111 Jahre Linksliberale Kleinparteien in Deutschland (1908 – 2019)

111 Jahre Linksliberale Kleinparteien in Deutschland (1908 – 2019)

Burkhard Gutleben 111 Jahre linksliberale Kleinparteien in Deutschland (1908 – 2019) Fassung vom Sommer 2020 Inhalt Einleitung oder Forschungsbericht S. 3 Die Demokratische Vereinigung S. 10 Biographischer Exkurs 1: Hellmut von Gerlach S. 20 Die Radikaldemokratische Partei S. 22 Biographischer Exkurs 2: Ludwig Quidde S. 36 Die Liberalen Demokraten und Die Sozialliberalen S. 39 Ergebnisse und offene Fragen S. 57 Literaturverzeichnis S. 61 2 Einleitung oder Forschungsbericht Dies ist die vierte Version einer Studie, mit der ich mich in den letzten rund 30 Jahren – mit durchaus schwankender Intensität – beschäftigt habe. Eine erste Druck-Veröffentlichung erschien 1992 unter dem Titel »Linkslibe- rale Splitterparteien im 20. Jahrhundert. Eine Skizze«.1 Aus der Skizze ist inzwischen eine Darstellung geworden, auch wenn sie vielleicht nicht so de- tailfreudig und materialreich ausfällt, wie sich manch eine(r) das vorstellen mag. Die zweite Fassung war eine 64seitige Broschüre, die im Jahr 2002 an- lässlich des 20jährigen Bestehens der Liberalen Demokraten erstellt wurde. Bis dahin hatte ich jedenfalls nur die Veröffentlichungsarten »Aufsatz« oder »Broschüre« realisiert und die Gattung »Buch« nur als Wunschziel vor mir hergetragen, bevor ich 2008 eine dritte Fassung in Netz stellte. Bei einer On- line-Publikation ist der Umfang zwar nebensächlich, aber zu einem Quanten- sprung in Richtung monographischer Breite fehlten mir weiterhin sowohl Res- sourcen wie Motivation. Das pdf-Dokument trug etwa ein Jahrzehnt lang den Titel »100 Jahre linksliberale Kleinparteien in Deutschland«. Die beiden Änderungen im Titel seit der Erstfassung sind jedoch keine per- sönlichen Sprachspiele sondern inhaltlich motiviert. Es sieht so aus, als habe sich die politikwissenschaftliche Terminologie kurz vor dem Millennium von dem pejorativ klingenden Ausdruck »Splitterpartei« verabschiedet und nutze nun vorwiegend den harmloseren Terminus »Kleinpartei«. Mit dieser durchaus begrüßenswerten political correctness geht allerdings der Verlust einer gewissen Trennschärfe einher, da der Be- griff »Kleinpartei« in seiner konkreten Verwendung sehr weit verstanden wird und etablierte Größen wie die FDP ebenso umfasst wie kurzlebige Null- Komma-Experimente. Möglicherweise bietet sich für die im Folgenden vor- gestellten Gruppierungen am ehesten der inzwischen durchaus häufiger ge- brauchte Terminus »Kleinstpartei« an. Die nicht unbedingt zu erwartende Langlebigkeit der 1982 gegründeten Libe- ralen Demokraten hat es ermöglicht, inzwischen auf eine über 100jährige Geschichte linksliberaler Kleinparteien zurückzublicken, die von der Gründung der Demokratischen Vereinigung im Jahr 1908 bis in die Gegenwart reicht. 1 Burkhard Gutleben: Linksliberale Splitterparteien im 20. Jahrhundert. Eine Skizze. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 4 (1992). S. 217 - 228. 