TATORT. Die Normalität Als Abenteuer

TATORT. Die Normalität Als Abenteuer

AUGEN-BLICK MARBURGER HEFfE ZUR MEDIENWISSENSCHAFf Heft 9 Dezember 1990 Herausgegeben vom Institut für Neuere deutsche Literatur Philipps-Universität- Marburg Redaktion: Prof. Dr. Günter Giesenfeld in Verbindung mit: Dr. Jürgen Felix Prof. Dr. Heinz-B. Heller Prof. Dr. Thomas Koebner Dr. Joachim Schmitt-Sasse Prof. Dr. Wilhelm Solms Prof. Dr. Guntram Vogt ISSN 0179-255 Tatort Die Normalität als Abenteuer Augen-Blick 9 Marburg 1990 Brichtigungen zu Heft 8: Vorwort: das Symposium, das sich mit dem Thema von Heft 8 des AU­ GEN-BLICK befaßte, hat nicht 1985, sondern im Dezember 1987 stattge­ funden. - Auf der Seite 31 (Abb. von Kameras) sind die Bildunterschriften vertauscht worden. Zu den Autoren dieses Hefts: Thomas Koebner, geboren 1941, Studium der Germanistik, Kunstge­ schichte und Philosophie in München. Akademische Stationen: München, Köln, dann Professor in Wuppertal und Marburg. Zur Zeit Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Veröffentlichungen zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert, zum Musiktheater und zur Film- und Fernsehgeschichte Egon Netenjakob, geboren 1935, Studium der Germanistik und Geschichte in München, Theaterwissenschaft in Wien. Lebt seit 1972 als freier Jour­ nalist in Köln. Veröffentlichungen zum Fernsehen u.a.: Liebe zum Fern­ sehen (1984), Biographien zu Eberhard Fechner (1989) und Wolfgang Staudte (ersch. 1991). Die hier veröffentlichten Arbeiten sind Teilergebnisse eines Tatort-Pro­ jekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Sonderforschungs­ bereich A'sthetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien in Deutschland, Siegen und Marburg) und den Sendern unterstützt wurde, die uns Überspielungen zumal älterer Tatorte haben zukommen lassen. Inhaltsverzeichnis Günter Giesenfeld: Vorwort ...................................................... 5 Thomas Koebner: Tatort - zu Geschichte und Geist einer Kriminalfilm-Reihe ...................................................... 7 Egon Netenjakob: Das Vergnügen, aggressiv zu sein. Zum Schimanski-Konzept innerhalb der Tatort-Reihe der ARD ........................................................ 32 Thomas Koebner und Egon Netenjakob: Notate zu einzelnen Tatort-Filmen .................................... 40 Literatur (Auswahl) ................................................................... 93 5 Augen-Blick 9: Tatort Günter Giesenfeld Vorwort Die Tatort-Reihe, die am 29. November 1990 ihren zwanzigsten Ge­ burtstag feiern konnte, ist von der Sendeform her nicht leicht einzuordnen: Sie ist keine echte Serie, obwohl die einzelnen Folgen regelmäßig im Pro­ gramm auftauchen, und obwohl einzelne Kommissarfiguren (wie etwa TrimmeI, Haferkamp oder Schimanski) samt der um sie herumgruppierten Nebenfiguren einen starken "Wiedererkennungseffekt" haben. Aber schon die Tatsache, daß es mehrere und sehr verschiedene Kommissar-typen sind, spricht gegen die "Serien"-Klassifizierung. Auch sind die Filme alle von "abendfüllender" Länge, in der Regel, wie ein Kino-Spielftlm, 90 Minuten. Das allein schon bringt es mit sich, daß jede Folge eine abgeschlossene und zugleich komplexe Handlung aufweist, daß es kaum übergreifende drama­ turgische Elemente gibt. Was die Reihe zusammenhält, ist eher ein Konzept. Und zwar nicht eines von Stereotypen der Handlungsstruktur, etwa des Spannungsaufbaus, oder der PersonendarsteUung. Diese inzwischen weit über 200 Filme einigt eine Idee der Wirklichkeitsdarstellung, die ihnen, entsprechend der Komple­ xität dieses bundesrepublikanischen Lebensraums (zu dem auch die Blicke über die Mauer von Anfang an gehörten) eine ganz unserielle und untri­ viale Vielgestaltigkeit verleiht, die aber doch dafür sorgt, daß jeder einzelne Film wiedererkennbar ein Tatort ist. Wie soU man wissenschaftliche-analytisch mit einem solchen Gegen­ stand umgehen? Wir kennen alle die wortreiche Banalität, die oft entsteht, wenn "triviale" Kunstprodukte interpretiert werden soUen. Die Ergebnisse lassen sich fast immer in drei, vier Grundaussagen ausdrücken, die, der we­ sensmäßigen Gleichförmigkeit der Produkte entsprechend, auch durch aufwendige Analysen nicht über ein gewisses Maß an bescheidener Diffe­ renziertheit hinausgebracht werden können. Das Dilemma scheint vor al­ lem ein methodisches zu sein, auch wenn sich in der forsch verdrängten Unsicherheit diesen Gegenständen gegenüber zunächst nur eine wie immer motivierte Abneigung zu manifestieren scheint. Daß Thomas Koebner und Egon Netenjakob sich ihrem Gegenstand mit sympathisierender Aufmerksamkeit nähern, ist gleichwohl möglicher• weise eine wichtige Voraussetzung dafür, daß es ihnen gelingt, auch einen neuen methodischen Zugang zu gewinnen. Gemäß dem Charakter der 6 Augen-Blick 9: Tatort Tatort-Reihe scheint er zunächst nur in einer Kombination von