7. Nationalsozialistische Herrschaft in Der Tschechoslowakei 1939-1945

7. Nationalsozialistische Herrschaft in Der Tschechoslowakei 1939-1945

7. NATIONALSOZIALISTISCHE HERRSCHAFT IN DER TSCHECHOSLOWAKEI 1939-1945 Der wechselvollen böhmischen Geschichte ist nicht allein mit Anmut und Friedfertigkeit beizukommen, grünen Hügeln, Dorfkirchen und blauen Wolken, vor allem nicht, wenn die Okkupationszeit, das Protektorat, und die Ereignisse von 1945 bis 1948, Vertreibung und Enteignung, auch die nach dem kommunistischen Putsch, zur Frage stehen. Der Patriotismus der einen wie der anderen baut seine Barrikaden und Mauern, die den Blick verstellen, und die amtlich schematischen Schwarzweißperspektiven von Schuld und Unschuld suchen sich anstelle von Tragik, Lächerlichkeit, Lüge und unerwarteter Humanität festzusetzen. Peter Demetz, Das Dorf und die Deutsche (2010) Die Tschechen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ 777 Verfolgung, Entrechtung, Enteignung und Vertreibung der Deutschen in und aus der Tschechoslowakei waren einerseits Konsequenzen aus der nationalso- zialistischen Gewaltpolitik gegenüber Tschechen und Slowaken, andererseits Teil der alliierten Politik gegenüber Hitler-Deutschland und „den Deutschen“, die unter den Leitmotiven Kollektivschuld, Rache, Vergeltung, Kollektivstrafe und Zwangsaussiedlung stand. Darüber hinaus entwickelten die tschechischen, slowakischen und tschechoslowakischen Widerstandsorganisationen ebenso wie die tschechoslowakischen Exilorganisationen – vornehmlich in London und Moskau – eigene Strategien für die Bestrafung der Deutschen nach dem Welt- krieg, hinter denen durchaus auch alte nationale Feindbilder und Neidkomplexe sichtbar wurden, die jedenfalls bis 1918, in Ansätzen sogar bis 1848 zurück- reichten.1531 Ein Photo vom Einmarsch der Wehrmacht in Prag, das Geschichte gemacht und sich tief ins kollektive Gedächtnis der Tschechen eingegraben hat, ist das Photo von Karel Hájek. Es zeigt zwei in ihrem offenen Militärauto sitzende deutsche Soldaten vor der am Straßenrand stehenden tschechischen Bevölke- rung, die in ohnmächtiger Wut und tiefer Verzweiflung von tschechischen Ord- nungskräften zurückgehalten wird. Ob man den verbitterten und weinenden Ge- sichtern der tschechischen Frauen und den steinernen Mienen der tschechischen Polizisten auch ablesen kann, dass sie – wie Wilma Iggers meint – auch „dage- gen gekämpft hätten, wenn man sie nur gelassen hätte“, darf jedoch bezweifelt werden.1532 1531 Vgl. Václav KRAL (Hg.), Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933-1947. Dokumenten- sammlung (Praha 1964); Detlef BRANDES, Die Tschechen unter deutschem Protektorat. Bd. 1: Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren bis Heydrichs Tod (1939-1942), (München – Wien 1969); Bd. 2: Besatzungspolitik, Kollabora- tion und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren von Heydrichs Tod bis zum Prager Aufstand (1942-1945), (München – Wien 1975); Ferdinand SEIBT, Deutschland und die Tsche- chen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas (München 1993); Friedrich PRINZ, Böhmen und Mähren (Berlin ²2002); Jítka VONDROVÁ (Hg.), Češi a sudetoněmecká otázka 1939-1945 (Praha 1994); Richard G. PLASCHKA, Horst HASELSTEINER, Arnold SUPPAN und Anna M. DRABEK (Hgg.), Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938-1948 (Wien 1997); Miroslav KÁRNÝ, Jaroslava MILOTOVÁ und Margita KÁRNÁ (Hgg.), Deutsche Politik im „Protektorat Böhmen und Mähren“ unter Reinhard Heydrich 1941-1942. Eine Dokumentation (Berlin 1997); Jörg K. HOENSCH – Hans LEMBERG (Hgg.), Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815-1989 (Essen 2001); Monika GLETTLER, L’ubomír LIPTÁK und Alena MÍŠKOVÁ (Hgg.), Geteilt, besetzt, beherrscht. Die Tschechoslowakei 1938-1945: Reichsgau Sudetenland, Protektorat Böhmen und Mähren, Slowakei (Essen 2004); Jan GEBHART – Jan KUKLÍK, Velké dějiny zemí koruny české, sv. XVIa, b [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone] (Praha – Litomyšl 2007); Jan UHLÍŘ, Protektorát Čechy a Morava v obrazech (Praha 2007); Pavel MARŠÁLEK, Pod ochranou hákového kříže. Nacistický okupační režim v českých zemích 1939-1945 (Praha 2012). 1532 IGGERS, Das verlorene Paradies, 778; Horst BREDEKAMP, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Flacke, Mythen der Nationen 1945, 29-66. 