Für die Holocaust-Überlebende Schoschana Rabinovici wurde Israel zur neuen Heimat. Dabei fühlte sie sich anfangs fremd, ein Opfer der Nazis im Land der Helden. „Schau gut hin, vergiss das nicht“ 30 NEUANFANG IM HEILIGEN LAND Von ANKE DÜRR oft das Verb im Satz vor. Jüdisch sein ten 1905 gegründet. Das Geld für die hat für Rabinovici nichts zu tun mit Re - Schule und den Lebensunterhalt ver - el Aviv, Flughafen Ben Gu - ligion. „Ein Jude kann glauben, was er dient die Mutter bei Schoschanas Onkel rion, Passkontrolle vor dem will, oder auch ohne Bekenntnis sein. Wolodja. Er ist bereits seit 1948 in Israel, Rückflug. Die junge Grenz - Ich bin eine Jüdin ohne Bekenntnis.“ hat sich eine Wäschemangel gekauft und beamtin stellt ihre Fragen Auch ihr Mann David ist Jude. Er fährt in ganz Tel Aviv mit seinem Fahr - Tauf Englisch, routiniert, stammt aus einer Mittelstandsfamilie in rad die Wäsche aus. sachlich: Was man in Tel Aviv gemacht Moldau und wanderte 1944 als 17-Jähri - habe. „Ich bin Journalistin, ich habe ein ger ganz allein von Rumänien nach Pa - Schoschana, die nach dem Krieg in Interview mit einer Holocaust-Über - lästina ein; vier Jahre später kämpfte er Polen sehr schnell die verlorenen lebenden geführt.“ Woher man die Dame für Israel im Unabhängigkeitskrieg. Die Schuljahre aufgeholt hat, aber kein Heb - kenne. „Ich habe sie im Theater in Wien beiden sprechen Hebräisch miteinander. räisch kann und auch die Tora nicht gesehen, sie hat dort von ihrem Über - Wenn sie über Politik reden, werden ihre kennt, fühlt sich in Herzlia völlig fehl leben erzählt, zusammen mit anderen Stimmen laut und aufgeregt. Sie sind ve - am Platz. „Es war eine Elite-Schule Nazi-Opfern.“ Ob ich Hebräisch könne. hemente Verfechter einer Zwei-Staaten- mit verwöhnten Kindern. Kinder, die „Nein.“ Wie man sich dann unterhalten Lösung, „seit 60 Jahren sind wir für die schon länger hier gelebt hatten oder habe. „Auf Deutsch.“ Ein kurzer kriti - Teilung“, für einen scher Blick: Wieso die Dame deutsch gleichberechtigten spreche? „Sie hat es im KZ gelernt.“ Staat Palästina ne - Beim Abschied eine Stunde zuvor hat - ben Israel. Und sie te die Dame, um die es geht, gesagt: „Hof - sind empört über fentlich dauert es nicht so lange für Sie das, was ihre Regie - bei der Kontrolle am Flughafen.“ Scho - rung in den besetz - schana Rabinovici, 82, stand an der Tür ten Gebieten tut. ihrer großzügigen, elegant sandfarben Aber sobald ein Au - eingerichteten Wohnung im 21. Stock ei - ßenstehender die nes Hochhauses im Zentrum von Tel Politik Israels kriti - Aviv mit Panoramablick aufs Meer, siert, verteidigen wünschte eine gute Reise und fügte hin - sie ihr Land leiden - zu: „Ich bin froh, dass so gründlich kon - schaftlich. trolliert wird. Es ist nötig, leider.“ Drei Das Land hat es Stockwerke über ihr, auf dem Dach des Schoschana Rabi - Hochhauses, waren im Sommer Solda - novici nicht leicht ten stationiert. Sie sollten die Flugrich - gemacht am An - tung der aus Gaza abgeschossenen Ra - fang. Sie kam 1950 keten bestimmen. als 17-Jährige mit ihrer Mutter von Israel ist die Heimat von Schoscha - Polen über Italien na Rabinovici, seit mehr als 60 Jahren. mit dem Schiff Früher war es Vilnius, Litauen, wo Ra - nach Haifa. Seit - binovici, geboren im November 1932 in dem hat sie ihren Paris, als