3 Es folgt nun aber keine Jubel-Festschrift, auch wenn ich durchaus eine Liebhaber-Beziehung zu meinem Forschungsgegenstand entwickelt habe 2 und darüber hinaus bei den Liberalen Demokraten nicht nur »teilnehmender Beobachter«, sondern zeitweise auch Akteur war, vor allem während meiner 20monatigen Amtszeit als stellvertretender Bundesvorsitzender zwischen dem Oktober 2006 und dem Juni 2008. Für die Neuen Liberalen (NL) – die sich inzwischen in Die Sozialliberalen (SL) umbenannt haben – bin ich im Jahr 2019 sogar als Listenkandidat für die Europawahl angetreten, während ich bei ihnen bislang kein Parteiamt übernommen habe. Für das jüngste Kapitel meiner Studie kann ich daher auf eigene Erfahrun- gen und mein persönliches Archiv zurückgreifen – was angesichts fehlender Veröffentlichungen über die Geschichte der LD 3 und noch mehr für die NL eine wesentliche Arbeitserleichterung bedeutet. Ein wenig günstiger waren die Voraussetzungen in Hinblick auf die Radikal- demokratische Partei (RDP), wobei allerdings der erste erwähnenswerte Bei- trag im DDR-Lexikon zu den bürgerlichen Parteien in Deutschland nur weni- ge Informationen lieferte und mich mit der Aussage: „Außer wenigen spärlichen Hinweisen und Bemerkungen in der zeitgenös- sischen Presse und in Archivalien zur Tätigkeit der VUD bzw. RDP konnten bisher keine Quellen und Veröffentlichungen aufgefunden werden ʺ4 zur Erbringung eines Gegenbeweis ermunterte. Während ich an diesem arbeitete, erschien – erneut in der DDR – ein deut- lich besserer Lexikonartikel zur Radikaldemokratischen Partei aus der Feder 2 Wenn ich mich recht erinnere, hat Andreas Biefang mich bei einer Tagung des Ar- beitskreises für Liberalismusforschung im Herbst 1993 mit dem Kommentar be- dacht, dass man ja geradezu „eine erotische Beziehung zu seinem Gegenstand″ entwickelt haben müsse, um an einer solchen Thematik über einen längeren Zeit- raum festzuhalten. Ihm sei an dieser Stelle für die prägnante Formulierung gedankt. 3 Abgesehen von einigen Beiträgen aus der ersten Hälfte der 80er Jahre (vgl. die Dar- stellungen unter 4.3 im Literaturverzeichnis) finden die LD eine mehr als beiläufige Erwähnung allenfalls in den beiden Büchern über die FDP von Jürgen Dittberner aus den Jahren 1987 und 2005. 4 Kurt Rüss: Radikal-Demokratische Partei (RDP) 1930-1933. (August - November 1930 Vereinigung Unabhängiger Demokraten [VUD]). In: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Berlin 1968. Bd. 2, S. 478 - 480. 4 von Werner Fritsch 5; ferner waren die Aufsätze von Karl Holl zu den Weima- rer Linksliberalen und Pazifisten aufschlussreich. 6 Seine lang erwartete, im Jahr 2007 schließlich veröffentlichte, Biographie zu Ludwig Quidde blieb al- lerdings gerade in Bezug auf dessen Beteiligung an der Radikaldemokrati- schen Partei vergleichsweise knapp. 7 Durchaus materialreich ist dagegen das 2019 veröffentlichte Lesebuch zur 100jährigen Geschichte der Jungde- mokraten 8, das ich hier für die bislang letzten Updates nutzen konnte (und dem ich vielleicht den Impuls verdanke, an einer weiteren Fassung meines Textes zu arbeiten, die inzwischen auf eine 111jährige Geschichte – gerech- net von der Gründung der Demokratischen Vereinigung im Jahr 1908 – zu- rückblickt). Während der Recherchen zur Geschichte der Radikaldemokratischen Partei begegneten mir wiederholt Hinweise auf deren Vorgängerin: die Demokrati- sche Vereinigung (DV), die vor dem Ersten Weltkrieg selbst das gescheiterte Experiment einer Linksabspaltung von einer bereits als linksliberal geltenden Partei darstellte. Die DV hatte ohne Zweifel bis dato den meisten Widerhall bei den deut- schen Historikern gefunden. Möglicherweise erklärt sich dieser Umstand 5 Werner Fritsch: Radikal-Demokratische Partei (RDP) 1930 - 1933. (August - No- vember 1930 Vereinigung Unabhängiger Demokraten [VUD]). In: Lexikon zur Partei- engeschichte. Bd. 3, Köln 1985, S. 608 - 613. 