Martin Opitzʼ Normpoetik Buch Von Der Deutschen Poeterey (1624)

Martin Opitzʼ Normpoetik Buch Von Der Deutschen Poeterey (1624)

Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Jörg Wesche) Literarische Diversität oder Barockdichtung als Regelfall? Martin Opitzʼ Normpoetik Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Dillingen am 07.09.2017 Barocke Epochenstereotype • Schematische Regeldichtung • Unpoetische Gelegenheitspoesie • Bestimmtheit durch Konfessionalisierung und Krieg • Vanitasdichtung: memento mori und carpe diem • Opitz als ‚Vater‘ der deutschen Dichtkunst Grundspannung • Weiter Literaturbegriff und enger Poesiebegriff in der FNZ Martin Opitz, Das Buch von der Deutschen Poeterey (1624): Rekapitulation der normativen Grundlagen seiner Dichtungsreform - Motivation der Dichtungsreform: ‚Defizithypothese‘; Sprachpatriotismus - Erlernbarkeit von Dichtkunst (doctrina und ingenium) - Ethische Ausrichtung des ‚Poetenamts‘ (vir eruditus / vir bonus) - Humanistisches Dichtungsideal (rhetorisches Fundament, klassische Vorbilder) - Begrenzung des Poesiebegriffs (‚gebundene Schreibart‘) - Einführung der Versfußmetrik mit dynamischem Akzent - Bevorzugung von Jambus und Trochäus (Alternationsregel) - Kodifizierung des Gattungssystems (v.a. antiker und romanischer Formbestand) - Nachahmungspoetik (imitatio naturae/imitatio veterum) Historisches Bewusstsein für poetische Freiheit: Opitz als deutscher ‚Dichtgesetzgeber‘: Satirische Epigrammatik: 1. August Augsburger (1642): In Opitium. DEs Orpheus Harffe zwang Hell’/ Erde/ Lufft/ und Meer: Du zwängest noch wohl mehr/ Wann mehr beseelet wär! 2. Johann Grob: An einen Deutschen Dichtgesezgeber. DU lehrest/ wie man sol kunstrechte reimen schreiben/ Und wilt den dichtergeist in enge schranken treiben: Allein ich gebe nicht so bald die freiheit hin/ Weil ich von muht’ und blut’ ein freier Schweizer bin. ‚Norm‘- und ‚Spielraumpoetik‘: Modell der theoretischen Grundlagen (Wesche 2004) Übersichtsschema zum Integrationsmodell poetischer Spielräume auf der Basis der Abweichungspoetik von Harald Fricke, Norm und Abweichung (1981) sprachliche ABWEICHUNG explizite NORM SPIELART TEXTSORTENSPIELRA primäre poetische UM SPRACHE ABWEICHUNG sekundäre poetische VERLETZUNG implizite NORM SPIELART QUASI-NORM GENRESPIELRAUM sekundäre poetische VERLETZUNG SPIELART textinterner SPIELRAUM sekundäre poetische VERLETZUNG Typologie von Poetik-Spielräumen: 1. Normierungslücken 2. Spielräume einzelner Wörter (Wortebene) 3. Regelspielräume (Satz- bzw. Aussageebene) 4. Exempelspielräume Normierungslücke: z.B. Chor im Trauerspiel: „Kurtz! Es ist die Veränderung/ des Chors in der alten Comödie so viel/ daß alle Arthen nicht leicht zu erzehlen seyn. Und haben Sie in Erneuerung der Arten insonderheit ihre Kunst und Geschickligkeit gesucht.“ (Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 1688, S. 105) Regelspielräume (Modi der doctrina): - Licentia poetica: z.B. Fiktionlizenz: „Das Getichte vnd die erzehlung selber belangend/ nimpt sie es nicht so genawe wie die Historien/ die sich an die zeit vnd alle vmbstende nothwendig binden mußen [...] lest viel außen was sich nicht hin schicken wil/ vnd setztet viel das zwar hingehöret/ aber newe vnd vnverhoffet ist [...].