Siegfried Marck. Politische Biographie eines jüdisch-intellektuellen Sozialdemokraten Dissertation zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen vorgelegt von Markus Schulz aus Gehrden Göttingen, im November 2014 1. Gutachter: Prof. Dr. Peter Aufgebauer 2. Gutachter: Prof. Dr. Karsten Rudolph Tag der mündlichen Prüfung: 27. Januar 2016 EINLEITUNG 1 FORSCHUNGSINTERESSE UND FRAGESTELLUNG 12 FORSCHUNGSSTAND 21 QUELLENLAGE UND -AUSWAHL 24 ZUR BIOGRAPHISCHEN METHODE UND DEREN UMSETZUNG 28 DER ERSTE KULTURKREIS – BRESLAUER JAHRE 35 DIE FAMILIE MARCK 35 BILDUNGSBIOGRAPHIE 40 DIE EHE MIT LOLA LANDAU 50 DER ÜBERGANG ZUR SOZIALDEMOKRATIE 58 DIE EHE MIT KLÄRE ROSENSTOCK 69 WEGGEFÄHRTEN UM DIE BRESLAUER VOLKSWACHT 72 ALS GEISTIGER ARBEITER 83 EIN NOVEMBERSOZIALIST ALS STADTVERORDNETER 91 DIE JUNGSOZIALISTEN – EIN RUCK NACH LINKS 124 EINE UNLAUTERE BERUFUNG? 142 IM ZWEITEN KULTURKREIS – IM FRANZÖSISCHEN EXIL 151 ZWISCHEN OPPOSITION UND KAMPFKARTELL 151 TÄTIGKEITEN IN DER VOLKSFRONT 161 ALS IDEENGEBER DES FREIHEITLICHEN BÜRGERTUMS 171 IM DRITTEN KULTURKREIS – IM AMERIKANISCHEN EXIL 187 FLUCHT UND FIXIERUNG 187 FÜR EINE NEUORDNUNG EUROPAS – EIN DRITTER WEG 203 DIE „FREUNDSCHAFT“ MIT THOMAS MANN 237 AUF VORTRAGSREISE NACH DEUTSCHLAND 246 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG 255 LITERATUR 269 Einleitung Es waren bewegende Momente für Siegfried Marck, als er im Juli 1951 Paul Löbe auf der Dachterrasse des Bundeshauses in Bonn die Hand schütteln durfte. Der etwas untersetze, mittelgroße und sich in seinen Erntejahren befindende Sozialdemokrat, mit lichtem Haar, zog immer wenn er nervös oder besonders angespannt war seine rechte Augenbraue hoch und strich sich mit dem Daumen darüber. So wird es auch gewesen sein, als er dort auf den Alterspräsidenten des Ersten Deutschen Bundestages traf. Für beide hatte dieses Gebäude, im dem nach dem Zweiten Weltkrieg der Deutsche Bundestag und der Deutsche Bundesrat provisorisch eine Unterkunft fanden, eine besondere Bedeutung. Löbe und Marck stammten aus Schlesien und hatten zusammen in Breslau die Zeit des Umbruchs nach dem Ersten Weltkrieg erlebt. Gemeinsam hatten sie 1924 beispielsweise den Bund der Freunde sozialistischer Akademiker in Breslau ins Leben gerufen, um Arbeiterkindern den Weg an die Universität zu ermöglichen. Der eigentlich nationalliberal eingestellte Siegfried Marck schloss sich damals, nach seinen Fronterlebnissen an der Westfront, der Sozialdemokratie, welche der ältere Löbe seit Jahren prägte, an. Dieser Entschluss veränderte Siegfried Marcks Leben einschneidend. Paul Löbe war zu dieser Zeit noch Chefredakteur der Breslauer Volkswacht, des sozialdemokratischen Leitmediums in Schlesien. Dieses fand, besonders in der Zeit des Ersten Weltkrieges, in den Schützengräben großen Absatz. Auch Siegfried Marck, ein Sprössling aus einer der wohlhabendsten jüdischen Breslauer Familien, hatte in den Schützengräben zum ersten Mal die Volkswacht gelesen und trat dort mit Menschen einer anderen Klasse in Kontakt. Nun waren es Arbeiter und weniger die Professorenschaft, mit denen der bereits promovierte Siegfried Marck diskutierte. Er betrat politisches Neuland und es verging kaum ein Abend, an dem er nicht in den Breslauer Arbeiterkneipen referierte. Paul Löbe indes machte politisch Karriere und hielt den Kontakt zu seinem Wahlkreis in Breslau stets aufrecht, trat oft mit Vorträgen dort in Erscheinung. Er wurde Reichstagspräsident über viele Jahre – Reichspräsident wollte er 1925 nach dem Tod Friedrich Eberts nicht werden. Und Siegfried Marck? Dieser versuchte sich ebenfalls auf politischem Terrain zu etablieren und aufzusteigen, kam jedoch nicht über die Breslauer Stadtverordnetenversammlung und den Provinziallandtag hinaus. Stattdessen wurde er in der Erwachsenenbildung und zusammen mit Clara Zils und Ernst Eckstein, Immanuel Birnbaum und Fritz Sternberg bei den Jungsozialisten aktiv, hier konnte er größeren Nachklang 1 hinterlassen. Beruflich hatte Marck als Jude und Sozialdemokrat einen schweren Stand an der Breslauer Schlesischen-Wilhelms-Universität, das bemerkte er schnell. Der Neukantianer wäre auch nicht ohne parteipolitische Hilfe von Adolf Grimme an eine ordentliche Professur gelangt, wenngleich er diese nur drei Jahre ausüben durfte, da er Deutschland 1933 den Rücken kehren musste. Von nun an begann seine Odyssee, die ihn zuerst ins französische und darauf ins amerikanische Exil trieb. Paul Löbe indes blieb und wurde mehrfach interniert. Marck jedoch konnte nirgends richtig fußfassen, war getrieben von dem Wunsch, nach der Niederlage des Nationalsozialismus zurück nach Deutschland zu kommen. Denn vergessen wir nicht: Emigration oder politische Flucht ist immer auch eine Geschichte von einigen Menschen, die mit diesem