philologi­ scher Einzelanalyse und übergreifend-typisierender Darstellung zu beste­ hen: es scheint auf den ersten Blick deshalb zu passen, weil die Tatort-Ein­ zelflime der klassischen "Interpretation" sozusagen "standhalten". Aber wer die in diesem Heft veröffentlichten "Notate" aufmerksam liest, merkt bald, daß es dabei nicht bleibt. Dadurch, daß sie jeden einzelnen Film genauso ernst nehmen wie das Publikum, das die Folgen ja auch als einzelne rezi­ piert, lassen sie sich zunächst einmal auf ihn ein, entwickeln sein dramatur­ gisches Gerüst von innen heraus, leiten daraus Aussagen und Intentionen ab, und sammeln schließlich die Indizien ein, die, als nach und nach entste­ hendes Mosaik, die Konturen der Gesamtidee erscheinen lassen. Diese wäre sicher auch zu erschließen, wenn man programmatische Aussagen der Tatort-Macher (obwohl: das sind so viele und verschiedene Autoren, Regisseure und Kommissar-Darsteller, daß sie auch schon ein eher komplexes Bild ergeben) sammeln und strukturieren würde, um sie dann an "ausgewählten Beispielen" zu verifizieren. Der von Koebner und Netenjakob gewählte Weg ist fruchtbarer: er ist nicht nur auf den Vergleich zwischen Intention und Verwirklichung aus; Das konsequente Ernstnehmen auch der Tatort-Idee hebt die Analyse auf ein Niveau, auf dem grundle­ gende Fragen der Wirklichkeitsdarstellung im Fernsehen exemplifizierbar und diskutierbar werden. Insofern ist dieses Heft auch etwas wie ein Werkstattbericht "von au­ ßen". Obwohl nicht an der Konzeption beteiligt, haben sich die beiden Au­ toren so intensiv an die konzeptionellen Probleme herangearbeitet, daß ihre Kritik eine Arbeit solidarisch begleitet, von deren Sinnhaftigkeit sie, wie die Macher, überzeugt sind. Diese Übereinstimmung wird sich am Bei­ spiel anderer Programmsparten nicht immer nachvollziehen lassen. Bei­ spielhaft und anregend dürfte der hier gemachte und vergeführte Vorschlag trotzdem für eine Fernsehwissenschaft sein, der das öffentlich-rechtliche Modell nicht gleichgültig ist. Koebner: Geschichte und Geist einer Kriminalfilm-Reihe 7 Thomas Koebner Tatort - Zu Geschichte und Geist einer Kriminalfilm-Reihe I Die Entstehung des Tatort-Konzepts Tatort ist im deutschen Fernsehen (ARD und ZDF) die Reihe mit der bisher längsten Laufzeit. Am 29. November 1970 wurde der erste Tatort ausgestrahlt, Taxi nach Leipzig (NDR), am 4. Juni 1979 der hundertste Tat­ ort, Ein Schuß zu viel (WDR), am 27. Dezember 1987 der zweihundertste Tatort, Zahn um Zahn (WDR). Ein Ende ist bisher nicht abzusehen. Wie sieht das Konzept aus, das eine so tragfähige Basis abgibt? Vorgeschichte des Kriminalfilms im Femsehen Eine notgedrungen kursorische Bemerkung zur Vorgeschichte des Kriminalftlms im Fernsehen scheint am Platz. Das Kriminalgenre hat sich in den fünfziger Jahren bereits im Hörspiel das - im Vergleich mit anderen Hörspielformen - breiteste Publikum erworben. Francis Durbridges Serie Paul Temple oder das deutsche Pendant Gestatten Sie, mein Name ist Cox sind für viele Nachfolge-Sendungen Modell gewesen. Autoren und Regis­ seure des Hörspiels werden vielfach in den sechziger Jahren dann auch Autoren und Regisseure des entsprechenden Genre-Fernsehspiels. Indes macht sich im Fernsehspiel frühzeitig eine Akzentverschiebung bemerkbar: erforderlich scheint die Glaubwürdigkeitsbezeugung, daß das vorgeführte Spiel auf wahren Verhältnissen beruhe oder zumindest halbdokumentarisch verfahre. Dieser Anspruch, im Bereich des Verbrechens nicht wie selbst­ verständlich die Regeln der Dramaturgie walten zu lassen, sondern sich immer wieder rückzuversichern bei einer wie plausibel auch immer be­ haupteten Wirklichkeit prägt sich in mehreren Kriminalreihen des Fernse­ hens aus - zum Beispiel in der frühen, noch vom NWDR begonnenen Serie Der Polizeibericht meldet, in der Jürgen Roland, als Autor-Regisseur für die Entwicklung des Kriminalspiels im Fernsehen in den sechziger, noch in den siebziger Jahren bedeutsam und einflußreich, die "Zusammenarbeit mit der 8 Augen-Blick 9: Tatort Kriminalpolizei" hervorhebt. In Jürgen Rolands Stah/netz (1958-1968) seien die einzelnen Folgen der Serie "nach Akten der Kriminalpolizei rekonstru­ iert" worden. Neben diesen Konzepten, die die Normalität der Konflikte und der Ermittlung von Verbrechen hervorheben, gibt es in den sechziger Jahren auch eine Gruppe von Kriminal-Reihen, die ungescheut 'romanhaft' er­ zählen wollen und nicht erklären, an den Daten und Fakten der Wirklich­ keit ausgerichtet zu sein. Hat die Edgar-Wallace-Welle im deutschen Kino­ film zu Beginn der sechziger Jahre eher ein älteres Modell der Kriminal­ genres verfolgt, das Schauereffekte, die Verwirrung der Fährten und die Rettung des bedrohten unschuldigen Mädchens durch den sympathischen und wohlerzogenen Detektiv bereithält, so wurde die Sendung der engli­ schen

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