01 Schmid Russ Medien.Indd

01 Schmid Russ Medien.Indd

Facetten der Medienkultur Band 6 Herausgegeben von Manfred Bruhn Vincent Kaufmann Werner Wunderlich Ulrich Schmid (Hrsg.) Russische Medientheorie Aus dem Russischen von Franziska Stöcklin Haupt Verlag Bern Stuttgart Wien Ulrich Schmid (geb. 1965) studierte Slavistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Seit 1993 arbeitet er als freier Mitarbeiter im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung NZZ. 1995–1996 forschte er als Visiting Fellow an der Harvard University. Von 1992–2000 war er Assistent, von 2000–2003 Assistenzprofessor am Slavischen Seminar der Universität Basel. 2003–2004 Assistenzprofessor am Institut für Slavistik der Universität Bern, seit 2005 Ordinarius für slavische Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Publiziert mit der freundlichen Unterstützung durch die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Na- tionalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-258-06762-7 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2005 Haupt Verlag Berne Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Umschlag: Atelier Mühlberg, Basel Satz: Verlag Die Werkstatt, Göttingen Printed in xxx http://www.haupt.ch Inhalt Einleitung Ulrich Schmid Russische Medientheorien xx Grundlagen einer Medientheorie in Russland Nikolai Tschernyschewski Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit (1855) xx Lew Tolstoi Was ist Kunst? (1899) xx Pawel Florenski Die umgekehrte Perspektive (1920) xx Josif Stalin Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft (1950) xx Michail Bachtin Das Problem des Textes in der Linguistik, Philologie und anderen Geisteswissenschaften. Versuch einer philosophischen Analyse (1961) xx Juri Lotman Theatersprache und Malerei. Zum Problem der ikonischen Rhetorik (1979) xx Medien und Politik Iwan Sassurski Die Mediatisierung der Politik (2001) xx Georgi Potschepzow Politische Informationstechnologien (2003) xx Medien und Gesellschaft Michail Jampolski Internet oder Das postarchivarische Bewusstsein (1998) xx Michail Epstein Die Informationsexplosion und das postmoderne Trauma (2000) xx Alexander Woiskunski Die Metaphern des Internet (2001) xx Oleg Aronson Das Fernsehbild oder Adam wird nachgeahmt (2004) xx Medien und Kunst Michail Berg Literaturokratie. Erfolg, Ruhm, Anerkennung: Die Genese der Begriffe (2001) xx Boris Groys Die Kunst als Valorisierung des Wertlosen (1992) xx Jelena Petrowskaja Das Problem des photographischen Codes (2002) xx Wjatscheslaw Kurizyn Der Traum von Netz (2002) xx Biographische Angaben zu den Autoren xx Bibliographische Nachweise xx Vorwort Die Medienwissenschaften gehören an den Universitäten zu den boomen- den Fächern. Das Interesse an den Zusammenhängen zwischen Medien, In- formation und Ideologien ist groß. Die technologischen Innovationen der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass unsere Weltorientierung immer weniger auf direktem Kontakt mit der Realität beruht, sondern zunehmend durch mediale Kodierungen bedingt ist. Globalisierung ist nicht mehr bloß ein politisches Schlagwort, sondern längst schon kommunikative Realität. Jede erdenkliche Information liegt nur noch einen Mausklick entfernt, die Lebenswelt der Menschheit hat sich in eine Benutzeroberfläche verwandelt. Ähnlich wie Walter Benjamin in den 1930er Jahren sind wir heute Zeugen einer medialen Revolution: Mit seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36) hatte Benjamin versucht, die kulturellen Herausforderungen der damals neuen «technischen Künste» wie Fotografie oder Kino zu beschreiben. Gerade auch die Instru- mentalisierung dieser Künste durch die totalitären Systeme seiner Zeit zog Benjamins besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die aktuelle Situation in Russland ist durchaus mit der Lage im Europa der Zwischenkriegszeit vergleichbar: Die Intellektuellen sind konfrontiert mit ei- ner technologischen Revolution, die in kürzester Zeit das traditionelle Leit- medium Buch in den Hintergrund gedrängt hat. Im postkommunistischen Russland verfügt man zudem über einen geschärften Blick für Inszenierun- gen der Macht: Das Sowjetimperium war nicht zuletzt auch ein gigantisches Spektakel, das den Bürgern eine hoch ideologisierte Ersatzwirklichkeit vor- zugaukeln versuchte. Gerade aus medientheoretischer Sicht sollte man das Jahr 1991 für die russische Kultur allerdings nicht ausschließlich als Einschnitt betrachten – dasselbe gilt für das Jahr 1917. Zahlreiche Medienkonzepte ha- ben die politischen Paradigmenwechsel überdauert und sind nur mit neuen ideologischen Inhalten angefüllt worden. Auch bei der institutionellen Kon- trolle über die russischen Medien lassen sich zahlreiche Kontinuitäten