Einleitung: Disziplinen Im Dialog

Einleitung: Disziplinen Im Dialog

EVA LEZZI · DOROTHEA M. SALZER Einleitung: Disziplinen im Dialog I. Fragestellungen Die methodologischen und inhaltlichen Berührungen zwischen den Jüdischen Studien und der Literaturwissenschaft sind vielfältig und treffen den Kern beiderDisziplinen. So stehen in einem Großteil der Bereiche innerhalb der Jüdischen Studien nach wie vor schriftliche Überlieferungen aus verschiedenen Epochen und kulturellen Kontexten im Zentrum, weshalb das Fach als eine ausgesprochene Textwissenschaft zu betrach- ten ist. Wenn wir zudem davon ausgehen, dass Sprache wirklichkeitskonstituierend sein kann, sollten gerade auch kulturelle Selbstverständigungs- und Tradierungs- prozesse, aber auch die sprachliche Verfasstheit von „Judenbildern“1 wissenschaft- lich reflektiert werden. Eine Konzentration auf spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellungen erscheint daher als wichtiges Anliegen der Jüdischen Studien, da die literaturwissenschaftlichen Prämissengeeignet sind, die methodische Vertiefung ent- sprechender Textanalysen anzuregen und in vielen Fällen auch zu gewährleisten. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit Literaturtheorien und -methoden für die Frage nach der Konstituierung von Texten und deren Verständnis einen großen Erkenntnisgewinn darstellen. Dies trifft auf religiöse Texte ebenso zu wie auf säkulare literarische Erzeugnisse.2 Über die Erforschung von spezifischen histo- rischen und literatursoziologischen Bedingungen der Textproduktion und -rezeption hinaus vermag die Literaturtheorie aber auch vergleichend Dispositionen textlicher Überlieferungen zu reflektieren. Jüdische Texte sind – wie Texte allgemein – häufig 1 Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg 1991. 2 Siehe hierzu Ludwig Morenz/Stefan Schorch (Hrsg.), Was ist ein Text? Alttestamentliche, ägypto- logische und altorientalische Perspektiven, Berlin 2007. 11 EVA LEZZI · DOROTHEA M. SALZER Ausdruck eines ebenso kreativen wie prekären transkulturellen Austauschs. Wie nun wird kulturelle Differenz in den Texten selbst oder auch im Dialog zwischen Texten performativ hergestellt und erprobt? Und inwiefern werden die Texte zu Medien der Transkulturalität, der Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit? In welcher Weise über- lagern sich in literarischen Zeugnissen kulturelle Differenzen mit religiösen oder geschlechtsspezifischen? Dies alles sind Fragen, die mit Hilfe literaturwissenschaft- licher Theoriekonzepte beleuchtet werden können. Übersetzungstheorien sowie Theorien der Intertextualität und der Interkulturalität sind demnach für die Jüdi- schen Studien unabdingbar; ebenso bedeutsam ist beispielsweise die wechselseitige Befruchtung zwischen den Jüdischen Studien und den gender studies, der Postkolo- nialen Literaturtheorie oder den kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Gerade in der Literaturwissenschaft haben sich die theoretischen Zugänge in den letzten Jahrzehnten enorm verändert und die Philologien unter anderem auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen hin geöffnet und erweitert.3 Diese theoreti- schen Neuakzentuierungen sind ebenso wie traditionellere hermeneutische Konzepte der Literaturwissenschaft in ihrer heuristischen Qualität für die Jüdischen Studien zu überprüfen. Der vorliegende Band ist daher der Frage gewidmet, inwiefern lite- raturwissenschaftliche Methoden für die Jüdischen Studien fruchtbar gemacht und welche Diskussionen und Perspektiven dadurch provoziert werden können. Umge- kehrt soll überprüft werden, ob und wie weit in den Jüdischen Studien Erkenntnisse gewonnen und vertreten werden, die einen paradigmatischen Charakter für literatur- wissenschaftliche Methoden und Konzepte beanspruchen können. II. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft: Institutionelle Verortungen Der mit diesem Band beabsichtigte „Dialog der Disziplinen“ richtet sich mithin auf die beiden Fächer Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Während Letztere eine im traditionellen Fächerkanon seit langem etablierte Disziplin ist, handelt es sich bei den Jüdischen Studien um ein Fach, das keineswegs eindeutig zuzuordnen ist und das immer wieder zum Gegenstand von Diskussionen wurde und wird. Dies ist 3 Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einfüh- rung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002. Für weitere Literaturangaben zu einer methodologischen Verbindung zwischen Literatur- und Kulturwissenschaften siehe Fußnote 20. 