Siedlungen Der 1990Er Jahre in Berlin Und Umgebung (Teil 3

Siedlungen Der 1990Er Jahre in Berlin Und Umgebung (Teil 3

6 AUSGEWÄHLTE ASPEKTE DER PLANUNG UND UMSETZUNG – EINE THEMATISCHE QUERSCHNITTSANALYSE DER SIEDLUNGEN DER 1990ER JAHRE — 84 — DIE UNTERSUCHTEN WOHNSIEDLUNGEN DER 1990ER JAHRE SIND wirksam und flexibel genug oder zu rigide?; Quar- tiersentwicklung: Soziale Mischung – Starke Akteure SEHR HETEROGEN. – Sozialer Zusammenhalt – Beteiligung – Bildung von Nachbarschaften gewachsen oder aktiv unterstützt? Diese Themenbündel decken wichtige Themen ab, In der thematischen Querschnittsanalyse werden die bei der Planung neuer Stadtquartiere heute be- folgende Themen – gegliedert in sechs „Cluster“ – rücksichtigt werden sollten und zu denen eine weitere in den Mittelpunkt gestellt: Raum: Leitbild der Eu- städtebauliche Debatte geführt werden sollte. Um Er- ropäischen Stadt – Bauliche Dichte – Parks, Plätze, kenntnisse zu verschiedenen Themen der Planung und Gärten; Programm: Zentrenbildung – Nutzungsmi- Umsetzung der Wohnsiedlungen zu gewinnen, werden schung – Ausstattung mit öffentlichen Infrastruk- die Beispielprojekte einer thematischen Querschnitts- turen; Vernetzung: Vernetzung mit dem Kontext analyse unterzogen. Dabei stehen nicht die einzelnen – Mobilität: Stellplätze und ÖPNV-Anbindung; Wohnsiedlungen im Vordergrund, sondern spezifische Umsetzung: Entstehung und Planungsprozess der Themen, die in den Siedlungen in unterschiedlicher Siedlung – Finanzierung – Trägerschaft – Instru- Ausprägung auftreten. Mit Blick auf den Erkenntnisge- mente der Umsetzung – Planungsinstrumente winn für die heutige Praxis wurden relevante Themen Lage der untersuchten Siedlungen in Berlin KAROW NORD FRANZÖSISCH- BUCHHOLZ Reinickendorf SIEDLUNG Pankow FALKENHÖH Lichtenberg FALKENSEE PARKSTADT Spandau LANDSBERGER TOR STAAKENER FELDER Mitte ELDENAER Marzahn- STRASSE Hellersdorf BIESDORF-SÜD Charlottenburg- Friedrichshain- Kreuzberg RUMMELSBURGER Wilmersdorf BUCHT Tempelhof- RUNGIUSSTRASSE Schöneberg Steglitz-Zehlendorf Treptow-Köpenick Neukölln PARKSIEDLUNG SPRUCH GARTENSTADT RUDOWER FALKENBERG FELDER ALTGLIENICKE KIRCHSTEIGFELD — 85 — Die Siedlung Kirchsteigfeld bei Potsdam (2017) ausgewählt, die im folgenden Kapitel untersucht und mit prägnanten Beispielen aus den Siedlungen veran- schaulicht werden. Dabei werden sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede der Siedlungen herausgearbeitet. Eine zentrale Erkenntnis dieser Analyse ist, dass die Wohnsiedlungen – obwohl sie in einem sehr kur- zen Zeitraum auf den Weg gebracht wurden – sehr heterogen sind. Sie begegneten den damaligen He- rausforderungen auf unterschiedliche Art und Wei- se. Themenübergreifende Erkenntnisse und Wech- selwirkungen werden in Kapitel 7 dargestellt. 