Kirchendiebe und Ketzer Medienöffentlichkeit und religiöser Konflikt in Luzern 1522-1529 Hans Jurt Kirchendiebe und Ketzer Medienöffentlichkeit und religiöser Konflikt in Luzern 1522-1529 Lizenziatsarbeit von Hans Jurt Museggstrasse 20 6004 Luzern [email protected] 15. Dezember 2010 bei Prof. Dr. Valentin Groebner Universität Luzern Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Historisches Seminar Inhaltsverzeichnis 1. Schwetzige Wortler1 1.1. Lutherische Narren............................1 1.2. Von Strassburg nach Luzern.......................7 1.3. Der Lasszettel...............................9 2. Lobliche Statt Lucern 16 2.1. Pensionenwesen.............................. 17 2.2. Religiosität................................ 19 2.3. Bildungssituation............................. 20 2.4. Lutherschriften.............................. 22 3. Das Liecht goetliches Wortes in die Lucern gesetzt 25 3.1. Eine Prozession.............................. 25 3.2. Eine Predigt mit Nachspiel........................ 28 3.3. Ein kurzer Briefwechsel.......................... 32 4. O Lucerna wie bistu so gar verstopft 35 4.1. Lesemeister in Luzern........................... 36 4.2. Reformator in Schaffhausen....................... 38 4.3. Das Schmachbuechlin........................... 39 4.4. Ich Adam Petri, der buchdrucker.................... 45 5. Gedruckt in der alt christlichen Stat Lutzern 52 5.1. Der Wirt als Richter........................... 54 5.2. Der Lesemeister als Drucker....................... 62 5.3. Der lutheranische Esel.......................... 65 6. Der Lutherischen Evangelischen Kirchen Dieb und Ketzer Kalender 73 6.1. Das Licht des Evangeliums........................ 76 6.2. Du solt nit stelen............................. 82 6.3. Ein schmäliches gedicht.......................... 87 7. Der Murner ist nider 93 7.1. Des alten Christlichen beern Testament................. 93 7.2. Ich binn nit Spangisch / binn nit Zwinglisch.............. 98 8. Literatur 105 8.1. Quellen.................................. 105 8.2. Darstellungen............................... 112 Sigel 121 A. Anhang 123 A.1. Sammelband II DD 381.......................... 123 A.2. Kalenderansichten............................. 127 Abbildungsverzeichnis 144 Zusammenfassung Als im Jahr 1525 der elsässische Franziskaner Thomas Murner aus konfessionellen Gründen seine Heimat verlassen musste, floh er nach Luzern. Der Doktor der Theo- logie und beider Rechte hatte bereits eine bewegte Vergangenheit als humanistischer Gelehrter, erfolgreicher Autor von Satiren und lautstarker Luthergegner hinter sich. Im Barfüsserkloster von Luzern richtete er kurz nach seiner Ankunft eine Drucke- rei ein, um den Kampf gegen die Reformation publizistisch weiterzuführen. Seine Schriften gaben Anlass zu einigen religionspolitischen Kontroversen und waren ver- schiedentlich Gegenstand von innereidgenössischen Auseinandersetzungen. Von den neugläubigen Orten wurde sein Kirchendieb- und Ketzerkalender aus dem Jahr 1527 als besonders beleidigend aufgenommen. Nach dem ersten Kappeler Landfrieden von 1529 forderten die reformierten Orte die Auslieferung des elsässischen Reformations- gegners. Murner konnte sich nur durch Flucht der drohenden Verhaftung entziehen. Medienpolitische Kontroversen gab es allerdings schon bevor Luzern mit Murner über eine eigene Druckerei verfügte. Anhand zweier reformatorischen Flugschriften, die sich direkt an Luzern wandten - eine Predigtflugschrift des reformierten Zürcher Komturs Konrad Schmid (1522) und eine Ermahnung des Schaffhauser Reformators Sebastian Hofmeister (1523) - sollen die Reaktionen von Luzern in der frühen Re- formation aufgezeigt werden. Neben dem ausgewählten Textkorpus werden für die Untersuchung vor allen die Aktensammlungen der Eidgenössischen Tagsatzungen und zeitgenössische Chroniken berücksichtigt. Luzern, 15. Dezember 2010 Hans Jurt 1. Schwetzige Wortler 1.1. Lutherische Narren Es gilt unter Historikern als unumstritten, dass zwischen der Reformation und dem Buchdruck ein Zusammenhang besteht. Der Ausspruch des deutschen Kirchenhi- storikers Bernd Moeller „Ohne Buchdruck keine Reformation“ ist regelrecht zu ei- ner stehenden Wendung geworden.1 Tatsächlich hat seit den technischen Innovatio- nen Gutenbergs in der Mitte des 15. Jahrhunderts eine sprunghafte Zunahme der Druckerzeugnisse eingesetzt. Neben den Nachdrucken von klassischen Werken und religiöser Literatur sowie von Schriften für die Weiterbildung, haben Kleinschrif- ten oder Tagesliteratur eine enorme Umsatzsteigerung erlebt. Unter Tagesliteratur sind etwa Ablassbriefe, Wandkalender und Einblattdrucke zu verstehen. Von allem Anfang an wurde