KULTUR Koreaausgabe 2 / 2016

KULTUR Koreaausgabe 2 / 2016

kultur korea | korea kultur 한국문화 KULTUR KOREA ausgabe 2 / 2016 REBELLION EINER HAUSFRAU Rezension über „Die Vegetarierin“ von Han Kang DEUTSCHE TIGERMÜTTER HABEN KEINE ZÄHNE Einblick in das frühkindliche Bildungssystem Koreas POLITISCH KORREKTE TURNSCHUHE Über das koreanisch-deutsche Theaterprojekt „Walls - Iphigenia in Exile“ Coverbild: DOKOREA – Ten Thousand Spirits, das erste koreanische Dokumentarfilmfestival in Berlin, fand vom 16. bis 19. September 2016 im Kino Babylon statt. Es wurde vom Koreanischen Kulturzentrum in Zusammenarbeit mit dem Kino Babylon organisiert und von der Hyundai Motors Group sowie dem Korean Film Council (KOFIC) unter- stützt. © Koreanisches Kulturzentrum EDITORIAL Restaurantbesitzer nach Feierabend Liebe Leserinnen und Leser, die Koreanischlehrerin schreibt noch mit Kreide, wischt die Tafel mit einem Schwamm und versetzt Schüler/innen fortgeschrit- tenen Alters so zurück in Kindertage. Sie kommt nach Hause oder an den Arbeitsplatz, geht mit auf Reisen, unterrichtet auch an Feiertagen oder mitten in der Nacht. Talk to me in Korean heißt das Online-Lernportal, bei dem die allzeit flexible Lehrerschaft auf ebenso flexible Nutzer/innen trifft, die dem Unterricht über den Bildschirm folgen – willkommen in der Gegenwart. „Fernsehen war gestern“, die Stars von heute sind auf YouTube unterwegs, und vielen von uns wird bewusst, dass die eigenen Kindertage weit zurückliegen. „Lernen wie Konfuzius“ in der Abgeschiedenheit der Natur des 16. Jahrhunderts erlaubt einen Rückblick in alte Zeiten und fühlt sich an wie eine Atempause in dieser schnelllebigen Zeit. Vor dieser Zeitleiste bilden die visualisierten Kontraste der Fotoreporta- ge „Kommunikation und Versenkung“ gewissermaßen die Schnittmenge zwischen Tradition und Moderne, wie Markus Kirchgess- ner in „Töchter der Meere und Selfiesticks“ erläutert. „Alt, älter, am ältesten“ - womit verbringen Senioren in Korea eigentlich ihre Tage? Taxifahren? Damenreisen? Bauerntanz? Wuss- ten Sie, dass die größte koreanische Gemeinschaft der westlichen Welt in Los Angeles beheimatet ist? Und dass Dokkaebi bunte Trolle mit Hörnern sind, die sich unsichtbar machen und in Wäldern leben? Dass „Lederfisch zum Feierabend“ ein kulinarischer Genuss und Korea ein Paradies zum Geldausgeben ist? Dass K-Pop und Kaffeebrauen kein Widerspruch und Haha der Name eines Entertainers ist - kein Witz?! Dass Holzkunsthandwerk im Erzgebirge von einer Koreanerin gefertigt wird und deutsche „Tigermüt- ter“ keine Zähne haben? In dieser Ausgabe erfahren Sie auch, was „Politisch korrekte Turnschuhe“ mit innerdeutscher Teilung und Goethes „Iphigenie“ zu tun haben und weshalb mangelnde Attraktivität einer Frau ein überzeugendes Heiratsmotiv für einen Mann sein kann, wie es die Autorin Han Kang in ihrem Roman „Die Vegetarierin“ beschreibt. Von komplizierten Beziehungen zwischen den Geschlechtern erzählt auch der Film „Right Now, Wrong Then“ des koreanischen Kultregisseurs Hong Sangsoo, der seit Anfang Dezember in deutschen Kinos zu sehen ist. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen, EIN SCHÖNES WEIHNACHTSFEST UND EIN GLÜCKLICHES, GESUNDES JAHR 2017! Markus Kirchgessner Foto: Foto: Ihre Redaktion Kultur Korea KULTUR KOREA / 1 INHALTSVERZEICHNIS 1 EDITORIAL 2 INHALTSVERZEICHNIS LITERATUR 4 Rebellion einer Hausfrau Rezension über „Die Vegetarierin“ von Han Kang Von Maximilian Kalkhof Leseprobe „Die Vegetarierin“ 8 Han Kang auf Lesereise Von Katharina Borchardt 10 Groteske auf dem Land Über die Lesung mit Song Sokze aus seinem Buch „Das Dorf am Fluss“ Von Thomas Lindemann 12 Leben – Nebel Rezension über den Erzählband „Acht Leben“ von Kim Hoon Von Lisa Meyer GESELLSCHAFT 14 Lernen wie Konfuzius Ein Besuch der Akademie Sosu Seowon Von Fabian Kretschmer 17 Deutsche Tigermütter haben keine Zähne Einblick in das frühkindliche Bildungssystem Koreas Von Katrin Nam 19 Alt, älter, am ältesten Senioren in Korea Von Anne Stern-Ko 22 Lederfisch zum Feierabend Kulinarische Eindrücke aus Seoul Von Franz Lerchenmüller 24 Korea – ein Paradies zum Geldausgeben Über die koreanische Konsum- und Dienstleistungskultur Von Bettina Dirauf 27 „Gutes Aussehen [ist] wichtiger als Individualität“ Vom Streben nach dem perfekten Äußeren Von Nele Becker 2 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP 53 Blumen der Freundschaft 29 Ein Festival in Potsdam entfaltet sich zu einem Treffpunkt für Zeitmaschine Los Angeles Korea-Fans Über die koreanische Gemeinde am Pazifik Von Gesine Stoyke Von Alexander Krex MUSIK 31 Youtube auf der Überholspur 56 Fernsehen war gestern JazzKorea 2016 Von Nele Becker Ein Spiegel in weiter Ferne Von Matthias R. Entreß 33 Das Online-Portal Talk to me in Korean 59 Lerntipps von Hyunwoo Audition für das K-Pop World Festival 2016 Von Nele Becker im Berliner Tempodrom Von Lauren Fleischer 34 Die vielen Gesichter der Dokkaebi 60 Eine Einführung Haha Von Alexander Reisenbichler Die zwei Gesichter eines Entertainers Von Ute Fendler 37 Von Super Junior und der Kunst des Kaffeebrauens 62 Ein Treffen mit „Mouse Rabbit”-Inhaber und Barista Jongjin Kim Der Traum von einer Gemeinschaft der Verschiedenen Von Bettina Dirauf Angelika Sarrazin beim Pyeongchang Special Music & Art Festival 2016 39 Von Dr. Stefanie Grote Von Korea ins Erzgebirge Im Gespräch mit Hyesung Kwak, angehende Holzspielzeug- 63 macherin Das Daegu Symphony Orchestra Von Gesine Stoyke Die moderne Kulturdelegation Koreas Von Matthias R. Entreß KUNST, THEATER, FILM 65 41 Seoul trifft Berlin – Tradition und Moderne DOKOREA 2016 Deutsch-koreanisches Gemeinschaftskonzert an Eindringliche Bildwelten in neuen Dokumentarfilmen renommiertem Ort in Berlin Von Jörg Krömer Von Patrick Becker 44 KOREA IM SUCHER DER KAMERA - FOTOREPORTAGE „Right Now, Wrong Then“ Kultregisseur Hong Sangsoo erstmalig im deutschen Kino 68 Von Gesine Stoyke Kommunikation und Versenkung Fotos von Markus Kirchgessner 47 Politisch korrekte Turnschuhe 72 Über das koreanisch-deutsche Theaterprojekt Töchter der Meere und Selfiesticks „Walls - Iphigenia in Exile“ Im Gespräch mit dem Fotodesigner Markus Kirchgessner Von Dr. Stefanie Grote Von Dr. Stefanie Grote 50 RÜCKBLICK IM BILD Französische Haute Couture trifft Hanbok Die Entwürfe der Designerin Saena Chun 74 im Koreanischen Kulturzentrum Neulich im Koreanischen Kulturzentrum & anderswo... Von Gesine Stoyke Juli bis Dezember 2016 80 IMPRESSUM KULTUR KOREA / 3 LITERATUR - REZENSION REBELLION EINER HAUSFRAU SIE TRÄUMT DAVON, EINE PFLANZE ZU WERDEN Von Maximilian Kalkhof Als Yong-Hye zur Vegetarierin wird, zerbricht erst ihre Ehe, dann die Familie. In ihrem preisge- Leseprobe aus „Die Vegetarierin“ krönten Roman „Die Vegetarierin“ erzählt Han Kang die groteske Rebellion einer koreanischen Hausfrau. Es muss ein Biedermann sein, wer seine Ehefrau so beschreibt: „Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig un- scheinbar.