Misus MIRAKEL Eine Transatlantische Karriere, Eine Transatlantische Kontroverse

Misus MIRAKEL Eine Transatlantische Karriere, Eine Transatlantische Kontroverse

MICHAEL WEDEL Misus MIRAKEL Eine transatlantische Karriere, eine transatlantische Kontroverse Wenn Anekdoten einerseits die Eigenart des Zufälligen aufzeichnen - und [ ... ] eher mit dem Rand verbunden sind als mit dem unbeweglichen und lähmenden Zen­ trum-, so werden sie doch andererseits als repräsentative Anekdoten erzählt; das heißt, man hält sie für wichtige Bestandteile einer umfassenderen Entwicklung oder Struktur, die der eigentliche Gegenstand der Geschichtsschreibung wäre, zu der es aber wegen der nicht enden wollenden Flut von weiteren Anekdoten( ... ] niemals kommt.' Mime Misu war noch bis vor kurzem so etwas wie ein Phantom der frühen Filmgeschichte - ein »klangvoller Name«,2 über den so gut wie nichts bekannt war, die verheißungsvolle Hülle eines Signifikanten, dem mit seinem Referen­ ten auch jede filmhistorische Bedeutung verloren gegangen ist. Daran hat sich erst jüngst im Zuge der Wiederentdeckung seines einzigen erhaltenen Films TITANIC-IN NACHT UND Eis (1912) etwas geändert.3 Heute läßt sich die eben­ so steile wie kurze Filmkarriere des· Regisseurs, Autors und Schauspielers Mime Misu zumindest wieder in Umrissen skizzieren. Das Bild, das dabei entsteht, konturiert sich vor dem Hintergrund einer international operieren­ den und mit dem Austausch kulturellen Kapitals kalkulierenden Filmindu­ strie. Auf der Achse zwischen Europa und den USA gewinnt hier eine Figur Gestalt, die zwielichtiger wird, je deutlicher sie sich abzeichnet. Es ist die Ge­ stalt eines transatlantischen Glücksritters, eines Hochstaplers zwischen den Welten, eines Falschspielers, der die geltenden Währungen des Filmgeschäfts kannte und zum eigenen Vorteil nutzte. Wenn es stimmt, daß ein bestehendes kulturelles Wertesystem dort am sichtbarsten ist, wo es von den Rändern her mißbräuchlich gegen sich selbst gewendet wird, könnte sich jedoch vielleicht gerade aus den Spuren, die eine Figur wie Misu in ihm hinterlassen hat, eine aussagekräftige Momentaufnahme der deutsch-amerikanischen Filmbezie­ hungen um den Ersten Weltkrieg entwickeln lassen - ihrer realen Wett­ bewerbsbedingungen auf dem internationalen Markt, aber auch der Vorstel­ lungen und imaginären Projektionen, mit denen sie schon zu diesem Zeitpunkt behaftet gewesen scheinen. »Der amerikanische Bluff«: Mime Misus biographische Legende Lange stützten sich die wenigen Hinweise zu Misu hauptsächlich auf Anga­ ben, die Emil Schünemann, Kameramann seiner ersten drei deutschen Filme, 73 Mitte der fünfziger Jahre in einem Ge­ spräch mit Gerhard Lamprecht ge­ macht hat.4 Schünemann zufolge soll Misu das Treatment zu seiner Verfil­ mung des Titanic-Unglücks noch in der zweiten Aprilhälfte 191 2 konzipiert und auf der Überfahrt von den USA nach Europa »in einem Schulheft« zu Papier gebracht haben. Nach seiner An­ kunft in Deutschland soll sich Misu beim damaligen Geschäftsführer der kurz zuvor gegründeten Continental­ Kunstfilm GmbH,5 dem Ingenieur und Eiskunstläufer Max Rittberger, als »amerikanischer Filmregisseur« ausge­ geben haben, um die Realisierungsaus- M1 .... in... sichten seines Projekts zu erhöhen. Schünemann nennt