NOV.12 In den Achtzigern EINSCHLAUFEN Betrifft: Bunte Bilder aus trostlosen Zeiten Impressum Nº 09.12 DER MUSIKZEITUNG LOOP 15. JAHRGANG Das erste Jahr ist schrecklich: Ian Curtis erhängt tenrekordern, die zunehmend erschwinglicher sich in seiner Küche und John Lennon wird auf werden. Und während MTV die bewegten Bil- P.S./LOOP Verlag offener Strasse erschossen. Zwei gute Gründe, der zu den Klängen in die gute Stube überträgt, Postfach, 8026 Zürich das Jahrzehnt bereits 1980 zu den Akten zu le- entsteht hierzulande mit DRS3 ein Radiosender, Tel. 044 240 44 25, Fax. …27 gen und in profunder Betäubung dem Anbruch der die hiesige Szene mobilisiert und in bislang [email protected] / www.loopzeitung.ch der Neunzigerjahre entgegen zu dämmern. Da- ungeahntem Mass auch vernetzt. mit hätte man sich natürlich einiges an Peinlich- Hier kommen nun Lurker Grand und André Verlag, Layout: Thierry Frochaux keiten ersparen können, doch gleichzeitig wären Tschan ins Spiel. Die beiden haben sich bereits einem Entwicklungen, Erscheinungen, Erschüt- mit ihrer Punk-Chronik «Hot Love» als um- Administration, Inserate: Manfred Müller terungen und Errungenschaften entgangen, ohne triebige Underground-Historiker einen Namen die sich die Gegenwart nur schwer denken lässt. gemacht, doch nun legen sie mit «Heute und Redaktion: Philippe Amrein (amp), Um den Tod kommt man dabei freilich nicht danach» ihr Meisterwerk nach – nicht weniger Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe herum, denn die Achtzigerjahre bedeuten auch als das endgültige Buch über die musikalische Aids und Äthiopien, Tschernobyl und die Chal- Subkultur der Schweiz in den Achtzigerjahren. Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), lenger-Katastrophe. Sie sind mitgeprägt von der In jahrelanger Kleinarbeit haben sie eine atem- Yvon Baumann, Thomas Bohnet (tb), anhaltenden Schockstarre des Kalten Krieges, beraubende Fülle von Fakten, Dokumenten, Christian Braun, Pascal Cames (cam), die sich erst gegen Ende der Dekade allmäh- Anekdoten und Details zusammengetragen, die Marcel Elsener, Michael Gasser (mig), lich lockert und – wenn man denn so will – das Zeitzeugen und Nachgeborenen gleichermassen Nino Kühnis (nin), Hanspeter Künzler (hpk), «Ende der Geschichte» einläutet. Ein beklem- einen vertieften Einblick in eine aufwühlende Tony Lauber (tl), Andreas Meier, mendes Klima, auf das die Menschen in der Epoche gewähren. Auf knapp 700 Buchseiten Sam Mumenthaler, Philipp Niederberger, westlichen Hemisphäre demonstrativ deprimiert (inklusive einer rund 1500 Scheiben umfassen- Stephan Ramming, Jürg Ramseier, oder aufgesetzt schrill reagieren, um nicht kom- den Diskographie) lässt sich nun nachlesen und Charles Seiler, Miriam Suter, Tina Uhlmann, plett durchzudrehen. -erleben, was damals war und wurde. Gertrud Vogler Aller vermeintlichen Trägheit zum Trotz markie- Ein paar ausgesuchte Textbeiträge aus dem mo- ren die Achtzigerjahre aber auch ein Jahrzehnt numentalen Werk fi nden sich auf den folgenden Druck: Rotaz AG, Schaffhausen des technologischen Fortschritts, der gerade Seiten in leicht gekürzten Fassungen – sozusagen auf dem Gebiet der Populärmusik eine unge- als Flexidisc-Vorauskoppelung, um die War- Das nächste