Tochter einer großbürgerli - hebräischen Na - chen jüdischen Familie aufwuchs. Die men: Schoschana. Stadt gehörte damals zu Polen und hieß Die Eltern hatten Wilna, Ende Juni 1941 wurde sie von den sie Slate oder Lea Deutschen besetzt. Schoschanas Vater nennen wollen. wurde sofort verhaftet. Das Mädchen Aber in dem Pari - und seine Mutter wurden ins Wilnaer ser Krankenhaus, Getto gesperrt. Zwei Jahre überlebten in dem sie geboren sie dort. Dann 17 Monate in den Kon - wurde, weil ihre Rabinovici mit ihren Eltern in Wilna, um 1937 zentrationslagern Kaiserwald und Stutt - Eltern damals in F I A L hof. Und schließlich den mehr als hun - Paris Medizin studierten, fand die Kran - hier geboren waren, deren Eltern Ärzte, / H C dert Kilometer langen Todesmarsch kenschwester auf der Geburtsstation die Lehrer oder Geschäftsleute waren.“ Al - U A R nach Tauentzien. Sie waren, zusammen von der Mutter genannten Vornamen les Sieger. N E B nicht in ihrem Verzeichnis. Sie machte U mit Schoschanas Onkel Wolodja, die Niemand will ihre Geschichte hören, T S O Einzigen aus ihrer gesamten Großfami - daraus Suzanne-Lucienne. Suzanne-Lu - sagt sie, die Geschichte der Opfer. „Es N U R lie, die das KZ überlebten. cienne Weksler, so steht es in der Ge - war die Zeit nach dem Unabhängigkeits - B & S Schoschana Rabinovici, die Jüdin und burtsurkunde. Zu Hause war sie Slatele, krieg, eine Zeit für Helden. Es war keine I O R Israelin, sagt: „Ich bin jüdisch, so wie Susinka oder Suzie. Zeit für uns. Alle Leute waren Helden, N Y L E Sie deutsch sind.“ Ihr kehliger Akzent In Tel Aviv schickt die Mutter Scho - nur wir waren die Schafe, die sich zur V E : S ist vom Polnischen und Jiddischen ge - schana auf das traditionsreiche und vor - Schlachtbank hatten führen lassen.“ O T O F prägt, und wie im Jiddischen zieht sie nehme Gymnasium Herzlia, von Zionis - Aber war nicht auch das Überleben ein SPIEGEL GESCHICHTE 2 | 2015 31 NEUANFANG IM HEILIGEN LAND Schlafpritschen im ehemaligen KZ Stutthof bei Danzig Akt des Widerstandes, eine Heldentat? Erst 1988, da ist die Mutter schon 14 Hartmann und Schoschanas Sohn Do - Wie ihre Mutter sie durch alle Kontrol - Jahre tot, fährt Schoschana Rabinovici ron Rabinovici, Schriftsteller und Histo - len geschmuggelt, sie als Erwachsene zum ersten Mal wieder nach Vilnius und riker, sechs Shoa-Überlebende auf die ausgegeben hat, damit sie eine Chance erkennt an vielen Stellen ihr altes Wilna Bühne geholt haben. hat, eineinhalb Jahre lang? „Nein, das wieder. Sie recherchiert weiter, nach Zwei Szenen aus dem Leben von hat man nicht verstanden.“ und nach erinnert sie sich an immer Schoschana Rabinovici, die im Theater Auch zu Hause wird nicht über die mehr Details. Schließlich schreibt sie geschildert werden, brennen sich beson - Zeit in den Lagern gesprochen. Nur On - ihre Geschichte auf, auf Hebräisch, und ders ins Gedächtnis. Da ist die Geschich - kel Wolodja erwähnt einmal im Jahr, an löst damit ein Versprechen ein, das die te von der „Maline“, einem Versteck un - einem bestimmten Tag im Frühjahr, seine Frauen sich in den Lagern gegenseitig ter einer Gemeinschaftstoilette im Getto. Tochter, die nach der Liquidierung des gaben: Wer von uns überlebt, muss er - Wie sie gebaut wird, unter größtmögli - Gettos mit ihrer Mutter ins Gas geschickt zählen, was gewesen ist. „Schau gut hin, cher Geheimhaltung. Und dann doch wurde. „Heute wäre sie viel zu viele Menschen 13 Jahre alt geworden.