Dokumentation Das Letzte Duell. Die

Dokumentation Das Letzte Duell. Die

Dokumentation Horst Mühleisen Das letzte Duell. Die Auseinandersetzungen zwischen Heydrich und Canaris wegen der Revision der »Zehn Gebote« I. Die Bedeutung der Dokumente Admiral Wilhelm Franz Canaris war als Chef der Abwehr eine der Schlüsselfigu- ren des Zweiten Weltkrieges. Rätselhaftes umgibt noch heute, mehr als fünfzig Jah- re nach seinem gewaltsamen Ende, diesen Mann. Für Erwin Lahousen, einen sei- ner engsten Mitarbeiter, war Canaris »eine Person des reinen Intellekts«1. Die Qua- lifikationsberichte über den Fähnrich z.S. im Jahre 1907 bis zum Kapitän z.S. im Jahre 1934 bestätigen dieses Urteü2. Viele Biographen versuchten, dieses abenteu- erliche und schillernde Leben zu beschreiben; nur wenigen ist es gelungen3. Un- 1 Vgl. die Aussage des Generalmajors a.D. Lahousen Edler von Vivremont (1897-1955), Dezember 1938 bis 31.7.1943 Chef der Abwehr-Abteilung II, über Canaris' Charakter am 30.11.1945, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mi- litärgerichtshof (International Military Tribunal), Nürnberg, 14.11.1945-1.10.1946 (IMT), Bd 2, Nürnberg 1947, S. 489. Ders., Erinnerungsfragmente von Generalmajor a.D. Erwin Lahousen über das Amt Ausland/Abwehr (Canaris), abgeschlossen am 6.4.1948, in: Bun- desarchiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, MSg 1/2812, S. 64. Vgl. auch Ernst von Weiz- säcker, Erinnerungen, München, Leipzig, Freiburg i.Br. 1952, S. 175. 2 Vgl. Personalakte Wilhelm Canaris, in: BA-MA, Pers 6/105, fol. 1Γ-105Γ, teilweise ediert von Helmut Krausnick, Aus den Personalakten von Canaris, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 10 (1962), S. 280-310. Eine weitere Personalakte, eine Nebenakte, in: BA-MA, Pers 6/2293. — Die Familie war gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Sàia am Comersee nach Bernkastel, Kurtrier, ausgewandert, wo Thomas Canaris, der Stamm- vater, am 3.11.1735 starb. Vgl. Peter von Gebhardt, Die Canaris, Groitzsch (Bezirk Leip- zig): 1938 (200 numerierte Exemplare; ein Exemplar in der Stadtbibliothek Trier). 3 Nur einige Biographien seien genannt: Karl Heinz Abshagen, Canaris. Patriot und Welt- bürger, Stuttgart 1949; Heinz Höhne, Canaris. Patriot im Zwielicht, München 1976; An- dré Brissaud, Canaris. Eine Biographie, Herrsching 1988 (überwiegend wertlos); er- schwerend kommt hinzu, daß Brissaud vorgibt, »gesammelte und benutzte mündliche oder schriftliche Erlebnisberichte« der Generalleutnants Franz-Eccard von Bentivegni (dessen Vornamen gibt Brissaud mit »Egbert« an) und Hans Piekenbrock benutzt zu ha- ben (S. 571). — Frau Silve-Maria von Hueck, geb. von Bentivegni, die Tochter des Ge- nerals, teilte am 29.9.1997 mit, ihr Vater habe nach seiner am 12.10.1955 erfolgten Rück- kehr aus sowjetischer Gefangenschaft »keine Erinnerungen niedergeschrieben, und ich verfüge auch nicht über entsprechende Papiere oder Korrespondenzen«. Ihr Bruder Klaus-Jürgen von Bentivegni, Rechtsanwalt, hat diese Aussage bestätigt. Und Frau Re- nate Piekenbrock, geb. Hasse (1904-1990), die Witwe des langjährigen Chefs der Ab- wehrabteilung I, teilte am 25.2.1988 mit, ihr Mann, verstorben am 16.12.1959, habe »nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft [10.10.1955] keinerlei Aufzeichnungen gemacht«. — Mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesen »Erlebnisberichte[n]<< um Ben- tivegnis und Piekenbrocks vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg am 11.2.1946 von Generalmajor Zorya verlesenen Aussagen, in: IMT (wie Anm. 1), Bd 7, Nürnberg 1947, S. 293 (Piekenbrock), 300 f. (Bentivegni), 301 f. (Piekenbrock); Heinz Höh- ne, Admiral Wilhelm Canaris, in: Hitlers militärische Elite, hrsg. von Gerd R. Ueberschär, Bd 1, Darmstadt 1998, S. 53-60; problematisch mit einer Fülle von Fehlern Guido Knopp und Christian Deick, Der Verschwörer, in: Dies., Hitlers Krieger, München 1998, S. 335-403. Militärgeschichtliche Mitteilungen 58 (1999), S. 395-458 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 396 MGM 58 (1999) Horst Mühleisen gebrochen ist das Interesse an dem Admiral, an seine Verstrickung in die Taten des nationalsozialistischen Staates und an seine Rolle in dem von ihm geleiteten Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW)4. Indessen ist die Quellenlage sehr ungünstig. Ein Nachlaß Canaris liegt nicht vor, und sein wichtigstes Selbstzeugnis, die Tagebücher und Reiseberichte, sind vernichtet5. Lahousen, der wichtige und verläßliche Zeuge, berichtete schon während seiner Vernehmung in Nürnberg, Canaris habe »schon vor Beginn des Krieges« Tagebuch geführt, dessen »Sinn und Zweck« nach eigener Bekundung gewesen sei, »dem deutschen Volk und der Welt einmal Jene zu zeigen, die die Ge- schicke dieses Volkes in dieser Zeit geführt und gelenkt haben«6. 4 Vgl. Gert Buchheit, Der deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966; Heinz Höhne, Canaris und die Abwehr zwischen Anpassung und Op- position, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hrsg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München, Zürich 1985, S. 405-416; Winfried Meyer, Unternehmen Sieben. Eine Ret- tungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Ausland/Abwehr im Ober- kommando der Wehrmacht, Frankfurt a.M. 1993. 5 Zu den Canaris-Tagebüchern sei folgendes gesagt: Abshagen, Canaris (wie Anm. 3), S. 10 berichtet, einer »seiner Offiziere« (Oberstleutnant Werner Schräder) habe »den größte[n] Teil dieser Aufzeichnungen« nach Canaris' Entlassung, Juli 1944, »an einen sicheren Ort auf dem Lande gebracht«. Dessen Witwe — Schräder erschoß sich nach dem 20. Juli 1944 — habe die Notate nach dem gescheiterten Attentat und dem mißglückten Staatsstreich vernichtet. Gemeint ist die Abschrift der Diarien, die Schräder in Groß-Denkte, südlich von Wolfenbüttel, verwahrt hatte. Die unmittelbare Niederschrift der Tagebücher, die Kalikohefte I-V und sechs Hefte Reiseberichte, befanden sich im Hauptquartier des Ober- kommandos des Heeres (OKH) (Deckname »Zeppelin«) in Zossen/Brandenburg, süd- lich Berlin gelegen, Lager Maybach II, in einem Panzerschrank. Anfang April 1945 ent- deckte General der Infanterie Walter Buhle (1894-1959), Chef der Wehrmacht-Rüstung beim OKW, (oder einer seiner Offiziere) die Tagebücher. — Diese Angabe nach Höhne, Canaris (wie Anm. 3), S. 563, der weitere Einzelheiten nennt, und Buchheit, Geheim- dienst (wie Anm. 4), S. 444 f. — Buhle händigte dieses Schriftgut (Hefte I-V und