6.1 DIE EUROPÄISCHE STADT – Darüber hinaus rückte seit Mitte der 1990er Jah- DAS ÜBERGEORDNETE STÄDTEBAULICHE LEITBILD re der „Stadtbürger“ auch als Adressat in den Fokus des Siedlungsbaus. Der traditionalistisch anmuten- Mit dem Siedlungsbau der 1990er Jahre wurde das Ziel de kleinteilige Städtebau und die architektonische verfolgt, ein traditionelles Bild der Vorstadt aufzugrei- Ausgestaltung sollten ein Bild der „bürgerlichen fen. Dieses sollte sich bewusst von den damals heftig Stadt“ erzeugen, was vor allem in den Wohnsiedlun- diskutierten Strömungen – der „zynischen Haltung“ – gen Karow-Nord und Kirchsteigfeld gelang, die vom unterscheiden, die „Stadtränder aus Gewerbebrachen, Großinvestor Groth und Graalfs realisiert wurden. Kleingärten, Hochspannungsleitungen, Tankstellen Das Idealbild des gelungenen Städtebaus orientiert sich und Einkaufszentren“ als „neuen Realismus im Städte- an den traditionellen Formen und Bildern der euro- bau“ verherrlicht1. Die neuen Vorstädte sollten laut den päischen Stadt sowie an den Siedlungen der 1920er „Zehn Thesen zur Vorstadt“ von Hans Stimmann nach Jahre. Auch wirtschaftlich hatte dieser Schwenk von eher „traditionellen städtebaulichen Mustern“ ent- der Mieter- zur Bürgerstadt eine Relevanz, sollte doch worfen werden, um eine ausufernde, unkontrollierte dadurch die Wohneigentumsquote gesteigert werden. Suburbanisierung zu verhindern. Als zentrale Elemente wurden „Straßen und Plätze als Grundgerüst für Identi- Karow-Nord tät und Orientierung“ definiert. Als ein Grund für diese Die beiden von Groth und Graalfs realisierten Wohn- Haltung gilt die Ablehnung der Großsiedlungen der siedlungen Karow-Nord im Berliner Bezirk Pankow 1960er und 1970er Jahre in Ost und West. Klaus Keller, und Kirchsteigfeld in Potsdam stellen die zentralen der mit für die Konzeption der Ausstellung „Stadt Haus Beispiele für Wohnsiedlungen dar, die das städtebau- Wohnen“ der Senatsverwaltung für Bauen und Woh- liche Leitbild der Europäischen Stadt verfolgen und nen verantwortlich war, schrieb zur Suche nach einem zumindest formal auch umgesetzt haben. Der Investor geeigneten Leitbild im Katalog: „Den hier Verantwort- hat bei beiden Siedlungen in Planung und Realisierung lichen ging es in erster Linie darum, dass das Modell einen hohen Anspruch verfolgt und damals bereits auf des neuen Wohnungsbaus – in Gestaltung und Ideolo- bekannte Namen der postmodernen und neo-traditio- gie – weit genug weg von der ,Platte’ war.“ Hinzu kam, nalistischen Architekturszene sowie während der IBA dass die rigiden Bedingungen der Wohnbauförderung 1987 erprobte Kooperationen gesetzt, um die Vorhaben darin resultierten, dass eine sehr homogene Archi- umzusetzen. John Ruble, einer der Architekten von tektur entstand, da die Größe und Ausstattung der Karow-Nord beschreibt die beiden Wohnsiedlungen als Wohnungen förderrechtlich strikt vorgegeben waren. „Schwestern“: Beide möchten Stadt genannt werden, 1 Vgl. Stimmann, H. (1994, 25. Aprilb). Die Veränderung der Peripherie - Ein Balanceakt. Stadtbauwelt, 5(121), 583–587... — 86 — Städtebaulicher Ent- wurf von Karow-Nord - Moore, Ruble, Yudell Karow-Nord: Hofsituation möchten in Bezug auf gemeinschaftliche Qualitäten reicher sein als Orte, die normalerweise mit den Be- griffen Suburb oder Gartenstadt bezeichnet werden.2 Karow-Nord war die erste der geplanten neuen Vor- städte und sollte ein Praxis-Prüfstein für das neue Leitbild darstellen.3 In der Entwurfsphase der Sied- lung Karow-Nord war das Leitbild der Vorstadt je- doch nur rudimentär vorhanden. Anhand der Dis- kussion zu dem Projekt wurden die Gestaltleitlinien für die Berliner Vorstädte mit entwickelt, die in Hans Stimmanns Thesen mündeten.4 Erste Entwürfe für das Gebiet Karow-Nord wurden