Chronik UNIKATE 10/Korr

Chronik UNIKATE 10/Korr

92 ESSENER UNIKATE 10/1998 93 Seit den ersten Legendenberichten von Jacob von Voragine, dem Erzbischof von Genua, der bereits im 13. Jahrhundert von der Verpflanzung eines Beines durch die Heiligen Cosmas und Damian berichtete, bewegte der Gedanke an die Möglichkeit einer Transplantation das christliche Abendland immer wieder. Lange blieben diese Vorstellungen im Bereich von Mythen und Utopien, bis die Medizin und die mit ihr verbundenen Wissenschaften seit Anfang dieses Jahrhunderts die Utopie Stück für Stück Realität werden ließen. Die Entwicklung der modernen Transplantationsmedizin Eine Chronik Zusammengestellt von Norbert Weigend und Hans-Reinhard Zerkowski* technik scheitern Jaboulays Versu- 1900 che ebenso wie die experimentellen In Wien entdeckt Karl Landsteiner Transplantationen Ernst Ungers um das erste menschliche Blutgruppen- 1909 am Rudolf-Virchow-Kranken- system (A-B-0) und ermöglicht da- haus in Berlin. mit Bluttransfusionen, eine erste Form der Organ-Transplantation. 1908 Alexis Carrel, 1904 in die USA nach 1902 Chicago ausgewandert und seit 1906 Am 7. März 1902 berichtet Privat- am Rockefeller Institute in New dozent Dr. Emerich Ullmann in der York, perfektioniert zusammen mit Sitzung der Wiener Ärztegesell- Charles-Claude Guthrie die Gefäß- schaft von einer ersten technisch Der erste Bericht über eine experimentelle Nierentransplantation, die Emerich gelungenen Nie- Ullmann am 7. März 1902 durchführte rentransplantation an einem Hund. gen notiert er: „Heute eine chirur- Im selben Jahr gisch-technische Kuriosität, könnten beschreibt auch Transplantationen ... eines Tages Alexis Carrel in praktisches Interesse haben.“ Emerich Ullmann der französischen Fachpublikation „Lyon Médical“ 1906 Die Verbindung von Blutgefäßen nach einer ein vergleichbares Experiment. Als Zeichnung von A. Carrel, 1902 erster Chirurg verbindet er Blutge- Mathieu Jaboulay, Carrels Lehrer fäße mit feiner Seide durch eine ein- am Krankenhaus Hôtel-Dieu in naht. Auch auf dem Gebiet der Or- reihig fortlaufende Naht. Bereits zu Lyon, berichtet im „Lyon Médical“ gankonservierung leisten sie Pionier- diesem Zeitpunkt dürfte er die Trag- von zwei Nierentransplantationen arbeit: Sie entdecken, daß durch eine weite seiner Gefäßnahtversuche ge- vom Tier auf den Menschen. Trotz künstliche Unterkühlung der Orga- Cosmas und Damian. Schwäbisches Altarbild um 1500 ahnt haben; in seinen Aufzeichnun- der sich entwickelnden Operations- ne der Stoffwechsel vermindert wer- 94 ESSENER UNIKATE 10/1998 95 Alexis Carrel (m.) den kann (Hypothermie) und sie hemmenden Stoff Heparin. Damit Verhalten von Antigenen bei Tu- Transplantate anderer Tiere jedoch bei einer Fallbe- sprechung im damit länger zu konservieren sind. ist das Problem der Blutgerinnung, mortransplantaten die Basis für die wiederum in der ursprünglich beob- Hôpital Broca, Darüber hinaus untersuchen sie die das bei Kontakt von Blut mit Kör- spätere Ent- achteten Frist eine Abstoßung auslö- Paris 1913 biochemischen Bedingungen der peroberflächen, Fremdmaterial und deckung von be- sen (second set phenomenon). Die- Funktion von Transplantaten im bei jeder Form der „Umleitung“ des sonderen Trans- ser Befund