(Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? § Kein Urknall: Die Schöpfungsgeschichte der Gratis- Pendlerpresse § Sechs Gründe, weshalb die Verhältnisse in der Schweiz in gewisser Hinsicht himmlisch wurden § Ein Fluch? Risiken durch die Gratiszeitungen § Ein Segen? Chancen durch die Gratiszeitungen § Ein Fazit 1 (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing I. Kein Urknall: Die Schöpfungsgeschichte der Gratis- Pendlerpresse Die Pendlerpresse scheint uns zu überschwemmen, wir sind versucht, uns einem ganz neuen Phänomen gegenüber zu sehen, ja, vielleicht sogar ausgeliefert. Ein Phänomen, dessen Geburt gerne an den Erfolg des Gratisblatts „Metro“ geknüpft wird, das 1995 von Schweden aus viele lokale Märkte dieser Welt eroberte. Und ein Phänomen, das fast über Nacht die Schweiz ergriff, während das Nachbarland Deutschland geradezu „verschont“ scheint… Tatsächlich ist es anders. Es gab keinen Urknall, durch den ganz plötzlich eine neue globale Zeitungswelt entstand. Manches gab es schon längst, anderes hingegen ist schlicht anders geworden, einiges ist neu. Gratiszeitungen gibt es seit mehr als einem Jahrhundert, die erste weltweit war der „Manly Daily“ 1906 in Australien. Ihn gibt es heute noch. Er gehört nun zu Rupert Murdochs News Corporation. In den USA geht der Siegeszug der Gratistagespresse zurück in die 40er Jahre, in Spanien begann er bereits Anfang der 90er Jahre. Auch mit dem öffentlichen Nahverkehr als Vertriebsweg für Gratisblätter wurde bereits experimentiert.1 Neu ist, dass Gratistageszeitung (GTZ) in direkte Konkurrenz treten zur Kauftageszeitung. Neu ist ferner die Vehemenz, mit der sie den Markt überschwemmen. Neu ist auch: ein Teil der Gratispendlerpresse verfolgt ein globales Konzept. Das kann beitragen, „nationale Leserschaften“ in einer globalen Welt zu verbinden. Als Beispiel mag ein Fotowettbewerb gelten, den das Gratisblatt 1 Bakker, Piet (2007): About free dailies. http://www.newspaperinnovation.com/ (1.12.2008). 2 (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing „Metro“ weltweit für die Leserschaft ihrer 70 Ausgaben in 23 Ländern veranstaltete; das Siegerbild ist aus Kanada. Dies allerdings wird Grenzen haben, wie uns die aktuelle Mediensystemforschung lehrt2: Solange ein Konzept im Grunde nicht national spezifiziert ist, sondern weltweit leicht konsumierbare News anbietet, wird es sich handeln lassen wie fast jede andere Ware. Je profilierter hier Journalismus betrieben wird, desto mehr dürften die nationalen Kulturen Unterschiede wieder zum Tragen kommen – und damit die alten, traditionellen Bindungen. Alt sind auch die Klagen. Nach Fernsehen und Onlinemedien und Blogs sind nun gegenwärtig GTZ diejenigen, die man beschuldigt, die guten alten Zeitungen zu verdrängen… Sicher ist: der Markt der Gratispresse ist in Bewegung und durchaus lebendig. Der Kommunikationswissenschaftler Piet Bakker sammelt in seinem Blog www.newspaperinnovation.com internationale Veränderungen, anhand derer man die Vitalität dieses Marktes verfolgen kann. Und speziell ist sicherlich der Erfolg, den die Gratispresse in der Schweiz hat. Ob zum Segen oder zum Fluch, das soll hier Thema sein. Doch bin ich weder Theologin noch Prophetin - so werde ich allenfalls Annäherungen bieten können, die jedoch weder frohlocken lassen werden noch irgendeinen ins Fegefeuer schicken… - es bleibt mir, ein paar Fakten zu vermitteln sowie ein paar Annäherungen an eine Einschätzung und eine Prognose. 2 Vgl. dazu z.B.: Hallin, Daniel & Mancini, Paolo (2004): Comparing Media Systems, Cambridge University Press. 3 (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing II. Sechs Gründe, weshalb die Verhältnisse in der Schweiz in gewisser Hinsicht himmlisch wurden. Zunächst folgt jetzt eine Beschreibung der Situation – zuerst der Situation in der Schweiz.3 Der Fokus richtet sich vor allen Dingen auf die Deutschschweiz – mit Ausblick in die Westschweiz. Dann wird diese in Bezug gesetzt zu den Anfängen und der Entwicklung in Europa. Darauf folgt die Analyse von Gründen für die Gratispresse-Geschichte in der Schweiz. · 1,6 Millionen Exemplare pro Tag - nirgendwo in Europa werden gegenwärtig mehr Gratistageszeitungen pro Kopf gedruckt als in der Deutschschweiz. · Die Tamedia zählte täglich in einem Auflagenvergleich, den sie für ihre Bilanzmedienkonferenz 2008 erstellte, ein Exemplar für jeden zweiten Einwohner über 14 Jahren. · Der Marktanteil der Gratispresse in der Schweiz wird gegenwärtig auf 45 Prozent