LOOP erscheint am 13.12. heure Dynamik ermöglicht. Vom Triumphzug tezeit bis zum Erscheinen des Buches Anfang Redaktions-/Anzeigenschluss: 6.12. des Walkman über die Lancierung des Apple Dezember zu verkürzen. Und die Sehnsucht ein Macintosh und die Einführung der CD bis hin wenig zu kühlen. Titelbild: Boris Blank (© Charles Seiler) zu Samplern, Synthesizern und Vierspurkasset- Philippe Amrein Leserangebot HEUTE UND DANACH The Swiss Underground Music Scene of the 80’s Lurker Grand / André Tschan Edition Patrick Frey, Deutsch/Französisch, Siebdruck-Umschlag, 672 Seiten, ca. 2000 S/W- und Farbabbildungen, 78 Franken Erscheinungsdatum: 1. Dezember 2012 Für Loop-Leser ist das Buch bis zum 13. Dezember zum Vorzugspreis von 50 statt 78 Franken plus Portokosten zu beziehen unter www.klangundkleid.com/books Ich will ein Abo: (Adresse) 10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 33 Franken (in der Schweiz). LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected] IN BERLIN UND ANDERSWO Ans Ende einer Dekade – und darüber hinaus: Mit seiner Band Der Böse Bub Eugen reiste Stephan Ramming durch die Achtzigerjahren, nun blickt er auf diese bewegte Zeit zurück. Auf eine Untergrundkultur zwischen Distinktion und Dialektik. Die Achtzigerjahre sind an ihr Ende gekommen. Im Som- mer 1989 bin ich in Berlin, wir mischen unser drittes Al- bum, «Himmel, Hölle und der Fisch», im Vielklang-Studio ab. Es ist eines der Aufnahmestudios, wie es sie heute noch überall auf der Welt gibt: ein Regieraum mit Mischpult und Technik, dahinter zwei grössere Räume, in denen die Inst- rumente und Verstärker stehen. Dort haben wir von Hand die Musik für unser Rock-Abum eingespielt. Das Beson- dere aber ist der Nebenraum. Dort wird ebenfalls Musik produziert, aber ganz anders. Ich setze mich manchmal in diesen Raum und staune: Ein Typ mit Glatze hockt hinter einem Mischpult und hört sich nichts anderes an als eine Bassdrum oder eine Hi-Hat. Es gibt keine Instrumente, nur Hunderte von Schallplatten, von denen der dicke Glatzen- typ kurze Soundfetzen in den Sampler lädt. Dann macht es wieder Bumm, Bumm, Bumm. Zischel, Zischel, Zischel. Tagelang, wochenlang. Nur Bassdrum und Hi-Hat, dazwi- schen Leere. Was ist das? Das Ende? Der Anfang? Im Berliner Vielklang-Studio. ner der Anführer der Technobewegung auf der Strasse des Der Typ im Nebenraum heisst Westbam alias Westfalia 17. Juni von einem Sattelschlepper herab mit den Bumms Bambaataa. Er hat damals einen ersten kleinen Hit – we- Der Böse Bub Eugen live. und Zischels auf die Love-Parade-Körper einwirken; im nige Jahre später wird er Millionen verdienen und als ei- Bilder: Christian Braun Dienste der kollektiven Selbstentgrenzung, im Strahlen- glanz der Siegessäule. Noch ist es nicht soweit, zuerst fällt wenige Wochen später die Mauer, zweihundert Meter von jenem Studio am Pots- damer Platz entfernt. Bevor ich wieder zurückfahre in die Schweiz, bringen wir ausgeliehene Geräte zurück ins Han- sa Studio. Dort, nur noch hundert Meter von der Mau- er entfernt, sitzen Nick Cave und die Bad Seeds in jenem altehrwürdigen Aufnahmeraum an der Köthener Strasse, in dem beispielsweise Iggy Pop und David Bowie in den späten Siebzigerjahren ihre legendären Berlin-Alben