Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg GERD BRINKHUS FELIX HEINZER Die Esslinger mittelalterlichen Papierhandschriften Originalbeitrag erschienen in: Esslinger Studien 36 (1997), S. [41]-78 GERD BRINKHUS UND FELIX HEINZER Die Esslinger mittelalterlichen Papierhandschriften 1 DIE MITTELALTERLICHEN PAPIERHANDSCHRIFTEN DER KIRCHENBIBLIOTHEK SANKT DIONYS UND DES STADTARCHIVS Bearbeitet von Felix Heinzer Die Papierhandschriften der Kirchenbibliothek Sankt Dionys »Die Geschichte dieser Bibliothek ist vor allem eine Geschichte ihrer Verluste« — so die pointierte Formulierung von Peter Amelung in seiner Würdigung der Esslinger Kirchen- bibliothek im Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland) Für die Handschriften, auf die sich der vorliegende Beitrag beschränkt, ist Amelungs Diagnose sogar noch zuzuspitzen: Die in der Kirchenbibliothek der evangelischen Stadt- kirche heute noch greifbaren knapp 40 Handschriften sind ein trauriger Rest einer einst- mals wohl durchaus ansehnlichen Sammlung. Die Verluste genauer zu beziffern, ist nicht leicht, zumal detaillierte Verzeichnisse aus mittelalterlicher Zeit fehlen. Einen Anhaltspunkt liefert freilich eine in diesem Zusammenhang oft zitierte Nach- richt aus dem 17. Jahrhundert: 1631 beschloß der Esslinger Rat, die vorreformatorischen Pergamentcodices der 1555 konstituierten zentrale Stadt-, Kirchen- und Schulbibliothek — im wesentlichen stammten diese Handschrif- ten aus den aufgehobenen Klöstern sowie der Pfarrkirche der Stadt — zugunsten »nützli- cherer« Bücher zu veräußern2; ein Jahr danach wurden insgesamt 5 Zentner Pergament- handschriften an einen Buchbinder als Makulatur verkauft. 3 Diese Gewichtsangabe er- laubt wenigstens eine ganz grobe zahlenmäßige Schätzung: Geht man aus von einem durchschnittlichen Gewicht von 1 kg pro Handschrift, käme man auf rund 250 Codices; 1 P. AMELUNG, Esslingen (Neckar) 2: Kirchenbibliothek der Evangelischen Stadtkirche St. Dio- nys. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd 7: Baden-Württemberg und Saarland A—H, Hildesheim 1994, S. 89-91. Vgl. auch 0. BORST, Buch und Presse in Esslingen am Neckar. (Esslinger Studien. Schriftenreihe 4), Esslingen 1975, bes. S. 192-212. 2 Laut Ratsprotokoll vom 3. September 1631 sollen »alte papistische pergamentine und geschrie- bene unnuze büecher« ausgesondert werden. Vgl. dazu 0. MAYER, Die ältesten Druckschriften der einstigen Eßlinger Stadt-, Kirche- und Schulbibliothek. Neue Beiträge zur Geschichte des geistigen Lebens in der Freien Reichsstadt Esslingen vor der Reformation der Stadt. In: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N.F. 32 (1925/26), S. 188-237 und 33 (1927), S. 167-207, hier 32 (1925/26), S. 189f. Bei. BORST (wie Anm. 1), S. 196, und AMELUNG (wie Anm. 1), S. 90, steht in diesem Zusammenhang (infolge eines Zahlendrehers?) 1613 statt 1631. 3 AMELUNG (wie Anm. 1), S. 90. — MAYER (wie Anm. 2), S. 190, mißversteht das Adjektiv »perga- mentine« (für pergamenten also aus Pergament bestehend bzw. auf Pergament geschrieben) im Rats- protokoll als Substantiv und kreiert daher den als Umschreibung für Handschriften aufgefaßten Begriff »alte papistische Pergamentine«. 42 GERD BRINKHUS UND FELIX HEINZER nimmt man an, daß vor dem Wiegen die schweren, für den Buchbinder überflüssigen Holzdeckel der Einbände entfernt wurden, so wäre diese Zahl sicherlich noch zu er- höhen. Dazu kommen die von dieser Aktion offenbar nicht betroffenen Papiercodices. Die von Otto Borst genannte Zahl von »mehr als 1300 Handschriften«, die um 1550 in der Bibliothek vorhanden gewesen sein sollen'', erscheint im Vergleich zu dieser Schät- zung allerdings zu hoch gegriffen. Ein weiterer Verlust war im späten 19. Jahrhundert zu verzeichnen: 1872 wurden 17 Handschriften zusammen mit gut 60 Drucken an die Universitätsbibliothek Tübingen abgegeben.' Die in Esslingen verbliebenen Überreste sind bisher trotz der Publikation von Otto Mayer zu Beginn dieses Jahrhunderts' von der Forschung kaum wahrgenommen wor- den,' und es erscheint daher durchaus sinnvoll, diesen Bestand ungeachtet seines trüm- merartigen Charakters wenigstens in Form eines Kurzkatalogs vorzustellen.' Angesichts der generell sehr schlechten Uberlieferungslage der Handschriftenbestände aus mittelal- terlichen Bibliotheken des altwürttembergischen Raums muß jede auch noch so frag- mentarische Information grundsätzlich als Gewinn gewertet werden. Da die nach Tübin- gen gelangten Stücke jetzt ebenfalls katalogisiert worden sind (der entsprechende Band des Tübinger Handschriftenkatalogs befindet sich derzeit in der Phase der Druckle- gung)9, ergibt sich außerdem erstmals die Möglichkeit, den erhaltenen Bestand als Ganzen zu dokumentieren (einige weitere, heute im Stadtarchiv Esslingen befindliche Reste werden in einem Anhang zum nachstehenden Katalog