läßt sich nur durch eine Empfängerkörper. Eine autologe, Blutstromes auftritt – später etwa plantatantigenen – Immunisierung des Transplantat- also mit Eigenorganen vorgenom- bei einer künstlichen Niere oder und damit eine der empfängers gegenüber einem indivi- mene Nierentransplantation an einer Herz-Lungen-Maschine – ersten wesentli- duellen Transplantat erklären. Mit einem Hund wird ein erster lang- prinzipiell gelöst. chen Vorausset- diesen Versuchen zur aktiven Im- fristiger Erfolg: Das Tier überlebt zungen für den munisierung und zum immunologi- mehrere Jahre. Alle Versuche von Peter Gorer Nachweis der im- schen Gedächtnis ist der Nachweis 1916 Homo- und Heterotransplantatio- munologischen Natur der Abstos- der immunologischen Natur der nen an Tieren scheitern jedoch wei- Während des ersten Weltkriegs un- sungsreaktion und für die Entwick- Abstoßung geführt. terhin an der kurz nach der Trans- tersucht Ludwig Hektoen in Chica- lung von Gewebeverträglichkeits- plantation einsetzenden Absto- go die Auswirkungen von Senfgas tests. 1943 ßungsreaktion, was Carrel 1909 zur auf das Zellsystem und auf die Er- Im Rahmen eines Experiments Annahme eines „unbekannten Mo- zeugung von Antikörpern (Stick- setzt John H. Gibbon zum ersten Nachdem mit dem Heparin eine che- ments“ bei Transplantationen zwi- stoff-Lost). Er kann zeigen, daß Mal experimentell ein Modell der mische Substanz bekannt ist, die die schen genetisch unterschiedlichen Senfgas die Bildung von Antikör- von ihm seit 1934 Blutgerinnung ver- Individuen veranlaßt. pern gegen eine bestimmte Art von entwickelten hindert, entwickelt Medawars klassisches Blutzellen verzögert. Daß mit diesen Herz-Lungen-Ma- Willem Kolff in Experiment bewies, Experimenten bereits ein Ansatz zur schine klinisch ein. den Niederlanden daß transplantierte 1912 Haut und injizierte chemischen Beeinflussung von im- A. Schretzen- mit Hilfe von Leukocyten die gleiche Auswirkung auf die Der Pathologe Görge Schöne äußert munologischen Prozessen entdeckt mayr versucht, Zellophanröhren Annahme eines als erster die Vermutung, daß die ist, wird noch nicht erkannt. Patienten mit An- die erste funktions- zweiten Transplantats haben (second set Abstoßung von Transplantaten ämie durch intra- fähige künstliche John H. Gibbon Willem Kolff phenomenon) nicht auf eine Unverträglichkeit muskuläre Injek- Niere (Membran- 1930 zurückgeht, wie es die „Blutgrup- tionen von Knochenmark zu behan- technik). Am 17. März behandelt er pentheorie“ Landsteiners nahelegt, Karl Landsteiner erhält den Nobel- deln – ein erster Schritt hin zur Kno- mit ihr erstmalig eine Patientin. sondern auf einen Immunprozeß: preis für Medizin und Physiologie chenmarktransplantation. Fremde Eiweißstoffe wirken im für die Entdeckung der Blutgruppen. 