diese biographische Legende Misus »amerikanischen Bluff«, der schließlich zum Erfolg geführt habe.6 Tatsächlich, stellt Schünemann rich­ tig, habe Misu in seinem Herkunftsland Rumänien als Friseur gearbeitet, bevor er nach Amerika gegangen sei, wo er allerdings nicht als Regisseur, son­ dern lediglich als Maskenbildner tätig gewesen sein soll: »Er konnte nicht ein­ mal einen Schauspieler leiten«, lautet das Urteil Schünemanns im Rückblick. Zeitgenössische Quellen belegen, daß Misu bei der Continental von An­ fang an eine Sonderstellung genoß und in Werbeanzeigen (ab Mai 1912) durch den Titel eines »Oberregisseurs« gegenüber anderen bei der Continental be­ schäftigten Regisseuren wie Max Mack und Waldemar Hecker eigens hervor­ gehoben wurde/ Da auch andere Firmen die Namen der Regisseure ihrer Pro­ duktionen zu diesem Zeitpunkt nur in Ausnahmefällen publik machten, kann Misu als der erste Regisseur des deutschen Films gelten, dessen - nicht aus einem anderen kulturellen oder künstlerischen Zusammenhang bekannter - Name in das öffentliche Bewußtsein drang. Genauere Angaben über Her­ kunft, Ausbildung und berufliche Anfänge Misus, die sowohl der indirekt überlieferten PR-Version Misus als auch Schünemanns vermeintlichen Klä• rungen teils erheblich widersprechen, finden sich in einem Artikel, den Die Lichtbild-Bühne im Januar 1914 unter der Überschrift »Der Film-Regisseur als schöpferischer Künstler« veröffentlichte.8 Diesem Nachtrag zu der ein hal­ bes Jahr zuvor erschienenen >Luxus-Ausgabe< über Filmregisseure9 zufolge wurde Misu am 2 r. Januar 18 88 in der rumänischen Handelsstadt Botoschani als Nachkomme einer »bedeutenden Künstlerfamilie«, Neffe der »weltbe­ rühmte[n] Rahe!«, geboren. Bereits im Kindesalter sei er als Ballettänzer und Pantomime am Stadttheater seiner Heimatstadt so erfolgreich gewesen, daß er 74 ein Stipendium für die Bukarester Kunst-Akademie erhielt, die er neben sei­ ner Schauspielertätigkeit am Königlichen Nationaltheater mit Auszeichnung absolvierte. In der Folgezeit soll er an verschiedenen rumänischen Provinz­ theatern unter Vertrag gewesen sein. Im Alter von nur zwölf Jahren sei er dann in einigen seiner Tanzszenen und Pantomimen anläßlich der Pariser Weltausstellung 1900 erstmals vor internationalem Publikum aufgetreten und anschließend - zum Teil mit eigenen Inszenierungen - auf eine Europatour­ nee gegangen, die ihn u. a. nach Berlin, Wien, Budapest und London geführt habe. Auch über Misus Laufbahn beim Film bis 1914 gibt diese Quelle konkre­ teren Aufschluß. Misus Filmarbeit begann demnach nicht in den USA, son­ dern in Frankreich, wo er bei den Firmen Societe Lux (gegr. 1907) und Pathe Freres als Filmregisseur tätig gewesen sein soll. 10 Im Anschluß daran sei er nach einem kurzen Engagement in Wien nach Berlin gegangen und dort bei der Continental unter Vertrag genommen worden. Der Beiname »Napoleon der Filmkunst«, den ihm die Berliner Presse nach seinen ersten deutschen Fil­ men für die Continental und die Projektions-AG >Union< (PAGU) verliehen hat, könnte somit auf eine frühere Tätigkeit in der französischen Filmindu­ strie anspielen." Dem Artikel der Lichtbild-Bühne ist weiter zu entnehmen, daß Misu bei seinen deutschen Produktionen nicht nur jeweils Autor der