IB. Winter 1944/45: Die Militärverwaltung zwischen politischen und militärischen Erfordernissen 1. Die Militärverwaltung: Organisation, Personal, Ausbildung, Einsatzerfahrungen Organisation und Personal Kaum hatten im Spätsommer 1944 die Operationen in Deutschland begonnen, da sa­ hen sich die Planer und Praktiker der alliierten Militärverwaltung bereits gezwungen, über Nacht von ihren seit eineinhalb Jahren kultivierten Vorstellungen Abschied zu nehmen. Nicht nur, daß mit dem Verdikt Rooseve1ts zum SHAEF-Handbuch für die Militärregierung "die Politik" in die Besatzungsplanung einbrach, die ersten Erfahrun­ gen im deutschen Grenzgebiet im September bestätigten drastisch genug auch Vorah­ nungen, von denen die Offiziere im Alliierten Oberkommando seit dem Vormonat zunehmend mehr geplagt wurden: Die Planung für die Militärverwaltung in Deutsch­ land basierte auf einer falschen Grundannahme. Allen bisherigen Organisationsent­ würfen (vom ersten Planschema des Sommers 1943 mit dem Codenamen "Rankin", Fall C, bis zu dem Memorandum zur Operation "Talisman" vom Sommer 1944) lag, wie schon erwähnt, als Axiom die Vorstellung zugrunde, das Deutsche Reich werde unter dem wachsenden Druck an allen Fronten und unter dem Eindruck des forcier­ ten Bombenkrieges den Kampf einstellen oder zusammenbrechen, ehe die alliierten Invasionsstreitkräfte die deutsche Grenze überschritten. Die geglückte Landung in der Normandie hatte dieser aus dem Jahre 1943 stammenden "Kollaps-Theorie" noch einmal starken Auftrieb gegeben.! Alliierte Truppenkontingente, so die herrschende Lehre und die detaillierten Pläne der SHAEF-Stäbe, nehmen in der ersten Phase der Besetzung nach Kollaps oder Kapitulation der Wehrmacht blitzschnell strategisch wichtige Zentren und Regionen in Deutschland Besitz; unmittelbar darauf wird in ei­ ner zweiten Großoperation ein Netz von Militärregierungs-Detachments über die zum Besatzungsgebiet gehörenden deutschen Länder und Provinzen gebreitet; innerhalb von Tagen, höchstens wenigen Wochen, sind die Detachments in der Lage, ihre Funk­ tion als Aufsichts- und Kontrollorgane (Doktrin der "indirect rule") der weitgehend intakt gebliebenen deutschen Behörden, einschließlich der Ministerien in Berlin, zu übernehmen; nicht nur die Kontrollgebiete der Militärregierung, auch die Dislozie­ rung der Besatzungstruppen, denen die Detachments ja unterstanden, würde exakt den Grenzen der deutschen Länder, Provinzen oder Regierungsbezirke folgen. Die Schwachstelle dieser Planung war unübersehbar. Wenn die Deutschen einen End- I Vgl. 1/5. 206 JII. Winter 1944/45 kampf auf ihrem Territorium riskierten, dann waren die bis ins einzelne ausgearbeite­ ten Pläne ("EcIipse" hieß der letzte dieser Art) obsolet. In der letzten Augustwoche 1944 verdichteten sich angesichts der deutschen Hart­ näckigkeit im Alliierten Oberkommando die Zweifel an der Tragfähigkeit des erarbei­ teten Konzepts sehr schnell zur Befürchtung, der so detailliert vorbereiteten statischen Phase der Militärregierung werde wahrscheinlich eine unabsehbar lange, sich wohl so­ gar bis über die Kapitulation Deutschlands hinaus hinziehende mobile Phase der Mili­ tärverwaltung vorangehen. In dieser "rough-and-tumble period"2, diktierten allein Strategie und Taktik der nach Deutschland hineinstoßenden Kampfverbände den Handlungsrahmen der Militärregierung. Solange HitIer nicht unterworfen war, muß• ten alle Pläne, die mit Verwaltungsgrenzen rechneten oder die Existenz von Länder• ministerien und Obersten Verwaltungsbehörden zugrunde legten, recht wirklichkeits­ fremde Planspielerei bleiben. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß nur die engste Anbindung der Detachments an die Korps und Divisionen der U.S. Army das einzig praktikable und damit auf geraume Zeit das einzig gültige Prinzip der Organi­ sation der Militärverwaltung sein konnte, die amerikanischen Erfahrungen im deut­ schen Grenzgebiet hatten ihn erbracht. Diese Erkenntnis schlug sich in den maßge• benden Befehlen nieder. Während die "Interim Directive" des Alliierten Oberkom­ mandos von Anfang September 1944 noch sehr von dem Gedanken einer regionalen Organisation der Militärregierung geprägt war, hieß es acht Wochen später in der bis zum Sommer 1945 geltenden "Directive for Military Government of Germany" vom 9. November 1944, die alliierte Militärverwaltung werde eines Tages zwar entspre­ chend dem deutschen Verwaltungsaufbau organisiert sein, doch lasse sich dieses Prin­ zip auf absehbare Zeit nicht realisieren: "In den Anfangsstadien des Vordringens in Deutschland werden sich die taktischen Grenzen zwischen den Einheiten nicht mit den Grenzen der zivilen Verwaltung decken, und es wird nicht machbar sein, vollstän• dige Zivilverwaltungseinheiten einzurichten. Die Militärregierung wird daher auf ei­ ner ad-hoc-Basis in Übereinstimmung