kurz vorgestellt). Im übri- gen ist nicht zu übersehen, daß Mayers verdienstvolle Präsentation angesichts der zwi- schenzeitlich erreichten Fortschritte der Kodikologie und der mediävistischen For- schung insgesamt dringend nach einem »aggiornamento« verlangt. Es ist klar, daß dieses Verzeichnis zur Rekonstruktion des ursprünglichen Bestands kaum Anhaltspunkte zu liefern vermag. Dazu sind die Mengenverhältnisse zwischen Er- haltenem und Verlorenem zu ungleich. Daß der im 17. Jahrhundert zerstreute Bestand die in kirchlichen Büchersammlungen des (späten) Mittelalters, insbesondere in Biblio- theken von Bettelordensklöstern, grundsätzlich zu erwartenden Akzente und Schwer- punkte aufgewiesen haben dürfte, versteht sich von selbst; alles andere bleibt spekulativ. 4 BORST (wie Anm. 1), S. 193. Worauf sich diese Angabe stützt, bleibt unklar. 5 MAYER, Druckschriften (wie Anm. 2) 1925/26, S. 189. S. auch MENZLL-RLUTERS (wie Anm. 9), Einleitung (Kapitel 2.5.). 6 0. MAYER: Geistiges Leben der Reichsstadt Eßlingen vor der Reformation der Stadt. In: Würt- tembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N.F. 9 (1900), S. 1-32 und 311-367. 7 Bezeichnenderweise nimmt etwa das große Überblickswerk von S. KRAMLR, Handschriftenerbe des Deutschen Mittelalters. (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Erg.-Bd. 1), München 1989-1990, von den Handschriftenbestand der Esslinger Stadtkirche über- haupt keine Notiz. Auch W. IRTENKAUF, Ein Esslinger Franziskaner-Kalendar aus dem 15. Jahrhun- dert. In: Esslinger Studien 5 (1959), S. 7-15, scheint von der Existenz dieses Restbestands nichts ge- wußt zu haben, wie seine einleitende Bemerkung — »Wer sich einmal der Mühe unterzogen hat, Ess- linger Handschriften des Mittelalters zu suchen, der wird meist resignierend sich ein negatives Ergebnis eingestehen müssen« (S. 7) — erkennen läßt. 8 Den Anstoß dazu bot die Erfassung der jetzt in den Südwestdeutschen Verbundkatalog einge- brachten gedruckten Bestände der Esslinger Bibliothek an der Bibliothek des Oberkirchenrats in Stuttgart. Das vorliegende Handschriftenverzeichnis versteht sich als Komplement zu dieser Kata- logisierung. 9 A. MENTZEL-REUTERS, Die lateinischen Handschriften der Universitätsbibliothek Tübingen 2 (im Druck). Für die Möglichkeit einer Einsichtnahme in das Manuskripts danke ich Herrn Kollegen Dr. Gerd Brinkhus (Universitätsbibliothek Tübingen) herzlich. Zitiert wird der Katalog im folgen- den noch ohne Angabe von Seitenzahlen. DIE ESSLINGER MITTELALTERLICHEN PAPIERHANDSCHRIFTEN 43 Einige Schlaglichter auf das »geistige Leben der Reichsstadt vor der Reformation« (um noch einmal Otto Mayers Formulierung aufzunehmen) und nicht zuletzt einige neue Akzente und Farbtupfer für die Personen- und Institutionengeschichte des spätmitelal- terlichen Esslingen sind dennoch zu erwarten. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Esslinger Klosterbibliotheken, von denen wir annehmen dürfen, daß sie zumindest mit Teilen ihrer alten Bestände in der nach der Reformation errichteten zentralen Bibliothek vertreten waren. Die Ausbeute ist freilich fast durchweg sehr gering. Das Dominikanerkloster, das sicherlich über eine ansehnliche Bibliothek verfügte, ist hier lediglich mit drei Bänden (Hs. 20, 37 und 39) vertreten, wobei die ersten beiden im. übrigen nicht einmal mit letzter Sicherheit zuzuordnen sind; dazu kommt noch die Tü- binger Handschrift Mc 334, die auf den oben erwähnten Verkauf von 1872 zurückgehtl°, sowie möglicherweise die Handschrift 35 und die Handschrift F 12 des Esslinger Stadtar- chivs (s. Anhang). Für die Bibliothek der Augustiner-Eremiten liegen ebenfalls keine durch explizite Einträge gesicherte Handschriften vor, was insofern bedauerlich ist, als wir gerade zu dieser Bibliothek ein interessantes zeitgenössisches Zeugnis besitzen, näm- lich die im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv erhaltene Urkunde über das Legat des aus Cannstatt stammenden, in Paris zum Magister Artium promovierten, später auch in Tü- bingen immatrikulierten Johannes Bräcklin, der bei seinem Eintritt als Novize dem Ess- linger Konvent im Dezember 1488 als Ausdruck seines Willens, sich »von der wellt und irem gewerb zu keren«, seine liegenden und fahrenden Güter, darunter an die 80 Bücher, anscheinend überwiegend Handschriften, vermacht hat. 11 Wenigstens ein paar Splitter davon können — wenn auch nur mit dem Anspruch einer gewissen Wahrscheinlichkeit — jetzt doch noch namhaft gemacht werden. Das sind zunächst die beiden Tübinger Hand- schriften Mc 329 und Mc 332, die trotz der von Mentzel-Reuters in seiner Einleitung geäußerten Skepsis in diesen Kontext gehören könnten: Mc 329 mit der Postilla super epistolas dominicales des ebenfalls dem Orden der Augustinereremiten angehörenden Simon
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