“ davorstehen, als es ernst Und im Jahr darauf: Ihr Versteck liegt unter einer wird und das Getto ge - „Heute wäre sie 14 ge - räumt werden soll. Wie worden.“ Aber selbst On - Toilette, es ist stockdunkel. sie durch ein stillgeleg - kel Wolodja schaut lieber tes Abwasserrohr hinun - nach vorn, noch in Polen hat er eine neue vergiss das nicht“, habe man ihr immer tersteigen. Wie sie da unten zusammen - Familie gegründet. wieder gesagt. gepfercht hocken, 180 Menschen, „wie Als sie von der Roten Armee befreit Ihr Buch kommt 1991 heraus, 1994 er - in einem Massengrab“. Wie die Luft wurden, erzählt Schoschana, habe ihre scheint es auf Deutsch. Schonungslos dünn wird. Wie sie das Zeitgefühl ver - Mutter gesagt: „Wir schließen das Tor zur und sachlich erzählt sie ihre Geschichte. lieren. Wie sie draußen Schreie und Vergangenheit. Wir haben unsere Kno - Rabinovici überlebte dank unglaubli - Schüsse hören. Wie der Strom abgestellt chen gerettet, jetzt müssen wir unsere cher Zufälle – und weil ihre Mutter Raja und es stockdunkel wird. Und dann, wie Seele retten.“ Aber wie rettet man seine in den entscheidenden Situationen das ein Baby zu schreien beginnt und die El - Seele?, fragt Schoschana. „Man vergisst Richtige tat. „Dank meiner Mutter“ tern es zu beruhigen versuchen. Wie der alles, man schiebt alles weg.“ Die Tochter heißt das Buch deshalb. Ihre Geschichte Vater ihm schließlich ein Kissen vors Ge - gehorcht, schweigt und schiebt weg, fast wird auch in „Die letzten Zeugen“ er - sicht hält, damit das Baby sie nicht ver - E N I 40 Jahre lang. Sie verdrängt auch, wie real zählt, einer Produktion des Wiener Burg - rät. Wie die Mutter schreit, als sie merkt, L N O 1 ihre nächtlichen Albträume sind. theaters, für die der Regisseur Matthias dass der Vater das Kind erstickt hat. Drei F 32 SPIEGEL GESCHICHTE 2 | 2015 Rabinovicis-Gedicht aus dem KZ, Todesmarsch von Dachau-Häftlingen durch Starnberg, 1945 Tage und vier Nächte ist Schoschana Ra - daten, damit er sie mit seinem Gewehr - im Sommer probten die Jugendlichen in binovici mit ihrer Familie in der Maline kolben nach rechts stößt, möglichst hart Ferienkolonien ein Leben im Kibbuz. gefangen. Aber sie überleben. und brutal, damit es nicht auffällt. Die jüdische Gemeinde in Bialystok, Sie gehören jetzt zu den Letzten, die Diese Geschichten will man im neu die gerade erst wieder entstand, rekru - noch im Getto sind. Im September 1943 gegründeten Israel nicht hören, sagt tierte sich aus Überlebenden, Ver - zerstören es die Nazis endgültig. Die Be - Schoschana Rabinovici. Ihre Vergangen - schleppten, Versteckten aus ganz Osteu - wohner werden auf einen nahen Fried - heit ist nicht von Bedeutung, auch nicht, ropa. Niemand musste hier über seine hof getrieben, zur Selektion. Ein paar jun - als sie 1952 zum Militär einberufen wird. Vergangenheit schweigen. Eine der Leh - ge Leute rufen den Menschen von einer Die erste Zeit ist für sie eine Katastro - rerinnen von Gordonia kannte Schoscha - Mauer herunter zu, dass sie unbedingt phe. „Plötzlich bin ich wieder in einem na schon aus Kaiserwald und Stutthof. auf die rechte Seite gelangen müssen.
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