mit den taktischen Kommandobereichen aus­ geübt werden."3 Für die Angehörigen der Detachments der Militärverwaltung, die jetzt ihre Arbeit im deutschen Grenzgebiet aufnahmen, war der plötzliche Abschied von gewohnten Vorstellungen nicht allzu schmerzhaft. Als sie in die von der Wehrmacht geräumten Städte und Dörfer jenseits des Westwalls eingerückt waren, erblickten sie in der Dok­ trin der "indirekten Herrschaft" und in dem Prinzip des "territorialen Aufbaus" mitt­ lerweile ohnehin nur noch sehr theoretische Lehrsätze, in fernen Planungsgruppen aus irgendwelchen Gründen zu Maximen der Militärverwaltung erhoben. In der Praxis sah es nun so aus, daß die einzelnen Detachments von den Kampfverbänden (weil sie deren Bewegungen mitzuvollziehen hatten) sehr viel enger als geplant geführt werden mußten, daß die vorgesehene Zahl der Detachments nicht ausreichte und daß sich die verantwortlichen Offiziere unmittelbar mit den lokalen Verhältnissen im besetzten Gebiet zu befassen hatten. Mancher übergeordnete Stab hatte noch geraume Zeit da- 1 Vgl. die undatierte Zusammenstellung "SHAEF Poliey for Military Government" der Historieal Division, ETO; NA, RG 332, ETO, Historieal Division, Program File: SHAEF, Planning for the Oecupation. 3 SHAEF, Direetive for Military Government of Germany v. 9. 11. 1944 an die Sixth, Twelfth und Twenty­ first Army Group; NA, RG 331, SHAEF, G-5, Information Braneh, Entry 54, 11.505, G-5 Operations, Ger­ many, Country Unit. Hervorhebung im Original. 1. Die Militärverwaltung 207 mit zu kämpfen, seine Direktiven nun einer Situation anzupassen, in der die Besat­ zungsverwaltung so ganz anders organisiert sein mußte als geplant. Noch Anfang Fe­ bruar 1945 steckten in einem von der 12th Army Group herausgegebenen Befehl zur Ausbildung des Militärregierungspersonals eine Reihe überholter Annahmen. Wenn es beispielsweise hieß, Hauptziel der Ausbildung sei die Formung von Detachments, die in der Lage seien, "die Verwaltung in Deutschland wirksam zu überwachen", wenn genaue Kenntnisse des Befehlsweges zwischen Militärdistrikten und "Military Go­ vernment Regions" gefordert wurden, wenn sogar überholte Dienstvorschriften aus dem Jahre 1943 als Fundament der Tätigkeit der Militärregierung bezeichnet wurden, dann gingen die Anweisungen gründlich an den Gegebenheiten in Deutschland vor­ bei.4 Wo manches im Ungefähren lag, selbst die Stäbe Unsicherheiten zeigten, da empfahl es sich für die Detachments der Militärverwaltung um so mehr, der eigenen Improvisationskunst zu folgen und pragmatisch zu verfahren. Grundsätzlich lag die Gesamtverantwortung für die Angelegenheiten der Zivilbe­ völkerung in den befreiten Ländern (Civii Affairs) und für die Militärverwaltung im besetzten Deutschland (Military Government) - so die genau beachtete terminologi­ sche Unterscheidung - von der Errichtung bis zur Auflösung der Supreme Headquar­ ters, Allied Expeditionary Force (SHAEF), zwischen dem 13. Februar 1944 und dem 14.Juli 1945 also, bei Dwight D. Eisenhower als dem Oberkommandierenden der alli­ ierten Invasionsstreitkräfte. In dem von den Westmächten besetzten deutschen Terri­ torium vereinigte er alle legislativen, exekutiven und judikativen Vollmachten in sei­ ner Hand. Führungsorgan war die G-5 Abteilung seines Generalstabs unter dem briti­ schen Generalleutnant Sir Arthur E. Grasset, einem in Kanada geborenen und erzoge­ nen Berufssoldaten. Im August 1944 arbeiteten in der G-5 Division von SHAEF etwa 350 amerikanische und britische Soldaten, gut 120 davon im Offiziersrang.5 Diese Stabsabteilung beriet Eisenhower in allen wichtigen Fragen und gab die maßgeblichen Direktiven heraus. Sie war zugleich die oberste Kontrollinstanz der Militärverwaltung. Freilich konnte eine effektive Führung der Detachments während der Besetzung nur durch die Übertragung der Vollmachten des Oberkommandos auf die untergeordne­ ten Stäbe gewährleistet werden. In der Generalanweisung über die Militärregierung in Deutschland vom 9. November 1944 delegierte Eisenhower seine Befugnisse deshalb an die Befehlshaber der drei Armeegruppen. Von dort lief der Befehlsstrang über die Armeen und Korps bis hinunter zu den Divisionen. Die Civil Affairs/Military Go­ vernment-Abteilungen der Armeegruppen und Armeen waren ähnlich aufgebaut wie SHAEF, G-5. Der G-5 Stab der Twelfth Army Group im Mittelabschnitt der Front hatte beispielsweise 125 Abteilungen und Unterabteilungen, die sich um so verschie­ dene Dinge zu kümmern hatten wie etwa um "Public Health" oder "Monuments and Fine Arts", um "Prisons" oder "Forestry and Fishery", "Property Control" oder "Edu­ cation and Religious Affairs".6 , Twelfth Army Group, "Training Instructions" für die Militärverwaltung v. 1. 2. 1945; NA, RG 332, ECAD, Military Govemment School, NT. 352.
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