778 Nationalsozialistische Herrschaft in der Tschechoslowakei 1939-1945 Die Tschechen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ Die deutschen Truppen waren in zwei Heeresgruppen unter dem Oberbefehl der Generäle Johannes Blaskowitz und Wilhelm List in Böhmen und Mähren einmarschiert, unterstützt von den Gauleitern Henlein und Bürckel als Chefs der Zivilverwaltungen. Die Militärverwaltung ordnete das Weiterarbeiten der tschechischen Landesbehörden an und verbot der Truppe Requisitionen – auch Einkäufe unter Ausnutzung der billigen Preise und des überhöhten Wechsel- kurses von 1 RM gleich 10 Kronen. Generalquartiermeister Wagner erkann- te hingegen in der Beute an militärischem Gerät sogleich einen „ungeheuren Kraftzuwachs“.1533 Während Hácha mit seiner Entourage zu Mittag des 15. März 1939 per Bahn von Berlin nach Prag zurückfuhr, bestieg Hitler einen Sonderzug und fuhr mit einer Gruppe von Parteifunktionären, Militärs und Beamten vom Auswärtigen Amt nach Böhmisch-Leipa (Česká Lípa), wo sie in eine Autokolonne umstiegen und unter Führung von Karl Hermann Frank nach Prag fuhren. Um 20 Uhr am Hradschin angekommen, wurde die Gruppe vom bekannten Hotel Lippert mit Prager Schinken und tschechischem Bier versorgt. Hácha traf erst nach Hitler auf der Prager Burg ein und erfuhr zu seinem großen Erstaunen vom unwillkommenen Gast unter demsel- ben Dach. Staatssekretär Stuckart vom Reichsinnenministerium, NSDAP-Mitglied seit 1922 und Teilnehmer am Hitler-Putsch 1923, musste die ganze Nacht über die Endversion des Protektoratsstatuts ausarbeiten, wobei er sich nach dem Vorbild des französischen Protektoratsstatuts für Tunis 1881 richtete.1534 Bereits am Morgen des 16. März 1939 erließ Hitler von Prag aus ein Statut für das „Protektorat Böhmen und Mähren“, das mit einer Reihe historisch und poli- tisch zurecht gebogener Begründungen eingeleitet wurde: „Ein Jahrtausend lang gehörten die Böhmisch-mährischen Länder zum Lebensraum des deutschen Volkes. Gewalt und Unverstand haben sie aus ihrer alten historischen Umgebung willkürlich ge- rissen und schließlich durch ihre Einfügung in das künstliche Gebilde der Tschecho-Slowakei den Herd einer ständigen Unruhe geschaffen. Von Jahr zu Jahr vergrößerte sich die Gefahr, dass aus diesem Raum heraus – wie schon einmal in der Vergangenheit [Hitler meinte offensichtlich den Dreißigjährigen Krieg, Anm. Suppan] – eine neue ungeheuerliche Bedrohung des europäischen Friedens kommen würde. Denn dem tschechoslowakischen Staat und seinen Machthabern war es nicht gelungen, das Zusammenleben der in ihm willkürlich vereinten Völkergruppen vernünftig zu organisieren und damit das Interesse aller Beteiligten an der Aufrechterhaltung ihres gemein- samen Staates zu erwecken und zu erhalten. Er hat dadurch aber seine innere Lebensunfähigkeit erwiesen und ist deshalb nunmehr auch der tatsächlichen Auflösung verfallen. Das Deutsche Reich aber kann in diesen sowohl für seine eigene Ruhe und Sicherheit als auch für das allgemeine Wohlergehen und den allgemeinen Frieden so entscheidend wichtigen Gebieten keine andauernden Störungen dulden. Früher oder später müsste es als die durch die Geschichte und geographische Lage am stärksten interessierte und in Mitleidenschaft gezogene Macht die 1533 UMBREIT, Kontinentalherrschaft, 22. 1534 DEMETZ, Prague in Danger, 16-18. Die Tschechen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ 779 schwersten Folgen zu tragen haben. Es entspricht daher dem Gebot der Selbsterhaltung, wenn das Deutsche Reich entschlossen ist, zur Wiederherstellung der Grundlagen einer vernünftigen mitteleuropäischen Ordnung entscheidend einzugreifen und die sich daraus ergebenden Anord- nungen zu treffen. Denn es hat in seiner tausendjährigen geschichtlichen Vergangenheit bereits bewiesen, dass es dank sowohl der Größe als auch der Eigenschaften des deutschen Volkes allein berufen ist, diese Aufgaben zu lösen. Erfüllt von dem ernsten Wunsch, den wahren Interessen der in diesem Lebensraum wohnenden Völker zu dienen, das nationale Eigenleben des deutschen und tschechischen Volkes sicher- zustellen, dem Frieden und der sozialen Wohlfahrt aller zu nützen, ordne ich daher namens des Deutschen Reiches als Grundlage für das künftige Zusammenleben der Bewohner dieser Gebiete das Folgende an:“ 1) Die von den deutschen Truppen im März 1939 besetzten Landesteile der ehe- maligen tschecho-slowakischen Republik gehören von jetzt ab zum Gebiet des Großdeutschen Reiches und treten als „Protektorat Böhmen und Mähren“ un- ter dessen Schutz. 2) Die volksdeutschen Bewohner des Protektorates werden deutsche Staatsan- gehörige und Reichsbürger; die übrigen Bewohner von Böhmen und Mähren werden Staatsangehörige des Protektorates. 3) Das Protektorat Böhmen und Mähren ist autonom und verwaltet sich selbst. Es übt seine Hoheitsrechte im Einklang mit den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Belangen des Reiches aus. 4) Das Oberhaupt der autonomen Verwaltung des Protektorates genießt den Schutz und die Ehrenrechte eines Staatsoberhauptes; es bedarf für die Aus- übung seines Amtes des Vertrauens des Führers und Reichskanzlers. 5) Als Wahrer der Reichsinteressen ernennt der Führer und Reichskanzler einen „Reichsprotektor in Böhmen und Mähren“ mit Amtssitz in Prag. Er ist Ver- treter des Führers und Reichskanzlers und Beauftragter der Reichsregierung. Die Mitglieder der Regierung des Protektorates werden vom Reichsprotektor

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