1946 Körper als Antigen, das die Bildung 1939 von spezifischen Antikörpern pro- Nach Kriegsende beschreibt Kolff 1933 voziert. Sie stoßen die Immunreak- E. Osgood berichtet über eine intra- seine Arbeiten zur Konstruktion tion an. Diese Schutzfunktion des Am 3. April versucht der Russe Y. Y. venöse Gabe von Knochenmark bei einer künstlichen Niere in interna- Organismus richtet sich normaler- Voronoy in Kiew (Ukraine) erstma- Patienten mit aplastischer Anämie. tionalen Fachzeitschriften. weise gegen ein Eindringen von lig, eine Nierentransplantation bei Peter B. Medawar zeigt bei der Bakterien und Viren, ebenso jedoch einem Menschen mit einem Fremd- Weiterführung seiner Forschungs- 1942 auch gegen verpflanzte Organe. Am transplantat, also mit dem Organ arbeiten, daß ein Organismus gegen Rockefeller Center in New York eines genetisch nicht mit dem Patien- Peter B. Medawar und Thomas Gib- ein späteres Transplantat bereits Die ersten, von Willem kommt J. B. Murphy bei der Unter- ten übereinstimmenden Spenders son, Oxford und Glasgow, werden über die Injektion von weißen Blut- Kolff 1944 erfunde- nen, nach einem Rota- suchung von Hauttransplantaten zu (allogene Transplantation), durchzu- von der englischen Regierung damit körperchen (Leukozyten) sensibili- tionsprinzip arbeiten- ähnlichen Ergebnissen und beobach- führen. Die Empfängerin überlebt beauftragt, neue Hautverpflanzungs- siert werden kann. Zusammen mit den künstlichen Nieren tet bereits das Fehlen einer Absto- vier Tage. In seinen experimentellen methoden zur Behandlung von den Arbeiten von Peter Gorer schaf- ßungsreaktion im Embryonalstadi- Studien kommt Voronoy zu dem Brandwunden zu fen diese Versuchsreihen die Grund- um sowie ihre Abschwächung unter Ergebnis, daß „Abstoßung“ als ein erproben. Sie wei- lage für die spätere Entwicklung der dem Einfluß von Röntgenstrahlen. „immunologisches Ereignis“ sen nach, daß bei Gewebeverträglichkeitstests. Carrel erhält den Nobelpreis für betrachtet werden muß. Empfängertieren, Medizin. die mehrfach von 1947 ein und demselben 1937 Spendertier Trans- Georg W. Thorn, Carl Walter und 1915 Peter Gorer, im Guys Hospital, plantate erhalten John P. Merrill laden Willem Kolff Der Physiologe William H. Howell London, auf dem Gebiet der Krebs- Sir Peter Medawar haben, die jeweils zu einem Besuch nach Boston ein. und sein Student Jay McLean isolie- grundlagenforschung tätig, schafft später verpflanzten Gewebeteile be- Die sogenannte „Harvard-Gruppe“ ren in Baltimore den gerinnungs- mit seinen Untersuchungen zum schleunigt abgestoßen werden; die entwickelt aus der Kolff-Niere am 96 ESSENER UNIKATE 10/1998 97 Rupert Billingham (l.) Peter-Bent-Brigham-Hospital bis Strahlentod durch die Abschirmung nach fünf Wochen zum Tod des Pa- Im Mai führt John H. Gibbon in und Leslie Brent (r.) im Labor 1950 ein serienreifes Modell – die der Milz geschützt werden können, tienten. Drei Wochen nach dieser Boston die erste Herzoperation mit Kolff-Brigham-Drehniere. Im sel- ein weiterer Schritt hin zur erfolgrei- Operation transplantieren auch seiner in 16 Jahren entwickelten ben Jahr transplantieren David chen Knochenmarktransplantation. David M. Hume, Herz-Lungen-Maschine durch. M. Hume, Ernest Landsteiner und Ernest Landsteiner Charles Hufnagel an diesem Hospi- und Charles Huf- 1950 1954 tal einer Patientin für kurze Zeit nagel am Peter- eine Niere. Sie wird nach Wieder- „Wie eine Bombe“ schlägt ein Be- Bent-Brigham- Avrion Mitchison aus der Gruppe einsetzen der Nierenfunktion der richt aus Chicago in der „scientific Hospital eine Nie- um Peter Medawar am University Patientin wieder entfernt. community“ der

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