Abschied von der Kohle Struktur- und Kulturwandel im Ruhrgebiet und in der Lausitz AUS POLITIKAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTEUND ZEITGESCHICHTE Abschied von der Kohle Schriftenreihe Band 10751 Abschied von der Kohle Struktur- und Kulturwandel im Ruhrgebiet und in der Lausitz Bonn 2021 © Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Redaktion APuZ: Anne-Sophie Friedel, Julia Günther, Sascha Kneip, Johannes Piepenbrink, Anne Seibring (verantwortlich für diese Edition), Robin Siebert Die Veröffentlichungen in »Aus Politik und Zeitgeschichte« sind kei ne Meinungs- äußerungen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autorinnen und Au toren die Verantwortung. Beachten Sie bitte auch das weitere Print-, Online-und Veranstaltungsangebot der bpb, das weiterfüh- rende, er gänzende und kontroverse Standpunkte zum Thema bereithält. Umschlaggestaltung: Michael Rechl, Kassel Umschlagfoto: picture alliance/dpa | Marcel Kusch. Das Bild zeigt Kauenkörbe, in denen die Bergleute ihre Habseligkeiten verstauen konnten. Satzherstellung: Naumilkat, Düsseldorf Druck: Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main Die Texte dieser Ausgabe stehen unter einer Creative Commons Lizenz vom Typ Namensnennung – NichtKommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland. ISBN: 978-3-7425-0751-8 www.bpb.de Inhalt Editorial 9 Vom Zeitalter der Kohle zu Dekarbonisierung und Rekultivierung Franz-Josef Brüggemeier Das Zeitalter der Kohle in Europa, 1750 bis heute 12 Ein Überblick Lutz Raphael Abschied vom Malocher 26 Deindustrialisierung in Westeuropa Dierk Hoffmann Im Hochgeschwindigkeitszug durch den Strukturwandel 46 Deindustrialisierung in Ostdeutschland Jörg Kemmerzell ∙ Michèle Knodt Dekarbonisierung der Energieversorgung 58 Der deutsche Kohleausstieg im europäischen Kontext Martin Baumert · Simon Grosse-Wilde · Ron-David Heinen · Helmut Maier Umweltpolitik, Bergbau und Rekultivierung im deutsch-deutschen Vergleich 74 Das Lausitzer Braunkohlerevier und das Ruhrgebiet (1949 – 1989/2000) Ruhrgebiet Stefan Berger Was ist das Ruhrgebiet? 90 Eine historische Standortbestimmung Juliane Czierpka Der Ruhrbergbau 104 Von der Industrialisierung bis zur Kohlenkrise Delia Bösch Kohle geht, Kultur bleibt 117 Diethelm Blecking Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund 124 Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet Jan Dinter Politischer Strukturwandel? 135 Populismus und soziale Gegensätze im Ruhrgebiet Jörg Bogumil ∙ Rolf G. Heinze Von der Industrieregion zur Wissensregion 149 Strukturwandel im Ruhrgebiet Lausitz Cornelius Pollmer Endspiel in der Lausitz? 166 Stefan Wolle Energie für die Zukunft 173 Das Kombinat »Schwarze Pumpe« und die sozialistische Wohnstadt Hoyerswerda Winfried Müller ∙ Swen Steinberg Region im Wandel 185 Eine kurze Geschichte der Lausitz(en) Astrid Lorenz ∙ Hendrik Träger Die Landtagswahlen 2019 in der Lausitz 200 Ausdruck eines neuen Zentrum-Peripherie-Konflikts? Konrad Gürtler ∙ Victoria Luh ∙ Johannes Staemmler Strukturwandel als Gelegenheit für die Lausitz 215 Warum dem Anfang noch der Zauber fehlt Fabian Jacobs ∙ Mĕto Nowak Mehrwerte schaffen 230 Wie der Strukturwandel in der Lausitz von der sorbisch-deutschen Mehrsprachigkeit profitieren kann Anna Kurpiel Verwaistes Erbe 242 Die Lausitz und die sorbische Kultur in Polen Autorinnen und Autoren 254 Editorial Abschied von der Kohle – das fühlt sich anders an, als sich etwa von der Atomkraft zu verabschieden. Das hat zum einen zu tun mit der histori- schen Bedeutung des Steinkohlenbergbaus für die Industrielle Revolution, zum anderen mit der Kultivierung respektive Verklärung einer unwie- derbringlich verlorengegangenen Arbeits- und Lebenswelt. Als NRW- Ministerpräsident Armin Laschet im Januar 2021 um die Stimmen der Delegierten des digitalen CDU-Bundesparteitages warb, zeigte er die Bergmannsmarke seines Vaters vor – als Zeichen dafür, dass man ihm ver- trauen könne. Die in Nordrhein-Westfalen, aber auch anderswo tief ver- wurzelte Bergmannskultur machte den Abschied vom Steinkohlenberg- bau mit der Schließung der letzten Zeche im Ruhrgebiet, Prosper-Haniel in Bottrop, Ende 2018 zu einem emotionalen Ereignis. Der Steinkohlenbergbau hatte sich schon seit Ende der 1950er Jahre in einer strukturellen Krise befunden und starb einen langsamen, hoch sub- ventionierten Tod. Auch beim nahenden Ende der umwelt- und klima- schädlichen Braunkohleverstromung, das durch das Kohleausstiegsgesetz 2020 besiegelt wurde, wird viel Geld fließen, um Kraftwerksbetreiber zu entschädigen, den Beschäftigungsabbau sozialverträglich zu gestalten und die betroffenen Regionen beim Strukturwandel zu unterstützen. Die Lausitz, einst Zentrum des Braunkohlenbergbaus in der DDR und wichtiger Energielieferant, ist eine von ihnen. Ähnlich wie im Ruhrge- biet ist hier eine