12 EINLEITUNG: DISZIPLINEN IM DIALOG zum einen auf die institutionelle Anbindung dieser Disziplin zurückzuführen, die gerade im deutschsprachigen Raum sehr unterschiedliche Ausprägungen erfuhr. So wurde die 1872 in Berlin von jüdischen Wissenschaftlern gegründete „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, die der breiten Erforschung des Judentums einen akademischen Status verleihen sollte, dabei jedoch nie staatliche Anerkennung und finanzielle Förderung erhielt, 1942 durch die Nationalsozialisten aufgelöst.4 Ein anderer, wenn auch in der westeuropäischen Tradition weniger prominent rezipier- ter Vorläufer der Jüdischen Studien ließe sich an der 1925 erfolgten Gründung des YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut),das seinen Hauptsitz im damals polnischen Wilno (heute Vilnius in Litauen) hatte. 1940 wurde die Zentrale des YIVO formal- rechtlich nach New York transferiert. Teile der Bibliotheks- und Archivbestände zur Erforschung der jiddischen Sprache und Literatur sowie zur Kultur und Geschichte der osteuropäischen Juden konnten vor der Zerstörung durch die deutschen Besatzer bewahrt werden und wurden nach dem Krieg nach New York überführt. Einige we- nige Mitarbeiter haben die nationalsozialistische Verfolgung überlebt und setzten ihre Tätigkeit im New Yorker YIVO fort.5 Die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der Juden machte jedoch nicht nur die zeitgenössische judaistische For- schung in Europa zunichte, sondern bedeutete auch, dass alle in den verschiedenen Philologien arbeitenden jüdischen Intellektuellen aus den Universitäten verwiesen wurden, ins Exil mussten oder ermordet wurden.6 4 Marianne Awerbuch, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Reimer Hansen/ Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkei- ten und Institutionen, Berlin/New York 1992, S. 518–551; Christoph Schulte, Die Wissenschaft des Judentums, in: Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 268–284. 5 Joshua Fishman (Hrsg.), Lekoved fuftfik yor YIVO, 1925–1975. Yovel-band XIVI, New York 1980; Lucy Dawidowicz, From That Place and Time, New York/London 1989; Fruma Mohrer/Marek Web, Guide to the YIVO Archives, Armonk/New York 1997; Dan Miron, Between Science and Faith. 60 Years of the YIVO Institut, YIVO Annual 19 (1990), S. 1–19; David Fishman, Dem Feuer entrissen. Die Rettung jüdischer Kulturschätze in Wilna, Hannover 1996; Alice Kessler-Harris, 1048 Fifth Avenue, in: William E. Leuchtenberg (Hrsg.),American Places. Encounters with History, New York/London 2000; Cecile Esther Kuznitz, The Origins of Yiddish Scholarship and the YIVO Institute for Jewish Research, unpublished doctoral dissertation, Stanford University 2000; Itzik Nakhmen Gottesman, Defining the Yiddish Nation. The Jewish Folklorists of Poland, Detroit 2003; Marek Web, Operating on Faith. YIVO’s 80 Years, YIVO News 199 (2005), S. 1, 16 f. 6 Wilfried Barner/Christoph König (Hrsg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutsch- land 1871–1933, Göttingen 2001. Was die Zäsur durch den Nationalsozialismus gerade auch für 13 EVA LEZZI · DOROTHEA M. SALZER Die germanistische Literaturwissenschaft hingegen wurde im Nationalsozia- lismus bekanntermaßen ideologisch umstrukturiert7 und musste sich daher nach 1945 auch methodologisch wieder neu orientieren. Anders als im Fach Judaistik, welches im deutschen Sprachraum nach 1945 ohne die Mitwirkung von jüdischen Wissenschaftlern neu etabliert wurde und daher über keinerlei personelle An- knüpfungsmöglichkeiten verfügte, stand in der Germanistik der „überwiegenden politischen, ideologischen ‚Diskontinuität‘ vor und nach 1945 […] eine personelle und institutionelle ‚Kontinuität‘ gegenüber“8 – zumindest jedenfalls hinsichtlich der nichtjüdischen Professoren. Diese Kontinuität hatte zur Folge, dass die NS- Verwicklungen des Fachs erst in den 1990er Jahren auf breiterer Basis, so etwa durch die „Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik“, aufgearbeitet wurden.9 Im Jahr 1945 begann Kurt Schubert damit, die judaistische Forschung an der Universität in Wien zu etablieren und somit im deutschen Sprachraum erstmalig in den universitären Fächerkanon einzugliedern – vorerst am Insti- tut für Orientalistik, seit 1966 an einem eigenen Institut für Judaistik. An der Freien Universität Berlin wurde Jacob Taubes 1961 als Professor an das neu gegründete erste Institut für Judaistik in Deutschland berufen. Inzwischen ist allein im universitären Rahmen eine Vielzahl von Institutionen entstanden, die sich der wissenschaftlichen Analyse von Religion, Geschichte und Kultur des die sich in der Geisteswissenschaft eben erst etablierenden jüdischen Frauen bedeutete, ist u. a. in folgenden Studien reflektiert: Hiltrud Häntzschel, Professionell ohne Profession. Arbeitsfel- der von Philologinnen jüdischer Herkunft, in: Barner/König, Jüdische Intellektuelle, S. 65–73; Ulrike Hass-Zumkehr, Agathe Lasch (1879–1942?), in: Barner/König, Jüdische

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