. 1926, S. 4 f. Bei Patienten bzw. Patientinnen mit Mehrfachaufnahmen wird als Nachweis in den Fußnoten jeweils die letzte Aufnahmenummer angegeben, unter der die Ak- ten abgelegt worden sind. 4 Vgl. etwa Paul Schroeder: Intoxikationspsychosen. In: Gustav Aschaffenburg (Hg.): Handbuch der Psychiatrie. Spezieller Teil. 3. Abt., 1. Hälfte. Leipzig/Wien 1912, S. 119–334, hier: S. 122–124, S. 159 f. 5 Vgl. etwa Karl Bonhoeffer/Georg Ilberg: Über Verbreitung und Bekämpfung des Morphinis- mus und Kokainismus. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 83 (1925/26), S. 228–249, hier: S. 228–237; vgl. zu Hamburg: Friedrich Meggendorfer: Intoxikationspsychosen. In: Oswald Bumke (Hg.): Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 7, Spezieller Teil 3. Berlin 1928, S. 151–400, hier v. a.: S. 299 f.; vgl. außerdem Kurt Pohlisch: Die Verbreitung des chronischen Opiatmiß- brauchs in Deutschland, ermittelt auf Grund eines vom Reichsgesundheitsamt zusammengestell- ten und geprüften Materials. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 79 (1931), S. 1–32. Morphinismus und Kokainismus 187 brauchs von Narkotika für diesen Zeitraum von einer „Drogenwelle“6 sprechen kann oder nicht, muss hier offen bleiben. In jüngster Zeit wurde der Begriff der „Drogenwelle“ für die Weimarer Republik massiv infrage gestellt und die viel- schichtigen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg (sowie gerade auch durch den Krieg) wurden vielleicht etwas einseitig auf einen Wahrnehmungswandel be- ziehungsweise Problematisierungsprozess reduziert.7 Anders gesagt: Die „Dro- genwelle“ wurde als Welle intensivierter Aufmerksamkeit interpretiert, eine be- deutsame Zunahme des Konsums von Rauschmitteln in Abrede gestellt und damit der Etablierungsprozess eines „sozialen Problems“ in den Vordergrund gerückt. Ein solcher Prozess hat in den 1920er Jahren ohne Zweifel stattgefunden. Wenn aber allein im Jahre 1929 mehr Patienten und Patientinnen wegen Drogenabhän- gigkeit in der Hamburger Anstalt Friedrichsberg aufgenommen wurden als in den zwei Jahrzehnten zwischen 1900 und 1919 insgesamt, so wird man doch – bei al- ler Zurückhaltung in der Interpretation dieser Zahlen8 – gewisse Veränderungen auf der Ebene des Rauschmittelkonsums konstatieren können, die im lokalen Maßstab und im Binnenraum der psychiatrischen Anstalt durchaus als bedenklich und beunruhigend aufgefasst werden konnten. Es sind nicht zuletzt die sich da- raus ergebenden Dynamiken, die in dieser Untersuchung thematisiert werden. Psychopathie – Charakter- und Persönlichkeitsschwächen im Kompetenzbereich der Psychiatrie Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurde in der deutschen Psy- chiatrie der Begriff „psychopathisch“ im reinen Wortsinn für „psychisch krank“ beziehungsweise „psychisch leidend“ benutzt.9 Die erste spezifischere Verwen- dung, und zwar im Sinne eines Oberbegriffs für abnorme Persönlichkeiten, geht 6 Vgl. zur Begriffsbreite der „Drogenwelle“ Jakob Tanner: Rauschgiftgefahr und Revolutions- trauma. Drogenkonsum und Betäubungsmittelgesetz in der Schweiz der 1920er Jahre. In: Sebas- tian Brändli u. a. (Hg.): Schweiz im Wandel. Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte. Basel/ Frankfurt a. M. 1990, S. 397–416, hier: S. 398. 7 Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (= Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit, Bd. 13). Wiesba- den 2012. 8 Die steigenden Patientenzahlen lassen sich zu einem gewissen Teil sicherlich auf administrativ- juristische und versorgungstechnische Änderungen zurückführen. So war einigen Friedrichsberger Patienten vor ihrer Aufnahme in die Anstalt durch das Hamburger Wohlfahrtsamt die Unterstüt- zung verweigert worden, solange sie sich keiner Entziehungskur unterziehen würden. Manche Patienten kamen nach Friedrichsberg, weil sie im Kontext zunehmender Beschaffungsprobleme infolge der Opiumgesetzgebung nur noch den Ausweg einer Entziehungsbehandlung sahen. Die allgemeine Verarmung nach dem Ersten Weltkrieg führte wohl auch dazu, dass Rauschmittelab- hängige nun häufiger in öffentlichen
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