“ (Opitz, Buch, S. 26 f.) - Regelgebote und potentialer Regelmodus: „Weil die Sonnet vnnd Quatrains oder vierversichten epigrammata fast allezeit mit Alexandrinischen oder gemeinen versen geschrieben werden / (denn sich die andern fast darzue nicht schicken) als wil ich derselben gleich hier erwehnen. Wann her das Sonnet bey den Frantzosen seinen namen habe / wie es denn auch die Italiener so nennen / weiß ich anders nicht zue sagen / als dieweil Sonner klingen oder wiederschallen / vnd sonnette eine klingel oder schelle heist / diß getichte vielleicht von wegen seiner hin vnd wieder geschrenckten reime / die fast einen andern laut als die gemeinen von sich geben / also sey getauffet worden. Vnd bestetigen mich in dieser meinung etzliche Holländer / die dergleichen carmina auff jhre sprache klincgetichte heissen: welches wort auch bey vnns kan auffgebracht werden; wiewol es mir nicht gefallen wil. Ein jeglich Sonnet aber hat viertzehen verse / vnd gehen der erste / vierdte / fünffte vnd achte auff eine endung des reimens auß; der andere / dritte / sechste vnd siebende auch auff eine. Es gilt aber gleiche / ob die ersten vier genandten weibliche termination haben / vnd die andern viere männliche: oder hergegen. Die letzten sechs verse aber mögen sich zwar schrencken wie sie wollen; doch ist am bräuchlichsten / das der neunde vnd zehende einen reim machen / der eilffte vnd viertzehende auch einen / vnd der zwölffte vnd dreyzehende wieder einen.“ (Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Sonett-Definition) Fortsetzung Sonett-Definition: „Zum exempel mag dieses sein / welches ich heute im spatzieren gehen / durch gegebenen anlaß / ertichtet. Sonnet. Du schöne Tyndaris / wer findet deines gleichen / Vnd wolt' er hin vnd her das gantze landt durchziehn? Dein' augen trutzen wol den edelsten Rubin / Vnd für den Lippen muß ein Türckiß auch verbleichen / Die zeene kan kein goldt an hoher farb' erreichen / Der Mund ist Himmelweit / der halß sticht Attstein hin. Wo ich mein vrtheil nur zue fellen würdig bin / Alecto wird dir selbst des haares halber weichen / Der Venus ehemann geht so gerade nicht / Vnd auch der Venus sohn hat kein solch scharff gesicht; In summa du bezwingst die Götter und Göttinnen. Weil man dan denen auch die vns gleich nicht sindt wol / Geht es schon sawer ein / doch guttes gönnen soll / So wündtsch' ich das mein feind dich möge lieb gewinnen.“ Literarische Diversität durch Musterlektüre. Zur Wirkungskonzeption der Barockpoetik: „Dreischschritt“ von praeceptum, exemplum und imitatio (vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 59-70) imitatio praeceptum exemplum Barocke Musterlektüre: Opitz als Dichtungspraktiker, Übersetzer und Verfasser von Mustertexten: • Zlatna Oder Getichte von Ruhe dem Geküthes Entstanden 1623. Erstdruck: o.O., o.J., Fürstl. Liegnitzische Druckerey [1623]. • Dafne Entstanden 1627. Erstdruck: Breslau (David Müller) [1627] (Einzeldruck). • Schäfferey von der Nimfen Hercinie Erstdruck: Brieg (David Müller) 1630. • Die Klag-Lieder Jeremia Erstdruck: Die Klagelieder Jeremia. Poetisch gesetzt durch Martin Opitzen, Görlitz (Joh. Rhambaw) 1626. • Salomons hohes Lied Erstdruck: Salomons, des hebreischen Königes Hohes Liedt. Vom Martin Opitz in deutsche Gesänge gebracht, Breslau (David Müller) 1627. • Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Kriegs