Reise- berichte) SS-Gruppenführer Johann (Hans) Rattenhuber (1897-1960), dem Chef des für Hitlers persönlichen Schutz zuständigen Reichssicherheitsdienstes, aus, der sie an SS- Gruppenführer Heinrich Müller, Amtschef im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) (vgl. Anm. 114), weitergab. Dies geschah am 4.4.1945. Die aufgefundenen Tagebücher und Reiseberichte wurden im RSHA auf Mikrofilm aufgenommen, doch gelang es nur, einen der zahlreichen Filmstreifen, die in zwei Blechschachteln aufbewahrt wurden, zu ent- wickeln. Anfang Mai 1945 vernichtete Kriminalsekretär und SS-Untersturmführer Franz Xaver Sonderegger sofort einen Teil des Schriftgutes bei Schloß Mittersill in Osterreich, einige Tage danach verbrannte SS-Standartenführer und Regierungsdirektor Dr. Walter Huppenkothen (vgl. Anm. 116) die restlichen Papiere und Mikrofilme an demselben Ort. — Diese Angaben nach Buchheit, Geheimdienst (wie Anm. 4), S. 475 und Abshagen, Canaris (wie Anm. 3), S. 11. Indes ist es nicht auszuschließen, daß Teilkopien des Mi- krofilms, die Kriminalrat Hans Müller aus Mittersill mitnahm, noch vorhanden sind (Mitteilungen von Heinz Höhne vom 8.12.1997 und 4.1.1999). 6 Vgl. Aussage Lahousens, in: IMT (wie Anm. 1) am 30.11.1945, Bd 2, S. 491 f. In seinen fragmentarischen Aufzeichnungen (wie Anm. 1), »Geheimorganisation Canaris II. Teil«, S. 1 äußert er sich nochmals ausführlich: »Canaris hatte bereits im Jahre 1937 mit der ge- nauen Aufzeichnung seiner Amtstätigkeit und mit der Sammlung aller auf die Ent- wicklung der politischen und militärisch-politischen Lage in Deutschland bezughaben- den Dokumente begonnen, um — wie er es oft mir und anderen Gleichgesinnten ge- genüber definierte — der Welt und dem deutschen Volke einmal aufzuzeigen, mit wel- chem verbrecherischen Dilettantismus und mit welch maßloser Selbstüberschätzung dieser Krieg mutwillig vom Zaune gebrochen wurde. (>Die Welt soll wissen, wie diese Leute schuldig wurden<) — ein oft gebrauchter Satz von C.« — Bis zum Sommer 1939 schrieb Canaris das Tagebuch mit eigener Hand, danach Wera Schwarte, seine Sekretärin, Das letzte Duell 397 Das amtliche Schriftgut der Abteilung im Reichswehr- und späteren Reichs- kriegsministerium, der Amtsgruppen Allgemeine Wehrmachtangelegenheiten (1938) und Auslandnachrichten und Abwehr (1938/39) sowie des Amtes Aus- land/Abwehr im OKW (1939-1944) ist zum Teil erhalten; es liegt im Bundesar- chiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA), Bestand RW 5. Unter diesen oft nur bruchstückhaften Archivalien befindet sich auch die Ak- te, die die Auseinandersetzungen zwischen SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, und Admiral Canaris 1941/42 wegen der Neufassung der »Zehn Gebote« dokumen- tiert. Der Quellenwert dieses Bandes ist außerordentlich hoch, zumal die Verfasser von Canaris-Biographien und Darstellungen über die Abwehr den Konflikt er- wähnten, ohne den Schriftwechsel im einzelnen zu kennen7. Die gleiche Aussage gilt auch für edierte Quellen8. Wie war es zu der Kontroverse gekommen? Ein Überblick über die vorange- gangenen Ereignisse und Vereinbarungen zwischen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und der Abwehr

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