Die Genealogie der synthetischen Werkidee Zur Kulturgeschichte des Gesamtkunstwerks von der Renaissance bis zur Romantik Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät für Philologie der RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM Vorgelegt von Peter Machauer Diese Studie wurde als Inaugural-Dissertation von der Fakultät für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum angenommen. Gedruckt mit der Genehmingung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum Referent: Prof. Dr. Guido Hiß Koreferentin: Prof. Dr. Monika Woitas Tag der mündlichen Prüfung: 15. Juli 2009 2 INHALT 1 Einleitung 5 Schwerpunkte der Arbeit 5 Retrospektive auf einen disparaten Forschungsstand 6 Begriff des Gesamtkunstwerks 13 Dissoziative Krisenszenarien und ihre synthetischen Reflexe 16 Historische Orientierung und Untersuchungszeitraum 19 Formalia 20 Vorgeschichte des Gesamtkunstwerks 22 Präromantische Synthesetendenzen in der Renaissance 22 Renaissance und Romantik 22 Synthetische Strukturen in Renaissance und Manierismus 29 Barocke Gesamtkunsttendenzen 33 Synthetische Repräsentation 33 Integrale Entwürfe in Kunst und Architektur 35 Synthesetendenzen in Musik, Theater und Wissenschaft 37 Synthetische Ursprungsformen im Musiktheater 45 Erste Ansätze synthetischer Gestaltungen 45 Der Zusammenklang von Sprache und Musik 48 Das Musiktheater und die antike Tragödie 50 Ursprungsmythen 53 Erste musikdramatische Überwältigungsstrategien 59 Die Geburt der Oper um 1600 59 Die Bedeutung der Musik im frühen musikalischen Drama 62 Synthetische Variationen 64 Synthese von Musik und Drama in Monteverdis Spätwerk 65 Dissoziation der synthetischen Ursprungsformen 68 1 Synthesen im Musiktheater des 18. Jahrhunderts 71 Barocke Dialektik von Oper und Musikdrama 71 Synthetische Aspekte der Opera seria 73 Opernrepräsentation: Tragédie lyrique und Opéra ballet 76 Das Musiktheater Georg Friedrich Händels 81 Händels reformierte Opera seria 81 Händels Musical drama 82 Synthetische Opernprogramme der Vorromantik 88 Präromantische Operntheorien der Encyclopédie 88 Die synthetische Opernreform Glucks und Calzabigis 91 Synthetische Aspekte der Wiener Klassik 97 Mozart und die romantische Rezeption 97 Mozarts Opernpoetologie 101 Beethoven und das Musikdrama 103 Ästhetische Prämissen des Gesamtkunstwerks 110 Wertewandel und Dissoziationsdiagnosen 110 Historische Zergliederungsszenarien 110 Dissoziationsbefunde im frühen 19. Jahrhundert 114 Weltverlorenheit und Subjektdissoziation 117 Ideengeschichtlicher Vorlauf ganzheitlicher Tendenzen 125 Ästhetische Synthesepositionen der literarischen Klassik 125 Synthesen in der klassischen Musik- und Theaterauffassung 129 Die Utopie vom Ganzen und Gesamten 138 Das Denken in ganzheitlichen Kategorien um 1800 138 2 Philosophische Ganzheitskonstrukte 140 Gesamteuropäische Synthesetendenzen 145 Die romantische Theorie des Gesamtkunstwerks 148 Romantische Variationen ganzheitlicher Entwürfe 148 Synthetische Spielarten des Romantischen 148 Synthetische Landschafts- und Stadtkonzepte 152 Romantische Vernetzungen zwischen den Künsten 157 Poetologie der synthetischen Werkauffassung 163 Auflösung der Gattungspoetik und Entgrenzung der Form 163 Die romantische Ironie 165 Entwicklung, Diskontinuität, Zufall und Chaos 166 Fragment 168 Improvisation 172 Synthetische Programmdiskussionen 176 Philosophie des romantischen Gesamtkunstwerks 176 Romantische Universalität 180 Die Synthese der Kunstgattungen 183 Der Gesamtkünstler 186 Gesamtkunst und Gesamtkünstlertum 186 Der Gesamtkünstler im Musiktheater 188 Unendlichkeitskonzeptionen 194 Dialektik von Unendlichkeit und Begrenzung 194 Raum und Zeit 196 Synästhesie 200 Terminologische und physiologische Betrachtungen 200 3 Präfigurationen synästhetischer Wahrnehmungen 201 Romantische Synästhesie 204 Synthetische Formen in der Literatur 212 Märchen 212 Mythopoetische Systeme 215 Synthese von Kunst und Religion 222 Philosophie einer Sakralisierung der Kunst 222 Ästhetische Kirche und Kunstreligion 224 Sakrale Wirkungsästhetik 229 Romantische Innenwelten 232 Perspektivische Erweiterung des Blickwinkels 232 Irrationalität 234 Romantische Musikästhetik 239 Mediale Phantasie 242 Kommunikationsbrüche und Vermittlungsdifferenzen 244 Medialer Wandel nach 1800 247 Ausblick 251 Literatur 253 4 Einleitung Schwerpunkte der Arbeit Diese Studie widmet sich der Kulturgeschichte des Gesamtkunstwerks sowohl mit Blick auf theoretische und programmatische Entwürfe als auch hinsichtlich auf seine Realisie- rung im Musiktheater. Untersucht wird die Entwicklung synthetischer Formationen in ihren epochenspezifischen Bezügen von der Renaissance bis zur Romantik. Fluchtpunkt der hier entworfenen historischen Linie ist die Weiterentwicklung der synthetischen Werkidee im Kontext der romantischen Hoffnung auf die ästhetische Wiedergewinnung