aufge- nommen haben; dort, wo nochmals viele Jahrzehnte früher SS-Offi ziere getanzt haben sollen, als die Berliner Mauer noch nicht gebaut und der Zweite Weltkrieg noch nicht ausgebrochen war. Ich steige in den Ford Transit, wir fah- ren heim, nach Schaffhausen, Schweiz. ✻✻✻ Das ist historisches Seminar, zugegeben, aber dort befi n- den wir uns nun mal, wenn wir über die Achtzigerjahre nachdenken. Auch dann, wenn wir selber in diesem Se- minar sitzen und gleichzeitig unser eigenes Studienobjekt sind; uns gleichsam zuschauen, wie wir als kleiner Punkt aus der Vergangenheit auftauchen, uns beim Stehen und Gehen betrachten und mit leisem Schrecken erkennen, wie wir selber irgendwo hinter dem Horizont vor uns wieder verschwinden. Wenn die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter in einem Interview im Herbst 2010 von ihrer Jugend als Punkgirl erzählt und sagt, sie besuchte Konzer- te von The Clash oder The Lords Of The New Church bitte umblättern von Resteverwertung, konservativem Blues, HipHop, Elek- IN BERLIN UND ANDERSWO tro, Rock mit den meisten damaligen Aushängeschildern der alternativen Musikszene. Darauf können sich alle eini- in London und höre diese Bands heute noch gerne, dann gen. Stop The Army schafft es in der Schweizer Hitparade empfi nden wir abermals mit leisem Schrecken, dass die auf Platz 3. Diese Geschichte fi ndet ihren Fortgang 1993 Popmusik der Achtzigerjahre mit all ihren Distinktions- in der «Stop F/A-18»-Abstimmung mit der entsprechenden versprechen klassisch geworden ist. Das ist nicht erst seit CD gegen den Kauf von Kampfjets, diesmal als noch er- Frau Keller-Sutter so. Die St. Galler Vorsteherin des Sicher- folgreicheres Doppelalbum, sie fi ndet ihren Fortgang aber heits- und Justizdepartementes ist nur ein Beispiel von vie- auch in Friedrich Dürrenmatts «Gefängnis-Rede» 1990 len. Aber die Klassizität der Achtzigerjahre ist auch nicht oder im Kulturboykott 1991. Die Mauern wollen und wol- nur dem üblichen Lauf der Zeit geschuldet, in dem sich len nicht fallen in der Schweiz, sie zerbröseln, langsam und alles Vergangene irgendwie zu «Geschichte» und zu einem geduldig. musikalisch-kulturellen Kanon kondensiert. Vielmehr war es bereits ein zentraler Teil der popmusikalischen Praxis ✻✻✻ der Achtzigerjahre, ästhetische und nicht zuletzt geschäft- liche Möglichkeiten für die eigene Klassik auszuprobieren. Schon 1980 fi nden meine Sommerferien in Berlin statt, Das bedeutet in der zeitlichen Längsperspektive kulturelle per Interrail in die Mauerstadt, wahrscheinlich auf der Su- Hegemonie, von ihrer Genese ist hier die Rede. Popmusik che nach dem Ostblock-Mädchen aus dem Lied der Band hat auch mit Gesellschaft oder Politik oder mit den Ver- Freiwillige Selbstkontrolle. In der Schweiz rebellieren jun- hältnissen zu tun; in unterschiedlichen und nur selten in ge Leute auf der Strasse und verlangen vom Staat mehr Kategorien von unmittelbarer Ursache und Wirkung zwar, kulturellen Freiraum. Die heute im Museum ausgestellten doch gibt es Zusammenhänge, die grösser sind als ein Auf- Versprechen der Popmusik werden öffentlich. Ich kauf’ mir nahmestudio in Berlin oder ein blauer Ford Transit
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