Drehvorlage, Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person gewesen sein soll, sondern in den meisten Fällen auch die Dekorationen selbst entworfen habe. Bisherigen Erkenntnissen zufolge befand sich Misu zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels bereits in den USA, um für die Metropolitan Film Co. nun tatsächlich seinen ersten amerikanischen Film TttE MoNEY Goo zu inszenieren, der dort am 10. Februar 1914 lizenziert wurde.12 Ob es sich dabei um eines jener noch in Deutschland vorbereiteten Filmprojekte handel­ te, die laut Lichtbild-Bühne »alles Gebotene weit in den Schatten stellen wer­ den«, •i ist heute nicht mehr endgültig zu klären. Nach Amerika mitnehmen konnte Misu jedoch zumindest die Visitenkarte als »[ ... ] einer der fähigsten Filmregisseure, [dessen] Werke, die eine geradezu raffinierte Regietechnik aufweisen,[ ... ] Riesensummen eingebracht [und] die Bewunderung der Fach­ kreise in außerordentlich hohem Maße [erregt haben].«'4 Über Misus Tätigkeit bis Anfang der zwanziger Jahre ist so gut wie nichts bekannt. Ein Indiz für eine zwischenzeitliche Rückkehr nach Deutschland könnte seine Neuaufnahme in das »Adressenverzeichnis der Regisseure« der Lichtbild-Bühne sein, das ihn im August 1915 als wohnhaft in »Berlin W., Nachodstr. 25« ausweist.'' Als gesichert kann gelten, daß Misu Ende 1919, Anfang 1920 als Mitinhaber und »künstlerischer Leiter« die Misugraph-Film Co. mit Sitz in New York gründete.'6 1920 richtete diese Firma ganz in der Nähe der Nachodstraße eine Berliner Filiale in der Martin-Luther-Str. 28 ein.'7 Als diese Anfang 1921 die Gründung einer mit deutschem Fremdkapital 75 ausgestatteten Tochterfirma in Frankfurt am Main verfolgte, wurden poten­ tielle Investoren in der Fachpresse ausdrücklich vor einem finanziellen Enga­ gement gewarnt, da die Berliner Firma »den Beweis des in ihr vorhandenen und mit größeren Mitteln zu fördernden Könnens« noch in keiner Form er­ bracht habe. 18 Tatsächlich schien die Berliner Produktion der Misugraph-Film unter der Leitung Misus -wie auch aus ihrer zwei Wochen später im Film-Kurier ver­ öffentlichten Entgegnung hervorgeht - in ihrem ersten Geschäftsjahr keiner­ lei Aktivitäten in der Filmherstellung nachweisen zu können: Unser Unternehmen, das von allem Anfang an auf der Teilnahme amerikanischer Kreise aufgebaut war, konnte niemals als kleinere Berliner Firma angesprochen werden. Die oft erwähnte Frankfurter Gründung steht nicht in Vorbereitung, son­ dern ist längst Tatsache geworden und bildet nur einen Teilkomplex unserer noch anwachsenden Organisation. Unser künstlerischer Leiter, Herr Misu, war die letz­ ten Jahre in Amerika tätig und hatte internationale Erfolge schon zu einer Zeit ein­ geheimst (»Mirakel«-Film, »Titanic-Katastrophe«), als die deutsche Filmindustrie noch kaum flügge war. [ ... ] Die sparsame und fachliche Art gerade unserer Be­ triebsführung (u. a. Abschaffung des Direktoren-Systems) hat alle Chancen für sich. Im übrigen überlassen wir die letzte Beweisführung getrost unserer demnächst ein­ setzenden Produktion. '9 In der Gegendarstellung eines in Gründung befindlichen »Schutzverbandes der von der Misugraph-Film Co. Geschädigten« - der nach eigener Aussage »Material von fast allen Angestellten,

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