einer qua Aufklärung und Rationalisierung zerbrochenen Welteinheit. Erste Erscheinungsformen integrativer Konzepte lassen sich bereits in der Kultur der Renaissance ausmachen. Aus kunsthistorischer sowie wissenschaftstheoretischer Perspektive tradieren sich synthetische Entwürfe weiter in die repräsentative Inszenie- rungskultur von Barock und Rokoko. Ideengeschichtlich angedeutet wird der Gedanke einer Synthese der Künste in den ästhetischen Reflexionen der literarischen und philo- sophischen Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Daran schließt die Kunstbetrachtung des deutschen Idealismus sowie der deutschen Frühromantik an, die eine weitreichende Theorie sowie einen korrespondierenden künstlerischen Zugang zu einer integrativen Ästhetik erarbeitet. Mit der Romantik erreicht die Entwicklungsgeschichte des Denkens in ganzheitlichen Kategorien einen ersten Höhepunkt. Die Vision einer gesamtkünstleri- schen Rezentrierung der Welt intendiert auch eine soziale Utopie. Die mit dem syntheti- schen Kunstwerk verbundene universelle Hoffnung auf Sinnsetzung vermag das Ge- samtkunstwerk in der Kunst- und Kulturgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein fort- zuschreiben u.a. als Programm der Substitution der Religion durch Kunst. War die ganzheitliche Ästhetik im Zeichen der romantischen Utopie und in der Gestalt des romantischen Musikdramas ein Novum, so lässt sich die Linie zumindest formgeschichtlich bis zur Entstehungszeit der Oper um 1600 zurück verfolgen. Schon die ersten bedeutenden Opernreformen reagieren auf die formalen Ausdifferenzierungen der Gattung. Mit der großen Opernreform Glucks und Calzabigis Mitte des 18. Jahrhun- derts beginnt sich in der Oper alles zum Dramatischen, zum Drama hinzudrängen und damit zu einem ganzheitlichen Wirkungsanspruch. Erste Versuche einer Totalisierung von Einzelelementen zu einem übergeordneten Ganzen bringen unzählige Spielarten hervor: gegenreformatorische Großveranstaltungen, die fürstliche Installation frühbaro- cker Wunderkammern, deren Ergänzung im Jahrmarktspektakel1, die minutiös ausba- lancierte Inszenierung von Fürstenfesten oder Revolutionsfeiern, die enzyklopädische 1 Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München 2002. S. 95f. 5 Dokumentation und Inventarisierung von Wissensbeständen, die Reformoper des 18. Jahrhunderts, das romantische Musikdrama sowie das Bühnenweihfestspiel Richard Wagners. Das Zentrum dieser Genealogie bildet die romantische Synthesetheorie und, dar- aus resultierend, das deutsche romantische Musikdrama. Dieser operngeschichtliche Sonderweg markiert nichts weniger als „die epochale Verschiebung des Theaterbegriffs vom Dramatischen zum Integralen“2 und erscheint als die theoretisch evidente und zu- gleich historisch konsequente Erfüllung des frühromantischen bzw. idealphilosophi- schen Syntheseprojekts. Die Bühne des romantischen Musiktheaters wird zum exempla- rischen Ort einer Synthese der Künste und ermöglicht dem ästhetisch progressivsten Re- formprogramm des 19. Jahrhunderts eine materielle Projektionsfolie. Das musikdrama- tische Gesamtkunstwerk erzeugt die Illusion einer integralen Ganzheit, die den rituellen Verführungszauber des Gottesdienstes genauso aufgreift wie eine sozialutopische Sinn- stiftung. Diese Bezugnahme romantischer Musikdramatiker auf eine in unterschiedli- chen Gattungen artikulierte synthetische Theorie bleibt jedoch nicht auf das romantische Musikdrama im deutschsprachigen Raum beschränkt. Romantische Synthesetendenzen sind auch innerhalb der zeitlich parallelen französischen Grand Opéra und dem italieni- schen Opernmelodrama nachzuweisen. Retrospektive auf einen disparaten Forschungsstand Schon vor der Wende ins 20. Jahrhundert begann im Zuge der enormen Rezeptionsge- schichte des Wagnerschen Musikdramas auch die Forschungsgeschichte der syntheti- schen Werkidee. Aus der Perspektive einer gleichberechtigten Alleinheit der Künste in einem übergeordneten Kunstwerk objektiviert sich die Synthese der Künste einerseits als Produktionsmodus, andererseits als ein Stilgebilde, aber auch als Phänomen einer spezifischen Geistes- und Rezeptionshaltung. Schließlich bleibt die Idee einer integralen Vereinigung der Einzelkünste keineswegs auf Theater, Oper und Musikdrama be- schränkt. So spricht beispielsweise der Kunsthistoriker Werner Hofmann in Die Grund- lagen der modernen Kunst (1987) vom barocken Gesamtkunstwerk, aber auch vom sak- ralen Gesamtkunstwerk der gotischen Kathedrale.3 Der Musikwissenschaftler Ottokar Hostinský stellt das Gesamtkunstwerk in seiner Abhandlung Das Musikalisch-Schöne und das Gesamtkunstwerk (1877) in den ideengeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhun- derts.4 Andere Arbeiten der Epoche legen den Forschungsschwerpunkt auf die Betrach-
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