beo- bachten. Russische Autoren haben diese Prozesse mit kritischem Blick verfolgt und in kulturwissenschaftlichen Arbeiten analysiert. Obwohl in Russland lau- fend Arbeiten mit medienwissenschaftlicher Relevanz entstehen, existieren die Medienwissenschaften noch nicht als eigene akademische Disziplin. Es gibt bislang noch nicht einmal eine russische Bezeichnung für dieses Fach. Medientheoretische Arbeiten aus Russland sind zudem in Westeuropa kaum bekannt geworden. Es sind vor allem zwei Gründe, die eine Rezeption ver- hindert haben: Zum einen gibt es natürlich eine Sprachbarriere, zum ande- ren beziehen sich russische Medientheorien oft auf Kulturbestände, die hier wenig bekannt sind. Der vorliegende Band will einen Überblick über den Stand der Medien- theorie in Russland geben. Bei der Auswahl der Texte wurde darauf geachtet, dass die Argumentation auch für Leserinnen und Leser verständlich ist, die mit den Besonderheiten der russischen Kultur wenig vertraut sind. Aus dem- selben Grund wird im Haupttext für russische Eigennamen in der Regel auch die aussprachenahe Dudenumschrift verwendet. In den Fußnoten hingegen gelangt die wissenschaftliche Transkription zur Anwendung. Die Einleitung will die wichtigsten Eckpunkte der russischen Medienthe- orie abstecken. Es versteht sich von selbst, dass viele relevante Themen hier nur oberflächlich oder auch gar nicht behandelt werden können. Gleichwohl habe ich zumindest versucht, die wesentlichen Entwicklungslinien in der rus- sischen Medientheorie zu skizzieren. Dieses Buch verdankt sein Entstehen einer Anregung von Felix Philipp In- gold. Meine Bochumer Kolleginnen und Kollegen Maria Brauckhoff, Astrid Deuber-Mankowsky, Sabine Hänsgen, Anne Hartmann, Ursula Justus, Henrike Schmidt, Wolfgang Beilenhoff , Vinzenz Hediger und Klaus Waschik, haben mir wertvolle Anregungen und Hinweise gegeben. Christoph Gassmann hat dieses Buch mit hoher Fachkompetenz und stilistischem Feingefühl lektoriert. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich der Schweizerischen Akademie der Geisteswissenschaften und dem Rektorat der Ruhr-Universität Bochum, die das Erscheinen dieses Bandes mit namhaften Druckkostenbeiträgen ermög- licht haben. Bochum, im Sommer 2005 Ulrich Schmid 9 Ulrich Schmid Russische Medientheorien Die mediale Repräsentation, Organisation und Konstruktion von Wirklich- keit ist immer auch kulturell bedingt. Viele Medienwissenschaftler beziehen sich in ihren Arbeiten implizit oder explizit auf Kulturspezifika, die ein be- stimmtes Mediensystem konstituieren. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei religiöse Traditionslinien, die in den meisten Kulturen die Rahmenbe- dingungen definieren, unter denen mediale Repräsentation stattfinden kann. Selbst in den technologisierten Medien der säkularisierten Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirken solche Ausprägungen noch stark nach.1 Gleichzeitig fällt auf, dass die Medienwissenschaft der historischen Di- mension besondere Aufmerksamkeit schenkt: In Längsschnittstudien hat man versucht, die abendländische Kulturgeschichte in Abhängigkeit von der technischen Entwicklung der Medien zu beschreiben. Dabei ist die For- schung zu anregenden Einsichten gelangt, die aber nicht selten der Gefahr einer Technikdeterminismus erliegen. So versteht etwa Marshall McLuhan die Ideale der französischen Revolution als Effekte des Buchdrucks,2 Neil Postman glaubt, dass Gutenberg und Luther nur zwei Seiten dessel- ben Phänomens darstellen,3 Friedrich Kittler verbindet Jacques Lacans Wahrnehmungskategorien des «Realen», «Symbolischen», «Imaginären» mit den Aufschreibsystemen Grammophon, Schreibmaschine, Film.4 Hartmut Böhme dehnt den Längsschnitt schließlich gar bis in die Jungzeitsteinzeit aus und spricht in diesem Zusammenhang von einer «Paläomediologie».5 Die spezifische Funktionsweise von Medien kann wahrscheinlich durch eine Analyse der kulturellen Voraussetzungen bestimmter Repräsentationsweisen adäquater als in einer rein diachronen Perspektive erfasst werden.6 Das weite Bedeutungsspektrum des Medienbegriffs fordert nachgerade zu einer kultur- wissenschaftlichen Erklärung auf: Bereits die alltagssprachliche Bezeichnung von Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Radio als «Medien» wird in je- dem Kulturbereich ganz unterschiedlich konnotiert. Ähnliches gilt für einen wissenschaftlich differenzierteren Medienbegriff, der sich auch auf so unter- 10 Autor schiedliche Bereiche wie Kunsttypologie, Oralität, Körperlichkeit, Raumor- ganisation oder Wahrnehmungsstruktur erstreckt. Russland ist in solchen Studien bisher noch wenig ins Blickfeld getreten. Bislang gibt es vor allem kulturhistorische Arbeiten zur Funktion von

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