Auschwitz Und Staatssicherheit

Auschwitz Und Staatssicherheit

Henry Leide Auschwitz und Staatssicherheit Strafverfolgung, Propaganda und Geheimhaltung in der DDR BF informiert 40 (2019) Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Abteilung Kommunikation und Wissen 10106 Berlin [email protected] Die Meinungen, die in dieser Schriftenreihe geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder. Abdruck und publizistische Nutzung sind nur mit Angabe des Verfassers und der Quelle sowie unter Beachtung des Urheberrechtsgesetzes gestattet. Schutzgebühr: 5,00 € Berlin 2021 3., erweiterte und überarbeitete Auflage ISBN 978-3-946572-29-9 Eine PDF-Version dieser Publikation ist unter der folgenden URN kostenlos abrufbar: urn:nbn:de:0292-97839465722990 Inhalt Anstatt eines Vorwortes: Warum Auschwitz und nur Auschwitz? 7 Einleitung 9 Der NS-Judenmord und die DDR 9 NS-Verbrechen als Thema der DDR-Propaganda 27 1. Strafverfolgung von Auschwitz-Tätern 49 1.1 Strafverfolgung durch nichtdeutsche Gerichte 49 1.2 Die Strafverfolgung in der Bundesrepublik Deutschland 63 1.3 Die Strafverfolgung in der DDR 67 1.4 Sonderfall »Waldheimer Prozesse« 74 1.5 Gab es ein »Unsere-Leute-Prinzip«? 83 2. Das MfS und die Verfügungsgewalt über die NS-Akten 95 3. Der Umgang mit Tatverdächtigen 105 4. Verurteilungen von Auschwitz-Tätern 111 4.1 Willkür der sowjetischen Militärjustiz ohne Korrektur: der Fall Ernst Thiele 111 4.2 Der Kapo – das Urteil gegen Alexander Bartell 127 4.3 Der Fall Grönke: im Westen nochmals belangt 133 4.4 Der Fall Paul Barteldt: ein Lebenslänglich, das tatsächlich lebenslänglich war 136 4.5 Schauprozess mit dürftiger Beweislage: das Todesurteil gegen Herbert Fink 138 4.6 Im Schatten des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses – der »klare Fall« Hans Anhalt bleibt geheim 156 4.7 Demonstration von Konsequenz und Härte: der Demonstrations- prozess gegen »den Dirigenten des Todes« Horst Fischer 170 4.8 Ein vorbildlicher Genosse entpuppt sich als Gestapo-Veteran: Wilhelm Lachmann 180 4.9 Der unauffällige Bürger: das Strafverfahren gegen Henry Schmidt 187 5. MfS-Ermittlungen zu Auschwitz-Verstrickten, die im Sande verliefen 209 5.1 Der Fall Herbert B.: DDR-kritische Äußerungen in Briefen wiegen schwerer als die Verwicklung in NS-Verbrechen 209 5.2 Der Fall Sigismund Gimpel: Parteiverfahren statt gründlicher Ermittlungen 213 5.3 Der Fall Erhard Pohl – ein in die Tötungsmaschinerie Verstrickter stolpert über Alkohol am Steuer 218 5.4 In verschiedenen Funktionen langjährig in Auschwitz tätig – Paul Riedel bleibt unbehelligt 225 5.5 Ein dilatorisch behandelter Rechtshilfefall 234 5.6 »Die Beantragung eines Haftbefehls gegen Mengele, Josef wird nicht für opportun gehalten« 244 5.7 Erst Dienst in Auschwitz, dann der Stasi zu Diensten: die Fälle der inoffiziellen Mitarbeiter Settnik, Bielesch und Klakus 262 6. Der Umgang mit missliebigen Überlebenden und Opfern 269 6.1 Die doppelte Verfolgung der Zeugen Jehovas und der Fall Käthe Martin – eine Überlebende im Visier von SED und MfS 270 6.2 Adolf Rögner – ein unbequemes Auschwitz-Opfer 280 Schlussbetrachtung 293 Danksagung 301 Anhang 305 Übersicht über die Auschwitzverfahren in der SBZ/DDR 306 Abkürzungsverzeichnis 312 Literaturverzeichnis 317 Quellenverzeichnis zu den Abbildungen 349 Decknamenregister 351 Ortsregister 352 Personenregister 355 »Die Deutschen betrieben in Auschwitz einen fabrikartig organisierten Riesen- schlachthof, in dem hauptsächlich jüdische Bürger aus Deutschland und dem von den Deutschen besetzten Europa zu Hunderttausenden, ja Millionen syste- matisch beraubt und heimtückisch ermordet wurden, und dies täglich, jahre- lang, am laufenden Band, wie in einem modernen Industrieunternehmen.«1 (Walter Rosenberg alias Rudolf Vrba, Häftling Nr. 44070) »Nach dem Willen des RFSS [Reichsführer SS – Heinrich Himmler] wurde Ausch witz die größte Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zeiten.«2 (Rudolf Höß, 1940–1943 Kommandant in Auschwitz) 1 Rudolf Vrba: Als Kanada in Auschwitz lag. Meine Flucht aus dem Vernichtungs- lager. München 1999, S. 5. 2 Martin Broszat (Hg.): Rudolf Höß. Kommandant in Auschwitz. Autobiographi- sche Aufzeichnungen. München 1979, S. 124. Anstatt eines Vorwortes: Warum Auschwitz und nur Auschwitz? Die vorliegende Studie basiert auf den Recherchen für eine Themenseite auf der Website des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aus Anlass des 50. Jahrestages der Urteilsverkündung im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main am 19./20. August 1965. Die Idee, sich in diesem Zu- sammenhang mit dem Umgang der DDR und speziell ihrer Staatssicherheit mit Auschwitz zu befassen, ging auf den Bundesbeauftragten Roland Jahn persönlich zurück. So wurden im Sommer 2015 grundlegende Darlegungen und erste Rechercheergebnisse