Bruch besser umgehen konnten und einer Mehrzahl, die an den ihnen neu gestellten Aufgaben und Konstellationen scheiterten. Siegfried Marck war einer von letzteren. Wäre Marck nicht in seiner Zeit in Breslau besonders mit der Redaktion um die Breslauer Volkswacht in Verbindung gewesen, hätte er sich nach seinen Fronterlebnissen im Ersten Weltkrieg nicht der Sozialdemokratie angeschlossen und stets für die Weimarer Republik und deren Verfassung gekämpft, hätte er nicht in der Volksbildungsbewegung mitgearbeitet und hätte er schon gar nicht in der Marxistischen Arbeitsgemeinschaft oder der Sozialistischen Hochschulgemeinschaft gemeinsam mit Clara und Ernst Eckstein, Immanuel Birnbaum und Fritz Sternberg als Ideenstifter für eine Handvoll Jungsozialisten gewirkt, die im ganzen Reich als einer der radikalsten Kreise angesehen wurden, er hätte nicht auf den ersten Listen der Nationalsozialisten gestanden und hätte nicht aus Breslau fliehen müssen. Möglicherweise wäre Siegfried Marck als alter Ordinarius für Philosophie an der Breslauer Schlesischen Wilhelms-Universität in seiner Geburtsstadt gestorben und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner politischen Biographie wäre nie geführt worden. Dies wäre sehr bedauerlich, weil der Wissenschaft so nicht nur ein Exponat sozialdemokratischer Prominenz der hinteren Reihen, mit dennoch prägender Wirkung, sondern auch eine besonders tragische Figur des politischen Exils entglitten wäre. Denn an Marck lassen sich gut die Schwierigkeiten und Brüche eines politischen Grenzgängers aufzeigen, der in seinem Leben stets nach politischem Halt und wissenschaftlicher Anerkennung suchte. Der Sozialdemokrat Siegfried Marck stammte aus einer der wohlhabendsten Patrizierfamilien Breslaus. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er dort, in genau 2 dieser Odermetropole, die viele bedeutende Denker und politische Kämpfer seiner Zeit hervorbrachte. Die gesellschaftliche Struktur seiner Heimatstadt, welche die Familie Marck seit mehr als zwei Jahrhunderten mit geformt und geprägt hatte, beeinflusste Marck. Die Odermetropole war geprägt von einem Liberalismus, der den Bürgern, insbesondere den jüdischen, ein „begründetes Recht auf Anderssein“ zusprach.1 Bereits in der Zeit des Vormärz war dies deutlich spürbar: Viele jüdische Breslauer unterstützten 1848 die Kämpfe für einen deutschen Nationalstaat mit den in einer modernen Verfassung garantierten bürgerlichen Grundfreiheiten. Beispielsweise nahm Louis Cohn, der später der sozialdemokratischen Partei beitreten sollte, an den blutigen Straßenkämpfen im Mai 1849 in Breslau teil.2 Schon einige Jahre zuvor, in den napoleonischen Befreiungskriegen zwischen 1813-1815, kämpften jüdische Freiwillige aus Breslau in den Reihen der Lützowschen Jäger für ihr Vaterland.3 Nach 1871 wurde Breslau dann Teil eines föderativen Staatswesens, welches im neugeschaffenen Deutschen Reich seinen Mitgliedsstaaten besondere Befugnisse zukommen ließ: Preußen, Bayern und Sachsen behielten ihre Monarchien – die Stellung Preußens wurde hierdurch gestärkt, denn fortan fungierten die preußischen Monarchen zugleich als deutsche Kaiser.4 Dabei ist die Geschichte Breslaus, der Hauptstadt Schlesiens, eigen und nicht unumstritten. Oftmals wird in diesem Zusammenhang vergessen, dass die Odermetropole jahrhundertelang eine polnische Stadt mit dem Namen Wroclaw war und es verwundert nicht, dass die Bürger Breslaus und Polens mehrere, sich überschneidende Identitäten hatten: als Schlesier, mit ihrem eigenen Dialekt, als Preußen, mit strengen Traditionen. Als deutsche Erben einer alten nationalen Kultur fanden sie sich in einem spannungsreichen Handlungsfeld und der zweitgrößten Stadt Preußens wieder. Breslau muss als ein Ort verstanden werden, an dem sich zentrale Entwicklungslinien und Konfliktfelder der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert bündelten.5 Dabei wuchsen diese stetig, nicht zuletzt weil sich zwischen 1861 und 1910 die Einwohnerzahl vervierfachte. Breslau fungierte als Handelszentrum und profitierte von einem ausgedehnten wirtschaftlichen Hinterland und reichen Kohlevorkommen im Südosten. Von den ca. 500.000 Einwohnern, die 1 Vgl. Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1869 bis 1925, Göttingen 2000, S. 14ff. 2 Vgl. Lagiewski, Maciej: Breslauer Juden 1850-1944, Wroclaw 1996, Abb. 131. 3 Vgl. Ders.: Die Juden in Breslau 1850-1945, in: Kühnel, Horst (Hrsg.): Juden in Breslau 1850-1945. Beiträge zu einer Ausstellung, München 1993, S. 27-43, hier S. 28. 4 Vgl. Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 2007, S. 21f. 5 Vgl. Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer, S. 33. 3 Breslau 1910 zählen konnte, waren etwa 60
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