Beitrag Vermeulen.Indd

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Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte Bd. 40, 2019, S. 91–117 Ethnographie, Ethnologie und Anthropologie im 18. und 19. Jahrhundert: Einheit, Vielfalt und Zusammenhang Han F. Vermeulen, Halle (Saale) Abstract1 „Welche Ethnologie meint man?“ In der deutschspra- chigen Literatur der Nachkriegszeit wird sowohl von Die Geschichte der Ethnologie beginnt für viele erst ab Ethnologie im Sinne einer Völkerkunde als auch im 1860 mit Adolf Bastian in Deutschland und E. B. Tylor Sinne einer Volkskunde (oder „national ethnology“) in England oder seit 1887 mit Franz Boas in den USA gesprochen; im englischsprachigen Raum spricht man bzw. um 1898 mit Émile Durkheim und Marcel Mauss von „cultural anthropology“ und „social anthropo- in Frankreich. So kann man es in den Lehrbüchern logy“; und neuerdings hört man in Deutschland von lesen: Die Wurzeln der Ethnologie liegen im 19. Jahr­ einer „Sozial- und Kulturanthropologie“. So war die hundert; die deutsche Ethnologie fängt mit Bastian an. Lage um 1980; so ist sie seit der Wende in Deutschland Ähnlich wird die Anthropologie oft mit dem Wirken von und Osteuropa im Allgemeinen. Es gibt eine Vielfalt Rudolf Virchow in Berlin verbunden. Meine Recherchen von Konzepten und Richtungen, die Außenseiter wie haben jedoch ergeben, dass beide Disziplinen bereits im Einheimische kaum durchschauen können. Jedes 18. Jahrhundert entstanden sind, und zwar als parallele Handbuch der Ethnologie hat sich mit diesen Fragen Entwicklungen in unterschiedlichen Wissensbereichen. auseinanderzusetzen: Wie definiert man das zu behan- Im diesem Artikel werde ich auf beide Entwicklun­ delnde Fach; mit welchen Autoren fängt man an? So gen Bezug nehmen und zeigen, dass die Ethnographie stellte auch Bastian in seiner Vorgeschichte der Ethno­ 1732−1747 im Rahmen der Erforschung Sibiriens von logie die Frage, „wann die Ethnologie zuerst in’s Leben dem Historiker G. F. Müller als eine beschreibende und getreten” sei (Bastian 1881b: 12). vergleichende Studie aller Völker hervortrat; dass die Übersieht man die Literatur im englischen, fran- Ethnologie 1771−1775 von A. L. Schlözer in Göttingen zösischen oder deutschsprachigen Raum, dann fällt als eine allgemeine Völkerkunde weiterentwickelt und auf, dass die Antworten gestaffelt sind. Ethnographie 1781−1783 von A. F. Kollár in Wien als ethnologia de­ gab es bereits in der Antike bei Herodotus, Tacitus finiert wurde; und dass die Anthropologie als eine „Na­ und Strabo; sie wurde im Mittelalter von Reisenden, turgeschichte des Menschen“ durch Linné in den Jahren wie Carpini, Rubruck, Marco Polo, Mandeville, oder 1735−1758, Buffon von 1749−1777 und durch Blumen­ von Historikern, wie Ibn Battuta oder Ibn Khaldūn, bach in den Jahren 1775−1795 herausgebildet wurde. betrieben; erfuhr einen Aufschwung mit den übersee- Diese Entwicklungen kann man bis zur Gründung der ischen Reisen von Columbus, Da Gama usw. im ersten BGAEU im Jahr 1869 nachvollziehen. Zeitalter der Entdeckungen (1450−1700); wurde von spanischen und französischen Historikern, wie De Einleitung Acosta, Oviedo, De las Casas, De Sahagún, De Léry oder Lafitau, in der neuen Welt weitergeführt; in der Am Anfang meiner wissenschaftshistorischen For- französischen und schottischen Aufklärung von Philo- schungen in Leiden, in den Jahren 1980−1982, stand sophen, wie Montesquieu, Voltaire, Helvétius, Diderot die Frage „Wann beginnt die Ethnologie?“ Diese oder Ferguson, Smith, Kames, Robertson, betrieben; scheinbar naive Frage warf eine weitere Frage auf: und im 18. Jahrhundert von Prä-Romantikern, wie 1 Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten bei der Berliner bara Rieprecht, Volkmar Schüller, Dirk Nijland, Reimar Sche- Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte fold, Justin Stagl und Wieland Hintzsche. Anett C. Oelschlägel (BGAEU) in Berlin-Dahlem am 25. Februar 2019. Teile dieses bin ich dankbar für die sprachliche Überarbeitung. Dem Max- Aufsatzes erschienen auf Englisch in Этнография/Etnografia Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale) (2018) und auf Französisch in Bérose – Encyclopédie internatio­ danke ich für die Unterstützung meiner Forschung seit 2006. nale des histoires de l’anthropologie (2019). Für die freundliche Stichworte: Forschungsreisen, deutsch-russische Zusammen- Einladung danke ich dem Vorsitzenden Alexander Pashos; für arbeit, systematische Ethnographie, Geschichte der Ethnologie Kommentare und Hinweise Peter Bolz, Marion Melk-Koch, Bar- und der Anthropologie, liberale Ethnologie. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte / Band 40 / 2019 / 91–117 / DOI 10.30819/mbgaeu.40.8 / © Logos + Autoren 92 Han F. Vermeulen, Halle (Saale) Rousseau und Herder, sowie von Vater und Sohn wussten, hinzu und was tat das 19. Jahrhundert mit Forster während den Weltumseglungen von James den Kenntnissen und Einsichten der Wissenschaftler Cook praktiziert. Die Ethnologie begann laut vieler des 18. Jahrhunderts? Dazu kommt ein paradigmati- Autoren erst mit den ethnologischen Gesellschaften, scher Fokus im Sinne von Forschungsprogrammen, die 1839−1843 in Frankreich, den USA und England wobei Paradigma definiert wird als ein „research pro- gegründet wurden; seit 1860 machten Bastian, Tylor gramme“ (Lakotos 1977), sowie eine Orientierung auf und Boas sie zu einer selbständigen Wissenschaft. konzeptionelle Geschichte im Sinne einer emic (vs. Dass gerade um 1860 in Frankreich, England und den etic) Betrachtungsweise. Zusammengefasst nenne ich USA die physische Anthropologie dominant wurde, dies eine „historizistisch-emic-paradigmatische“ Me- und „Anthropologie“ seit 1870 als der übergeordnete thode (Vermeulen 2015: 35). Der Fokus liegt dabei auf Begriff galt, dem die Ethnologie unterzuordnen sei, ist einer longue durée Perspektive und die Arbeitsweise ein verkomplizierender Faktor, der kaum berücksich- beinhaltet eine Kontextualisierung der akademischen tigt wird. Für ein klares Verständnis der Entwicklun- Entwicklungen im soziopolitischen und kolonial- gen beider Parallelfächer ist das jedoch unumgänglich. imperialistischen Rahmen, die in diesem Aufsatz nur In solchen Angaben fehlen bislang Daten über die angedeutet werden können. Entwicklung der Ethnographie und Ethnologie in der deutschen Aufklärung. Das ist bedauerlich, weil ge- I. Die Genese der Ethnographie rade im 18. Jahrhundert diese Felder von deutschspra- chigen Historikern und Naturhistorikern konzipiert Forschungen in Halle (Saale), Sankt Petersburg, Mos- und umrissen wurden. In Before Boas (2015) habe ich kau und Novosibirsk haben ausgewiesen, dass die gezeigt, dass die Genese der Ethnographie und ihrer Ethnographie in einer bestimmten Region und in ei- jüngeren Schwester, der Ethnologie, in der deutschen nem bestimmten Zeitalter entstanden ist, nämlich in Aufklärung stattfand, d. h. im „langen“ achtzehnten Sibirien als Ergebnis der deutsch-russischen Zusam- Jahrhundert. Die Ethnographie entstand als eine Be- menarbeit im frühen 18. Jahrhundert. Historiker, wie schreibung der Völker während der Frühaufklärung Gerhard Friedrich Müller, und Naturhistoriker, wie Jo- in Sibirien; die Ethnologie wurde als eine allgemeine hann Georg Gmelin oder Peter Simon Pallas, erforsch- Untersuchung der Völker oder Nationen während der ten das Russische Reich im Auftrag der Akademie der Spätaufklärung in Göttingen und Wien begründet. Wissenschaften in Sankt Petersburg und sammelten Beide Wissenschaftstraditionen, die erste deskriptiv, sowohl naturhistorische als auch historische Daten. die zweite allgemein und vergleichend, bezogen sich Dabei waren ethnographische Beschreibungen ein- auf ein neues Forschungsfeld, das auf Deutsch mit begriffen. Auch wenn das Fach noch nicht Ethnogra- „Völker-Beschreibung“ (1740) und „Völkerkunde“ phie genannt wurde, sondern „Völker-Beschreibung“ (1771−1775), auf Neugriechisch mit den Begriffen (Müller 1740), war es wesentlich anders als eine Proto- „ethnographia“ (1767) und „ethnologia“ (1781−1783) Ethnographie. Der russische Historiker der Ethnolo- umschrieben wurde. Alle diese Konzepte wurden in gie, Sergei Tokarev, machte 1966 einen Unterschied der Aufklärung geprägt. Zusammen weisen sie auf ein zwischen „Ethnographie als Wissenschaft” und „eth- damals neues Feld der Theorie und Praxis hin, das ein nographische Kenntnisse“. In der Tat macht es Sinn, oder mehrere Forschungsprogramme beinhaltete. zwischen ethnographischen Berichten (ethnographic In solchen Übersichten wird auch nicht berück- accounts) und Ethnographie im Sinne einer umfassen- sichtigt, dass die Anthropologie, also, die Wissenschaft den „Völker-Beschreibung“ zu unterscheiden. vom Menschen, eine Erfindung der Renaissance und Ethnographische Berichte hat es seit der Antike ge- der Humanisten war (De Angelis 2010), und dass sie geben; sie waren weder systematisch noch vollständig. im 16., 17. und 18. Jahrhundert von Medizinern, Theo- Es ist dem Historiker Müller zu verdanken, dass die logen und Philosophen betrieben wurde, bevor sie von Ethnographie sowohl systematisch als auch umfassend Naturhistorikern, wie Linné, Buffon und Blumenbach, wurde. Deshalb kann man sie als eine systematische zu einer „Naturgeschichte des Menschen“ vereinbart Ethnographie umschreiben. Ab 1732 entwickelte Mül- wurde (Vermeulen 2015). ler ein Forschungsprogramm zur Beschreibung aller Um diese Prozesse analysieren zu können, ist eine Aspekte aller Völker aller Zeiten, das im nördlichen zuverlässige Methode notwendig. Statt präsentistisch, und östlichen Asien praktiziert wurde, mit dem

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