“ Nicht einmal attraktiv habe er sie bei der ersten Begegnung gefunden, sagt der Mann. „So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten.“ Yong-Hye und ihr Mann leben in Seoul, sie sind seit fast fünf Jahren verheiratet und führen eine leidenschaftslose Ehe. Die Frau ist fügsam, sie ist eine Ehefrau ohne Eigenschaften, sie kocht und kümmert sich um den Haushalt. Und sie stellt keinerlei Ansprüche an ihren Mann. Für den ist das kein Makel. Im Gegenteil, er, ein koreanischer Kleinbürger, hat Minderwertigkeitskomplexe und ist antriebslos. Sein einziger Ehrgeiz ist es gewesen, die durchschnittlichste Frau der Welt zu heiraten, die ihm ein Frühstück serviert und keine Szene macht, wenn er mal spät aus dem Büro kommt. Nun leben die beiden in einem Gleich- gewicht der Gefühlslosigkeit, das nur durch den Umstand gefährdet ist, dass es so langsam Zeit für ein Kind wäre. Doch dazu kommt es nicht. Das morbide Gleich- gewicht geht zu Bruch, als Yong-Hye beschließt, sich vegetarisch zu ernähren. „Ich hatte einen Traum“ ist die lapidare Begründung, die sie ihrem Mann für die Entscheidung liefert. Der Roman „Die Vegetarierin“ der Koreanerin Han Kang, der in diesem Jahr den internationalen Boo- ker-Literaturpreis gewonnen hat, eine der wich- tigsten Literaturauszeichnungen Großbritanniens, ist die Geschichte einer Verwandlung. Und wie bei einer anderen, sehr bekannten Metamorpho- se der Literaturgeschichte, ist die Verwandlung gleich zu Beginn des Buchs ein Mittel, mit dem die Autorin sichtbar macht, was schon lange unter der Oberfläche gegärt hat. 4 / KULTUR KOREA Plötzlich ist er da, der blanke Horror Nachdem Yong-Hye zur Vegetarierin geworden ist, verliert sie Gewicht und schläft kaum noch. Ihr Mann stellt entgeistert fest, dass er seine Frau überhaupt nicht gekannt hat. Bei einem Abendes- sen mit seinem Chef blamiert sie ihn, weil sie keinen BH trägt und für missbilligende Blicke in der Runde sorgt. Als auch noch ihr Sextrieb zurückgeht, reicht es ihm. Besoffen vergewaltigt er sie. Dass sie sich dabei wehrt, findet er ziemlich geil. Plötzlich ist er da. Der blanke Horror. Mitten in der Eigentumswoh- nung. Mit dem Buch „Die Vegetarierin“, das jetzt auf Deutsch im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist, hat Han Kang eine Allegorie von archaischer Kraft geschaffen. In ihrer Dichte erinnert die mit rund 190 Seiten kurze Geschichte sofort an Franz Kafkas Para- bel „Die Verwandlung“. Und wie „Die Verwandlung“ lebt Han Kangs Roman davon, dass man seine Tiefe erahnen, aber kaum benennen kann. Er ist ein Gleichnis vom Menschen und der Gesellschaft, und von der Gewalt, die sich entlädt, wenn die Gesell- schaft versucht, den Menschen einzugliedern in das, was sie

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