kulturelle Bedeutungsschicht relevant, die sich etwa in den Liedern des »singenden Baggerfahrers« Gerhard Gundermann nieder- schlägt. Der wirtschaftliche und soziale Strukturwandel wird in beiden Fällen von einem (erinnerungs-)kulturellen Wandel begleitet. Diese APuZ-Edition versammelt Beiträge, die 2019 in der Ausgabe »Ruhrgebiet« und 2020 in der Ausgabe »Lausitz« erschienen sind, teils unverändert, teils aktualisiert. Fünf neue Beiträge bieten übergreifende, einordnende und vergleichende Perspektiven vom Zeitalter der Kohle bis hin zu den Prozessen von Deindustrialisierung, Dekarbonisierung und Rekultivierung. Anne Seibring 9 Vom Zeitalter der Kohle zu Dekarbonisierung und ­Rekultivierung Franz-Josef Brüggemeier Das Zeitalter der Kohle in Europa, 1750 bis heute Ein Überblick Kein anderer Stoff hat die Geschichte Europas in den vergangenen 200 Jah- ren so sehr geprägt wie die Kohle. Dabei handelte es sich vor allem um Steinkohle, im geringeren Umfang auch um Braunkohle. Eine Ausnahme bildet Deutschland, wo derzeit weltweit am meisten Braunkohle gefördert wird und dieser Rohstoff die aktuellen Debatten über das Ende der Kohle bestimmt. Doch auch in Deutschland besaß Steinkohle eine erheblich grö- ßere Bedeutung, prägte die im Folgenden beschriebenen Entwicklungen und steht deshalb im Mittelpunkt der Darstellung.1 Steinkohle brachte mit dem Bergbau eine mächtige Industrie hervor und beschäftigte auf ihrem Höhepunkt in den verschiedenen europäischen Revieren etwa drei Millionen Bergleute, die erst aus der näheren Umge- bung stammten, dann aus wachsender Entfernung, bald aus ganz Europa und schließlich auch aus Nordafrika, der Türkei und selbst Asien zuwanderten. Ohne Kohle hätte die Industrialisierung gar nicht oder deutlich anders statt- gefunden, und Europa hätte nicht die globale Vormachtstellung erlangt, die es Ende des 19. Jahrhunderts besaß. Sie lieferte die Energie für beide Welt- kriege und war zentrales Thema der anschließenden Friedensverhandlun- gen; diese Energiequelle führte zu erbitterten Klassenkämpfen, erschwerte politische Reformen und bot zugleich nach dem Zweiten Weltkrieg die Basis sowohl für die Einigung Europas wie die Zusammenarbeit von Unter- nehmern und Gewerkschaften. Kohle begründete die heutige Bedeutung von Energie, sie legte die Grundlage der modernen chemische Industrie, änderte die Bedeutung von Zeit und Raum und verschob die Schranken der Natur, während zugleich die Gewinnung und Nutzung von Stein- und Braunkohle zu erheblichen Eingriffen in Natur und Umwelt führten. Kohle schuf die Welt, in der wir heute leben, im Guten wie im Schlechten. 12 Das Zeitalter der Kohle in Europa, 1750 bis heute Anfänge Kohle wird seit Jahrhunderten gefördert und genutzt, aber nur in kleinen Mengen. Denn sie setzt bei der Verbrennung Rauch, Staub, Ruß und unangenehme, teils schädliche Gase frei. Wer immer konnte, nutzte deshalb Holz, von dem es in Europa mehr als genug gab. Das galt sowohl für private Haushalte, die mit Holz heizten, wie für die meisten Gewerbe, die befürchteten, der Kohlerauch würde die Qualität ihrer Produkte min- dern und etwa den Geschmack von Bier oder Brot verderben. Davon gab es Ausnahmen wie Schmieden, die Steinkohle wegen der höheren Tem- peraturen nutzten, oder Salinen, die bei der Salzgewinnung ebenfalls sehr viel Hitze benötigten und die umliegenden Holzvorräte rasch aufbrauch- ten. Hinzu kamen hohe Transportkosten und der erhebliche Aufwand, der erforderlich war, um Kohle zu fördern, was deren Verbreitung eben- falls einschränkte. Anders sah es in Großbritannien aus. Dort existierten reichhaltige Kohle lager in hügeligen Gegenden, die relativ leicht abgebaut und auf Flüssen sowie dem Meer preiswert transportiert werden konnten. Um 1800 förderten die britischen Zechen etwa 15 Millionen Tonnen Kohle, mehr als fünfmal so viel wie alle Bergwerke im restlichen Europa zusam- men. Sie reichten fast 400 Meter in die Tiefe, und einige beschäftigten mehrere Hundert Bergleute. Einen vergleichbar entwickelten Bergbau gab es nur noch um Lüttich, während ansonsten Kohle in Europa ein Schatten- dasein fristete. Durchbrüche In wenigen Jahrzehnten änderte sich die Situation grundsätzlich. Bis 1850 stieg die Förderung in Großbritannien auf mehr als 60 Millionen Tonnen an, explodierte danach und erreichte 1913 fast 300 Millionen. In Deutsch- land, Frankreich und Belgien fand ein ähnlich furioses Wachstum statt, das oft erst nach 1870, in Spanien und Russland sogar erst gegen Ende des Jahrhunderts einsetzte. Um 1900 gab es in Europa Tausende Zechen, auf denen etwa zweieinhalb Millionen Bergleute mehr als 600 Millionen Ton- nen Steinkohle förderten, die inzwischen aus mehreren Gründen unent- behrlich geworden war. An erster Stelle zu nennen ist die Dampfmaschine. Sie wurde im Laufe des
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