geschätzt. · Es gibt zurzeit sieben Pendler-Tageszeitungen: „20 Minuten“ (1999), „Baslerstab“ (2000), „Le Matin Bleu“(2005), „Heute“ (2006) - 2008 vom Markt genommen und durch „Blick am Abend“ ersetzt, „Cashdaily“ (2006, Wirtschaft), „.ch“ (2007), „News“ (2007). · Leserzahlen: 1,296 Millionen („20 Minuten“, fünf Ausgaben); 470 000 (20 Minutes“); 524 000 (Le Matin Bleu); 291 000 („Blick am Abend), 283 000 „News“, 204 000 .ch, 112 000 (Cash daily).4 · Bewegung gibt es auch im Markt der Gratis-Wochenzeitungen. Hier tummeln sich alte Hasen wie das „Migros-Magazin“ und die „Coop- Zeitung5, sowie junge Rehe: Filippo Leutenegger brachte vor knapp 3 Prinzing, Marlis (2008b): Gratis 2.0: Strohfeuer oder Feuerwerk? In: Schweizer Journalist 8 + 9 / 2008. 4 http://www.kleinreport.ch/meld.phtml?id=49306 (21.11.2008). 5 Coop-Zeitung: Die Auflage lag 2007 bei 1,77 Millionen Exemplaren und erreichte 2,66 Millionen Leser und das Migros-Magazin mit einer Auflage von 1,6 Millionen Exemplaren 2,3 Millionen Leser. 4 (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing einem Jahr „Neue Ideen“ auf den Markt, ein Fachblatt für alles rund ums Wohnen, das ein Mischkonzept pflegt und auf Mitgliedschaften setzt. Seit Oktober gibt es von der Tamedia ein neues People- Magazin, „Friday“; es tritt an die Stelle von „Week“, das zu Jahresende eingestellt wird. Auch im „Special Interest“-Bereich ist Gratis im Trend: Im Frühjahr 2008 kam „Ladies Drive“ auf den Markt, nach eigenen Angaben Europas erste Autozeitschrift für Frauen, gratis zu haben zum Beispiel bei den Garagisten… . In Europa erschienen im März 2008 insgesamt 130 Gratisblatt-Titel, mehr als 300 Ausgaben breiten sich aus über Europa. In Island, Dänemark, Spanien und Portugal überholten die Auflagen der Gratisblätter in der Summe die der Kaufzeitungen. In einem Dutzend europäischer Länder sind Gratisblätter die auflagenstärksten auf dem nationalen Markt. Ausserhalb Europas sind vor allem Singapur, Hong Kong, Israel, Botswana, die Dominikanische Republik, Kanada und Chile starke Märkte. Im April 2008 gab es in fast allen europäischen Ländern, in den USA, in Kanada, Südamerika, Australien, Asien und Afrika – insgesamt in 56 Ländern weltweit - insgesamt 44 Millionen Exemplare pro Tag und 80 Millionen Leser.6 Dieser Siegeszug, diese Vehemenz, mit der Gratis plötzlich allüberall in der Welt Anklang zu finden scheint, klingt wie ein Märchen. Ist es überhaupt eines? Bevor sich darüber nachdenken lässt, müssen wir zunächst fragen: Wie fing das alles an? Wie begann dieses märchenhaft anmutende Kapitel in der Geschichte der Gratispresse? Es war einmal in Stockholm.7 Man schrieb das Jahr 1973. Ein junger, recht aufmüpfiger Mann sass damals in einer Journalistenschule und horchte auf: Aha, ein Drittel der Einnahmen einer Zeitung kommt aus den Abonnements, Die NZZ nannte beide „stille Riesen“: http://www.nzz.ch/2005/10/14/em/articleD6SYK.html (24.11.2008). 6 Weltverband der Zeitungen, 2007. http://www.wan-press.org/ (21.11.2008). 7 Lüönd, Karl (2008): Sturm im Blätterwald, in: NZZ Folio 10/2008. 5 (Gratis-)Pendlerzeitungen: Segen oder Fluch unseres Mediensystems? Vortrag: Symposium Stiftung Wahrheit in den Medien, Universität Luzern, 6. Dezember 2008 / Dr. Marlis Prinzing ein Drittel kostet der Vertrieb – macht unterm Strich Null! Das passte ja ideal. Ideal jedenfalls zu den Ideen, die ihm sonst so gefielen und die damals en vogue waren in der linken Szene: Man schätzte dort Mao und mochte die Vorstellung, allen Leuten Gratis-U-Bahnfahren anzubieten. Was passte besser, als dann auch noch eine Gratis-Zeitung dazu zu lesen! Bildung für alle zum Nulltarif! Logisch. Logisch für einen wie Anderson. Doch so schnell geht das alles auch im Märchen nicht. Anderson wurde Journalist, Unternehmer und Zeitungsdesigner, er wurde älter und erfolgreich und noch erfolgreicher… Doch seine Idee aus jungen Jahren, die vergass er nicht. Anfang der 90er Jahre hatte er ein Konzept, das man nur noch startklar machen musste, doch noch immer keinen, der das Geld gab. Auch die Betreiber öffentlicher Verkehrsbetriebe zogen noch nicht mit. Da begegnete Andersen eines schönen Tages einem Unternehmer, der den Daumen hob: Jan Stenbeck war bereit, das Gratispresseprojekt Metro über den innovativ orientierten Zweig seiner Modern Times Group zu finanzieren. Nun ging alles voran: Als 1994 das Kapital bereit lag, öffneten sich auch die Türen für die Sicherstellung des Vertriebswegs
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