6 Vgl. die Darstellungen unter 3.3 im Literaturverzeichnis. 7 Karl Holl: Ludwig Quidde (1858 - 1941), eine Biographie. Düsseldorf 2007. Dass Holl der RDP nur wenig Aufmerksamkeit widmete, mag auch dafür verantwort- lich sein, dass er in einem wenig später veröffentlichten Vortrag (Ludwig Quidde 1858 - 1941, Fragmente einer brüchigen Biographie. In: Friedensnobelpreis und his- torische Grundlagenforschung, Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung, Berlin 2012, S. 15 - 53) fälschlich behauptet, Quidde habe sich „fast wie ein von den Ereignissen Getriebener an der Gründung der Radikaldemo- kratischen Partei“ beteiligt und „sogar, wenn auch mit geringer Überzeugung und ohne Illusionen, deren Vorsitz“ übernommen (a.a.O., S. 35). Dass Quidde den ihm angetragenen Parteivorsitz tatsächlich jedoch abgelehnt und seine Gründe dafür publik gemacht hat, wird von mir weiter unten auf Seite 25 dieses Textes dargelegt. 8 Grundrechte verwirklichen – Freiheit erkämpfen : 100 Jahre Jungdemokrat*innen ; ein Lesebuch über linksliberale und radikaldemokratische Politik von Weimar bis ins 21. Jahrhundert 1919 - 2019. Baden-Baden 2019. 5 auch daraus, dass sie gewissermaßen den Prototyp der hier untersuchten Parteien darstellte, möglicherweise gar die erste im heutigen Sinne links- bzw. sozialliberale Partei war. 9 Neben den einschlägigen Artikeln der DDR-Parteiforscher und den Arbeiten von Karl Holl 10 gab es zur Demokratischen Vereinigung bereits eine Darstel- lung mit monographischem Umfang. Unklar ist allerdings der Entstehungs- zusammenhang der knapp 100 Schreibmaschinenseiten umfassenden Arbeit von Manfred Braumann, die nie veröffentlicht, aber wenigstens archiviert wurde. 11 9 Mit dem Gedanken, dass der Begriff »linksliberal« zu verschiedenen Zeiten inhalt- lich anders gefüllt sein könne, habe ich mich offen gestanden erst in den letzten Jah- ren vertraut gemacht, vor allem angeregt durch verschiedene Diskussionsbeiträge und Änderungen beim Wikipedia-Artikel »Linksliberalismus« während des Sommers 2008. Die fortschreitende Demontage dieses Artikels, die damit verbundene Desa- vouierung des Linksliberalismus, die letztlich nur noch die Person Eugen Richters einer namentlichen Erwähnung für würdig befand, hat mich zunächst sehr irritiert, zumal die meisten Veränderungen anonym erfolgten und nur selten auf seriöse Be- lege zurückgriffen. Dass es sich um kein Einzelphänomen handelte, machte mir Hans-Georg Fleck deutlich: „Um so überraschender und bizarrer mag da vielen jene revisionistische Wendung anmuten, die – nicht von ungefähr – mit einer zeitgeist- gemäßen, radikalen Akzentverlagerung des innerliberalen Diskurses an der Wende zu den 1990er Jahren einherging. Aus Eugen Richter wurde die Lichtgestalt des »echten Liberalismus« in Deutschland… ″ (Benevolenz, Missachtung Misstrauen trotz

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