die neue Informations- und Nachrichtentechnologie für ideologi- sche, politische und religiöse Zwecke eingesetzt.2 Für den propagandistischen Einsatz entstand ein neuer Typus von Druckerzeugnissen, die Flugschrift.3 Ein erster Hö- hepunkt in der Flugschriftenproduktion ist zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts festzustellen. Die deutschsprachige Christenheit wurde von einer wahren Flut von Flugschriften, vor allem reformatorischer Herkunft überschwemmt. So sollen nach Moeller bereits Ende 1520 über eine halbe Million Luther-Schriften im Umlauf gewesen sein. Mehrere weitere Millionen Flugschriften kamen in den 1Dieser Ausspruch hat sich so sehr durchgesetzt, dass Moeller sich sogar selber zitiert. Zur Ver- stärkung zieht er eine ähnliche Exklusivaussage eines anderen bedeutenden Reformationshi- storikers, der ebenfalls durch prägnante Sätze bekannt ist, hinzu. Arthur G. Dickens: „The German Reformation was a book-event“. Bernd Moeller: Stadt und Buch. Bemerkungen zur Struktur der reformatorischen Bewegung in Deutschland, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation, Stuttgart 1979, S. 25–39, hier S. 26. 2Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 2006, S. 65. 3Vom bedeutenden Flugschriftenforscher Hans-Joachim Köhler stammt die präzise Definition: „Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d.h. der Beeinflus- sung des Handelns) und/oder der Propaganda (d.h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet.“ Hans-Joachim Köhler: Die Flugschriften. Versuch ei- ner Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Horst Rabe/Hansgeorg Molitor/Hans- Christoph Rublack (Hrsg.): Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976, Bd. 2 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Supplementband), Münster (Westf.) 1976, S. 36–61, hier S. 50. 1 1. Schwetzige Wortler Abbildung 1.1.: Murner mit Drachenschwanz und Katzenkopf. Strassburg 1521 nächsten Jahren hinzu, sodass bis zum Jahr 1525 jeder lesefähige Deutsche meh- rere Exemplare besessen haben könnte.4 Eingeleitet wurde die enorme Steigerung der Flugschriftenproduktion durch die „drei reformatorischen Hauptschriften“, die Luther im Jahr 1520 in Wittenberg herausgab.5 Die Produktion von antireformato- rischen, altgläubigen Schriften war um ein Wesentliches geringer. Harry Oelke hat illustrierte Flugblätter des 16. Jahrhunderts nach ihrer konfessionellen Ausrichtung untersucht. In der Phase der frühen Reformation hat er ein Verhältnis von bis zu 95% reformatorischen gegenüber bloss 5% altkirchlichen Flugblättern festgestellt.6 Die wichtigsten Reformationsgegner, die sich in der Frühphase der Reformation publizistisch hervor taten, sind Hieronymous Emser, Johann Eck und Thomas Mur- ner. Von der Gegnerschaft wurden die drei oft mit abwertenden Tiernamen versehen: der Bock Emser, das Schwein Eck und der Kater Murner. Umgekehrt wurde etwa Luther von Emser als Stier zu Wittenberg tituliert. Der Franziskanermönch Tho- mas Murner aus Strassburg reagierte vorerst anonym und in einem gemässigten Ton auf die Schriften Luthers, die schon früh in seiner Stadt erschienen waren. Gegen Luthers Angriff auf die Messe (Ein Sermon von dem Neuen Testament, das ist von der hl. Messe) verfasst Murner im November 1520 eine christliche und brüderliche Ermahnung an den hochgelehrten Doktor Martin Luther.7 Bis Ende 1520 verlies- 4Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozess, in: Bernd Moeller/ Johannes Schilling (Hrsg.): Luther-Rezeption, Göttingen 2001, S. 73–90, hier S. 77. Auf ähnliche Zahlen kommt Köhler, der für die Zeit zwischen 1501 und 1530 eine Zahl von bis zu 12’000 Drucken, hochgerechnet 12 Millionen Einzelexemplare, annimmt. Hans-Joachim Köh- ler: Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/ Dieter Stievermann (Hrsg.): Martin Luther, Bd. 16 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit), Stuttgart 1986, S. 244–281, hier S. 249 f. 5Es handelt sich um: Von der Freiheit eines Christenmenschen, Von der babylonischen Gefan- genschaft der Kirche, An den Christlichen Adel deutscher Nation. Vgl. Giesecke: Buchdruck, S. 473. 6Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter (Arbeiten zur Kirchengeschichte), Berlin, New York 1992, S. 28 ff. 7Der in einem versöhnlichen Ton abgefasste Titel lautet: Ein christliche und brüderliche ermanung zuo dem hochgelehrten doctor Martino luter Augustiner orden zuo Wittemburg (dz er etliche Reden von dem newe testament der heiligen messen gethon) abstande, und wider mit gemeiner 2 1. Schwetzige Wortler sen in kurzer Abfolge drei weitere anonyme Schriften Murners die Druckpresse
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