Erstdruck: Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges; in vier Bücher abgetheilt und vor etzlichen Jahren von einem bekannten Poeten anderwerts geschrieben, BreslauLeipzig (David Müller) 1633. • Judith Erstdruck: Breslau (Georg Baumann), 1635. Poetikgeschichte der Barockzeit: der‚Opitzianismus‘ Titelkupfer der Poetik Zur Teutschen Poesie Vierstuffichte Lehr-Bahn von Conrad Dunckelberg (1703) Vielfalt der Texte: Das barocke Poetikparadigma: Poetiken der Barockzeit 60 50 40 30 20 Poetiken (S = 57) Poetiken 10 0 1620 1630 1640 1650 1660 1670 1680 1690 1700 1710 1720 1730 Erscheinungsjahr Summenkurve der von 1624 bis 1730 erschienenen Poetiken mit zwei linearen Regressionsgraden. August Buchner: (*1591 in Dresden; † 1661 in Apollensdorf, Wittenberg) - Kurzer Weg-Weiser zur deutschen Tichtkunst. Jena 1663 -Anleitung zur deutschen Poeterey [und] Poet. Wittenberg 1665 -‚Buchner-Art‘ (daktylische Verse) „Buchner las aus seinem in Abschriften weitverbreiteten Manuskript „Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst“ das zehnte Kapitel vor: „Vom Masse der Verse und ihren Arten“. Diese Lektion versteht sich als Nachtrag zu Opitzʼ theoretischen Schriften […]. Verziert war Buchners Vortrag mit Verbeugungen vor Opitz – dem aber hier und da widersprochen werden müsse – und Sticheleien, die den abwesenden „Prinzenerzieher“ Schottel, dessen Fürstenhörigkeit und schwärmerische Geheimbündelei betrafen (Günter Grass, Das Treffen in Telgte, 1979) •1624: Opitz, Martin: Buch von der deutschen Poeterey. Breslau 1624. Nachdruck hg. v. Cornelius Sommer.Sprache [...]. Bremen 1685. Stuttgart 1970. •1685: Männling, Johann Christoph: Europaeische Parnassus, Oder Kurtze und deutliche Anweisung Zu der •1637: Hanmann, Enoch: Anmerckungen in die Teutschen Prosodie/ Darinnen daßjenige/ Was etwan HerrDeutschen Dicht-Kunst [...]. Wittenberg 1685 [erweiterte Ausgabe in Alten Stettin 1704]. Opitz übergangen oder damals nicht erfunden gewesen kürtzlich dargestellet wird. In: Prosodia Germanica•1685: Stieler, Kaspar: Die Dichtkunst des Spaten (handschriftl. 1685). Nachdruck hg. v. Herbert Zeman. [...]. Frankfurt 1637. Wien 1975 (Wiener Neudrucke 5). •1640: Anhalt, Ludwig v.: Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesie oder Reim-Kunst [...]. Cöthen 1640. •1688: Rotth, Albrecht Christian: Vollständige Deutsche Poesie [...]. Leipzig 1688. Nachdruck hg. v. •1642: Titz, Johann Peter: Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen. DanzigRosmarie Zeller. 2 Bde. Tübingen 2000 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock 41). 1642. •1689: Händel, Christoph Christian: Ars Germanorum poetica [...]. Altdorf 1689. •1643: Zesen, Philipp von: Scala Heliconis Tevtonici. Amsterdam 1643. Dt.-lat. Nachdruck in: Ders.:•1692: Frohnius, Johann Adolph: Kurtze und leichte METHODE GRAMMATICAM LATINAM durch Sämtliche Werke. Hg. v. Ferdinand v. Ingen. Bd. 12. Berlin, New York 1985. meisthenteils Teutsche Regeln der zarten Jugend beyzubringen [...] samt angehengter Anweisung zur •1645: Rinckart, Martin: Summarischer Discurs und Durch-Gang/ Von Teutschen Versen/ Fuß-Tritten undTeutschen Poesi [...]. Mühlhausen 1692. vornehmsten Reim-Arten [...]. Leipzig 1645. •1692: Weise, Christian: Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen

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