in einem Workshop- verfahren mit sieben Architekturbüros entwickelt, die Weiterbearbeitung erfolgte durch das Büro Moore/ Dichte innerhalb des Gebietes differenziert und es Ruble/Yudell aus Santa Monica, Kalifornien, die zu wurden verschiedene Gebäudetypen genutzt. Zwischen den zentralen Köpfen der architektonischen Postmo- den Randflächen und dem Zentrum variierte die Dichte derne zählten. Als Besonderheit des Entwurfes galt, zwischen 0.4 und 1.0 GFZ, umgesetzt wurde sie durch dass „der Platz als städtebauliches Strukturelement (...) Gebäudetypen wie Reihenhäuser, Stadtvillen und eine in einer maßstäblich geometrischen Form mit relativ Blockrandbebauung. Die hohe städtebauliche Quali- geschlossenen Platzwänden“5 wiederentdeckt wur- tät und der innovative Charakter des Gebietes konnten de. Besondere Alleinstellungsmerkmale wurden in damals vor allem realisiert werden, weil die Bauher- Karow-Nord durch Details wie die geneigten Dächer ren Interesse daran hatten und weil alle beteiligten geschaffen. Wichtige Gestaltungselemente wie z.B. Planer*innen aus verschiedenen Büros und aus der die Fassadengestaltung, die Gestaltung von Eingangs- Verwaltung mit großem persönlichen Einsatz daran bereichen oder Vorgärten wurden zudem durch eine arbeiteten, „gute“ Pläne für das Gebiet zu entwickeln.6 Gestaltungssatzung festgelegt. Um die neue Siedlung mit dem Bestand im Umfeld zu verbinden, wurde die Vgl. Hoffmann, K-D, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Interview 43025 2 Vgl. Ruble, J. (2001). Kirchsteigfeld and Karow Nord. UC Berkley Pla- ces, 14(2), 64–65. Abgerufen von https://placesjournal.org/assets/ legacy/pdfs/kirchsteigfeld-and-karow-nord.pdf 3 Berning, M., & Braum, M. (2003). Berliner Wohnquartiere: ein Führer durch 70 Siedlungen. Berlin: Reimer.S. 283 4 Vgl. Hoffmann, K-D, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Interview 43025 5 Berning, M., & Braum, M. (2003). Berliner Wohnquartiere: ein Führer durch 70 Siedlungen. Berlin: Reimer. S. 284 — 87 — Karow-Nord: Nebenstraße Aufgegriffen wurde das Bild der traditionellen vor- städtischen Strukturen in der Siedlung durch eine Reihe von städtebaulichen und architektonischen Gestaltungselementen. Wichtige Elemente waren: » Eine Parzellierung wurde gestalterisch angedeu- tet, um eine direkte Zuordnung von Haustür und Adresse zu ermöglichen. » Haupt- und Nebenstraßen wurden differenziert und hierarchisiert und es wurden Dramaturgie und Rhythmus zwischen öffentlichen Gebäuden, Wohn- und Geschäftshäusern und öffentlichen Räumen Städtebaureformbewegung New Urbanism – nicht entwickelt. zuletzt, weil Moore/Ruble/Yudell im Congress for the New Urbanism eine wichtige Rolle spielten.9 » In ruhigen Nebenstraßen säumten Vorgärten die Durch gestalterische Elemente wird in Karow-Nord Wohnhäuser. und im Kirchsteigfeld in erster Linie ein Image der „bürgerlichen Stadt“ geschaffen, vor allem, weil die » Wohn- und Geschäftshäuser bzw. gewerblich ge- meisten Bewohner*innen Mieter*innen sind und die nutzte Erdgeschosszonen kennzeichnen zentrale Trägerschaft der Projekte in der Hand weniger gro- Orte in der Siedlung. ßer Gesellschaften liegt. Das Bild des ‚Stadtbürgers‘, der sich aufgrund des sich in seinem

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