zu einigen Fallbeispielen, die den Umgang der DDR mit den in Auschwitz verübten Verbrechen dokumentieren, online gestellt.3 Schnell wurde deutlich, dass die Unterlagen noch weitere Fälle mit Auschwitz-Bezug enthielten, die eine Rekonstruktion lohnenswert erschei- nen ließen. Eine Ausweitung der Untersuchung auf andere Vernichtungs- lager (Belzec, Chelmno/Kulmhof, Majdanek, Sobibor, Treblinka) musste aus arbeitsökonomischen Gründen unterbleiben. Hinzu kommt, dass nach derzeitigem Kenntnisstand in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR, im Unterschied zur Bundes republik,4 lediglich zwei Strafverfahren wegen der in diesen Vernichtungslagern begangenen Tötungsverbrechen geführt wurden. Die Akten des Verfahrens, welches die Verbrechen in Treb- linka zum Gegenstand hatte, sind zudem nicht auffindbar.5 In einem weite- ren Strafprozess vor dem Landge richt Güstrow 1952 wurde ein ehemaliger Schutzpolizist letztendlich zu einer Gesamtstrafe von 14 Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, nachdem das Oberste Gericht das erste, mil- dere Urteil kassiert hatte. Er hatte als Fahrer eines Lkw zahlreiche Insassen des Ghettos Lodz/Litzmannstadt in das Vernichtungslager Chelmno/Kulm- hof transportiert und dort mitgeholfen, sie in Vergasungswagen zu pferchen.6 3 http://www.bstu.bund.de/DE/Presse/Themen/Hintergrund/20150817_ausch witz.html (letzter Zugriff: 24.6.2020). 4 Adalbert Rückerl (Hg.): NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafpro- zesse. München 1977; Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Rein- hardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013, S. 19; Hans-Christian Jasch, Wolf Kaiser: Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen. Ditzingen 2017, S. 68–77 u. 124–138. 5 http://www.expostfacto.nl/junsv/ddr/ddrtato01.html (letzter Zugriff: 24.8.2020). 6 Urteil der 1. Strafkammer des Landgerichts (LG) Güstrow v. 22.6.1952. In: Chris- tiaan Frederik Rüter u. a. (Hg.): DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung 7 In sieben weiteren Prozessen auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone (bzw. ab 1949 DDR) wurden die Beschuldigten auch für ihre Mitwirkung an den Deportationen von Juden in die jeweiligen Vernichtungs- lager als Folge von Denunziationen oder im Zuge von Ghetto-Räumungen zur Verantwortung gezogen.7 Eine umfassende Untersuchung müsste klären, ob die geringe Anzahl entsprechender Urteile dem Mangel an Verdächtigen und Zeugen in Ostdeutschland geschuldet war oder andere Gründe dafür ausschlaggebend gewesen sind.8 Die vorliegende Studie zeigt, wie das MfS – je nach politischer Opportuni- tät – als Geheimpolizei, als Nachrichtendienst oder als strafrechtliches Unter- suchungsorgan fungierte. Ins Blickfeld geraten dabei in der DDR lebende Täter, Tatverdächtige und Überlebende. Die relativ wenigen mit Auschwitz verbundenen Fälle können natürlich keinen repräsentativen Überblick zum Umgang mit NS-Verbrechen in Ostdeutschland insgesamt liefern, gleichwohl werfen sie in sehr unterschiedlichen Kontexten einige ausgesprochen sig- nifikante Schlaglichter auf die betreffende Praxis. Unter anderem bestätigt sich, was Norbert Frei einst in Bezug auf eine »vergleichende Bewältigungs- forschung« beider deutscher Staaten noch als Arbeitshypothese formuliert hatte: »Inmitten von ›zweierlei Bewältigung‹ gab es nicht unbeträchtliche Gemeinsamkeiten und wechselseitige Bezugnahmen.«9 ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Bd. IV. Amsterdam, München 2004, S. 417–431 [Fall Lfd. Nr. 1159 a–c]. Der Verur- teilte wurde 1956 begnadigt und aus der Haft entlassen. Vgl. Schreiben betreffs Gnadenvorschläge der Kanzlei des Präsidenten der DDR an den Generalstaats- anwalt (GStA) der DDR v. 14.6.1956; BStU, MfS, ASt. Ic Nr. 1/74, Bd. 6, Bl. 120. 7 Mitteilung des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München an den Verfasser v. 25.4.2016. 8 Zum Beispiel konnten nur drei Zeugen nach Kriegsende über den Massenmord im Konzentrationslager (KL) Belzec, das als reine »Vernichtungsstätte« gedient hatte, berichten. Siehe Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der National- sozialistischen Konzentrationslager. München 2015, S. 342. 9 Norbert Frei: NS-Vergangenheit unter Ulbricht und Adenauer. Gesichtspunkte einer »vergleichenden Bewältigungsforschung«. In: Jürgen Danyel (Hg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995, S. 125–132, hier 132. 8 Einleitung Der NS-Judenmord und die DDR Rund 1 300 000 Menschen wurden in den Jahren von 1940 bis 1945 in die »Todesfabrik«10 Auschwitz (Oświęcim) in das vom Deutschen Reich annek- tierte Ostoberschlesien deportiert.11 Zum dortigen Lagerkomplex zählten das Stammlager (Auschwitz I), das KL Birkenau (Auschwitz II), welches spätestens

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