Verlag C. H. Beck München Mit 22 Abbildungen Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Hach meist er, Lutz: Der Gegnerforscher: die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six / Lutz Hachmeister. – München: Beck, 1998 ISBN 3-406-43507-6 ISBN 3 406 43507 6 © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Satz: Janss, Pfungstadt. Druck und Bindung: Ebner, Ulm Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (Hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany Eingescannt mit OCR-Software ABBYY Fine Reader Inhalt I. Vorbemerkung ........................................................................... 7 II. «Durch Tod erledigt» Das «Einsatzkommando Österreich»: Wien 1938 ................................................................................... 10 III. «Als gäb’ es nichts Gemeines auf der Welt» Die Studentenzeit des Gegnerforschers: Heidelberg 1930-1934................................................................. 38 IV. «Abends Zusammensein im ,Bhitgericht‘» Von der Zeitungskunde zur politischen Geistesgeschichte: Königsberg und Berlin 1934-1940 ............................................. 77 V. «Der Todfeind aller rassisch gesunden Völker» Franz Alfred Six im SD-Hauptamt: Berlin 1933-1939 144 VI. «Möglichst als Erster in Moskau» Von der Gründung des RSHA bis zum «Osteinsatz»: 1939-1941 .................................................................................. 199 VII. «Ad majorem Sixi gloriam» Im Auswärtigen Amt: 1942-1943 239 VIII. «In a state of chronic tension» Die Verhöre und der Nürnberger Prozess:1943-1948 271 IX. «Das Wesen des Marketing» Die Jahre in der Bundesrepublik: 1932-1973 ................................................................................. 294 Exkurs: Zur Frühgeschichte des «Spiegel» ......................................... 316 Anmerkungen ...................................................................................... 343 Abbildungsnachweis ............................................................................. 386 Quellen und Literatur............................................................................ 387 Personenregister ................................................................................... 405 - 5 - I. Vorbemerkung «Ja, vielleicht verhält es sich sogar so, dass dieser völlige Mangel an Kon- takt mit der Nazi-Mentalität es mir zunächst schwer oder unmöglich machte, eben diese Mentalität wirkungsvoll zu bekämpfen. Unser Hass wird wohl nur dort aktiv und militant, wo wir eine gewisse Nähe zum Gegner spüren. Man bekämpft nicht – oder doch nicht mit vollem Einsatz –, was man durchaus verachtet... Diese Nazis – ich verstand sie nicht. Ihre Jour- nale – ,Stürmer', ,Angriff‘, ‚Völkischer Beobachter' oder wie der ‚Unflat‘ sonst noch heissen mochte – hätten ebensogut in chinesischer Sprache er- scheinen können. Ich kapierte kein Wort.» Klaus Mann (1906-1949)1 Der SS-Brigadeführer Franz Alfred Six, Jahrgang 1909, war der Vorge- setzte Adolf Eichmanns. Einige Jahre lang galt er als der bevorzugte «junge Mann» Reinhard Heydrichs im SD, dem mysteriösen «Sicherheitsdienst des Reichsführers SS». Viele sahen in Six den Idealtyp des SS-Intellektuel- len im nationalsozialistischen Reich. Im Nürnberger Einsatzgruppen-Pro- zess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, aber vorzeitig wieder in die Freiheit entlassen, avancierte er in den 60er Jahren zu einem der führenden bundes- deutschen Marketing-Experten. Diese Untersuchung beschäftigt sich mit den Karrierestufen eines Mit- glieds der genuin nationalsozialistischen Elite. Six war ein SS-Führer und NS-Wissenschaftler, dessen gesellschaftlicher Aufstieg sich vollständig aus dem sozialen und kulturellen Kontext des «Dritten Reiches» ergab. Seine Laufbahn ist exemplarisch und einzigartig zugleich. Er gründete als NS- Studentenpolitiker in jungen Jahren das Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Königsberg, organisierte im Auftrag Heydrichs den Auf- bau der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin und baute im SD-Hauptamt eine effiziente Presseabteilung auf. Sein Spezialge- biet war die Erkundung der «weltanschaulichen Gegner» des NS-Regimes. Seine Schüler und Kollegen aus dem SD-Netzwerk nahmen in der Bun- desrepublik wichtige Rollen in der Industrie, beim Management-Training -7- Training und in der praktischen Publizistik ein – unter anderem als Ressort- leiter beim «Spiegel». Obwohl Six in der Bundesrepublik unter vollem Na- men (und unter Beibehaltung seiner akademischen Titel) lebte und arbei- tete, wurde ihm kaum jemals zeithistorisches Interesse zuteil2 – seine Funk- tion bei der Expansion des Heydrich’schen Apparates, vor allem im Vorfeld der Judenvernichtung, war weniger spektakulär und schwerer zu fassen als die Aktionen Eichmanns, aber nicht weniger bedeutsam. Die Studie wird zeigen, dass ideologisches Projektmanagement', gekoppelt an die Chance, in einer neuen Machtsphäre agieren zu können, bei der Stabilisierung der NS-Herrschaft eine zentrale Rolle spielte. Die dabei erzielten kommunika- tiven Erfahrungsgewinne konnten dann, ihrer nationalsozialistischen Be- sonderheit entkleidet, in der Bundesrepublik für neue Karrieren in der freien Wirtschaft genutzt werden. Die Untersuchung über Six, über seine Mentalität, sein Denken und sei- nen durch viele Krisen gekennzeichneten Lebensweg, berührt Schnittfelder der Kommunikations-, Wissenschafts- und Zeitgeschichte und ist daher von vornherein interdisziplinär angelegt. Sie beruht im Wesentlichen auf neu erschlossenen Quellen aus dem US-Holocaust-Research-Institute, dem «Sonderarchiv» Moskau (Osobiy), dem Staatsarchiv Nürnberg, Protokollen des US-State Departments, Materialien aus verschiedenen Universitätsar- chiven, Befragungen von Zeitzeugen sowie Ergebnissen staatsanwalt- schaftlicher Ermittlungen. Die Arbeit ist in den Jahren 1990-1997 entstanden, als der Verfasser un- ter anderem als Direktor des Adolf Grimme Instituts in Marl und als Leiter des Internationalen Fernsehfests Köln tätig war. Dass die in vielerlei Hin- sicht komplexen Recherchen in eine geschlossene Darstellung münden konnten, ist den Freunden, Mitarbeitern und Ratgebern zu verdanken, die den Autor während dieser Zeit beim Aufspüren von Quellen und Zeitzeu- gen unterstützt haben: Eva Thirring (Marl); Sabine Wagner, Gerd Fittkau, Christoph Jäckel (Berlin); Stefanie Oehmen, Dorothee Schmidt, Malika Rabahallah, Dieter Anschlag, Sylke Hachmeister, Stefanie Sobola, Wout Nierhoff, Jan Lingemann, Steffen Grimberg (Köln), Michael Münch (Mün- ster), Judith Schulte-Loh, Armin Stauth (Moskau), Bettina Wagener (Lon- don), Oktavia Brügger (Rom) und Christian Buxot (Würzburg). Ulrich Herbert, dem Verfasser einer Studie über den Gestapo-Organisa- tor Werner Best, und Michael Wildt, der eine wichtige Dokumentation zur «Judenpolitik des SD» ediert und die Strukturen des Reichssicherheits- hauptamtes (RSHA) erforscht hat, verdanke ich wertvolle Ratschläge zur Forschungssituation und zu konzeptionellen Fragen. Ein Gespräch mit -8- Hans Abich, der bei Six in Berlin studierte, hat mich dazu bewogen, nach der ersten Recherchephase das Buch auch tatsächlich zu schreiben. Klaudia Brunst und Michael Rediske ermöglichten als Chefredakteure der «taz» die Publikation eines Textes zur Frühgeschichte des «Spiegel»3, der als Teiler- gebnis der Six-Studie offenkundig an manche Tabus der bundesdeutschen Mediengeschichte rührte und deutlich gemacht hat, dass die hier verhan- delte Biographie mehr mit der deutschen Gegenwart zu tun hat, als sich noch beim Angang der Untersuchung ahnen liess. L. H., Köln, im Herbst 1997 II. «Durch Tod erledigt» Das «Einsatzkommando Österreich»: Wien 1938 Am frühen Morgen des 25. April 1938 barg der Oberstrommeister Karl Franz in der Donau bei Hainburg, fünfzig Kilometer stromabwärts von Wien, eine unbekannte männliche Leiche. Ihrem äusseren Zustand nach zu urteilen, musste sie bereits mehrere Wochen im Wasser gelegen haben. Im Beschauprotokoll des Stadtpolizeiamtes Hainburg wurde das Alter des Mannes auf etwa 45 bis 50 Jahre geschätzt. An Kleidungsstücken und Ef- fekten, so das Protokoll, waren vorhanden: Stoffweste und Hose vom Wie- ner Schneider Josef Prix, ein blaugeblümter Selbstbinder Marke «Jacouet», ein goldener Siegelring mit Familienwappen und «1 goldener Ring mit caluschonartig geschliffenem blauen Saphir mit 2 Brillanten, innen gra- viert: 30. VI. 1934».1 Aufgrund dieser Angaben und der auffälligen Goldarbeiten im Zahnbe- stand des Leichnams konnte der tote Mann rasch identifiziert werden. Es handelte sich um Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, geboren in Ehringerfeld bei Lippstadt, 31 Jahre alt, zuletzt Attaché an der Deutschen Botschaft in Wien. Lebend war von Ketteler zuletzt gegen Mitternacht des 13. März 1938 gesehen worden, einen Tag nach dem Einmarsch der deut- schen Wehrmacht in Österreich. Sein spurloses Verschwinden hatte zu- nächst für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Botschafter Franz von Papen war zum Chef des Sicherheitsdienstes der SS (SD), Reinhard Heydrich, ge- eilt und hatte um Aufklärung darüber gebeten, «ob Herr von Ketteler nicht etwa versehentlich verhaftet wurde». Papen unterrichtete, wie er in einem Vermerk am 5. April 1938 festhielt, auch den «Führer und Reichskanzler kurz über die Sache» und verständigte den Reichsführer SS Himmler, Feld- marschall Göring sowie den Staatssekretär für das Sicherheitswesen in Österreich, SS-Gruppenführer Kaltenbrunner.2 Am 25. März gab der Reichsführer SS folgenden Erlass heraus: «Mit sofortiger Wirkung weise ich den Chef der Ordnungspolizei
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