SHANE DENSON / RUTH MAYER BILDSTÖRUNG — Serielle Figuren und der Fernseher Serielle Figuren haben kein Gedächtnis. Sie durchleben immer wieder diesel­ ben Konflikte, sie verlieben sich immer wieder in dieselbe Person, sie verhalten sich, wie wir es von ihnen erwarten – vertraut, kalkulierbar, selbstvergessen. Hierin unterscheiden sich serielle Figuren von Seriencharakteren, die in einer fortlaufenden Inszenierung (beispielsweise einer Soap Opera, einem Serien­ roman oder einer Saga) entwickelt werden und dabei durchaus so etwas wie psychologische Tiefe gewinnen. Als serielle Figuren verstehen wir dagegen topische Figuren, die sich in der populärkulturellen Imagination des 20. und 21. Jahrhunderts fest etabliert haben und deren populärkulturelle Karriere von unterschiedlichen Medien geprägt wurde: Figuren wie Frankensteins Monster, 1 Lorenz Engell, Erinnern/ Dracula, Sherlock Holmes, Tarzan, Fu Manchu, Fantômas, Superman oder Vergessen. Serien als operatives Batman. Für diese Figuren gilt grundsätzlich, was Lorenz Engell über die Hel­ Gedächtnis des Fernsehens, in: Robert Blanchet u. a. (Hg.), Serielle den der TV­Episodenserie der 1960er und 70er Jahre schrieb: «Sie lernen über­ Formen. Von den frühen Film-Serials zu haupt nichts dazu, sie wissen alles immer schon, verändern sich jedoch in keiner aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg (Schüren) 2011 (Zürcher Weise. Sie vergessen alles, was sie im Laufe der Serie erlebt haben, beziehen Filmstudien, Bd. 25), 115 – 133, hier sich auch niemals auf gemachte Erfahrungen oder bewährte Problemlösungen, 122 – 123. Vgl. auch Umberto Eco, Der Mythos von Superman, in: ders., es sei denn solche, die außerhalb der Serie liegen».1 Die Protagonisten der epi­ Apokalyptiker und Integrierte. Zur sodischen TV­Serie sind in der einzelnen Folge gefangen. Kontinuität schaffen Kritik der Massenkultur, Frankfurt / M. (Fischer) 1984, 273 – 312. Für eine nicht wie in Serien mit übergreifenden Handlungsbögen die Biografien oder ausführlichere Darlegung der Un- Psychogramme der Charaktere, sondern die Parameter des Erzählens selbst: terschiede zwischen serieller Figur und Seriencharakter siehe Shane Plotmuster, Handlungsorte, Figurenkonstellationen, Ausstattungen. Serialität Denson, Ruth Mayer, Grenzgänger. präsentiert sich als unaufhörlicher Akt der Rekursion: «Die Folge erinnert, die Serielle Figuren im Medienwechsel, in: Frank Kelleter (Hg.), Populäre Seri- Serie vergisst».2 alität. Narration-Evolution-Distinktion, Serielle Figuren ähneln den klassischen Fernsehserienhelden nun insofern, Bielefeld (transcript) 2012, 185 – 203. Der Band dokumentiert die Arbeit als sie ähnlich situativ angelegt sind; der breitere Rahmen ihrer Entfaltung der Forschungsgruppe «Ästhetik allerdings gestaltet sich signifikant anders. Serielle Figuren mögen zwar über und Praxis populärer Serialität» (Göttingen, Leitung Frank Kelleter), Perioden ihrer Entwicklung durchaus auch in klassischen Serienerzählungen die den Kontext für die vorliegende existieren: Sherlock Holmes, Fu Manchu, Fantômas und Tarzan erblickten das Forschungsarbeit darstellt. 2 Engell, Erinnern/Vergessen, 123. Licht der Welt als die Helden von Fortsetzungsromanen und alle genannten 90 ZfM 7, 2/2012 Figuren durchliefen Phasen, in denen sie Gegenstand einer fortlaufenden Radio­, Comic­, Film­ oder Fernsehserie waren – und in diesem Rahmen erlangten manche Figuren auch durchaus Tiefenschärfe. Aber die einzelne Serien erzählung ist immer nur ein Schritt im plurimedialen Leben einer se­ riellen Figur. Sherlock Holmes lebt, wirkt, stirbt und aufersteht in Sir Conan Doyles Serien erzählungen von 1887 bis 1927, parallel widerfährt ihm all das jedoch auch im Rahmen eines Film Serials (von 1921 bis 1922) und in den fol­ genden Jahren in zahlreichen anderen medialen Formaten. Je öfter die Figur erzählt wird, desto flacher wird sie, bis es fast unweigerlich zu Reboots oder narrativen Brechungen kommt – die frühen Jahre werden erzählt, die dunk­ len Seiten der Figur aufgedeckt etc. Dann setzt in der Regel eine erneute Ver flachung ein oder die Figur erweist sich als narrativ ausgeschöpft und ver­ schwindet. Idealtypisch gesehen existieren serielle Figuren mithin als Serie – als eine Reihe von Inszenierungen, die sich eben nicht innerhalb eines homogenen medialen und diegetischen Raumes sondern zwischen oder quer zu solchen Er­ zählräumen entfalten. Betrachtet man die serielle Figur aber nicht im Fokus auf 3 Ebd., 130. 4 Vgl. hierzu generell Kay ihre je spezifische mediale Manifestationsform oder episodische Inkarnation, Kirchmann, Zwischen Selbstre- sondern vor dem Hintergrund ihrer plurimedialen seriellen Entfaltung, dann flexivität und Selbstrefentialität. Überlegungen zur Ästhetik des muss man auch die Diagnose der Gedächtnislosigkeit revidieren oder präzisie­ Selbstbezüglichen als filmischer ren. Denn die Kontinuität einer seriellen Figur wird mittels Verfahren von Rei­ Modernität, in: Ernst Karpf, Doron Kiesel, Karsten Visarius (Hg.), «Im teration und Aufschub gesichert, die ein serielles Gedächtnis ganz eigener Art Spiegelkabinett der Illusionen». Filme herstellen. Um ein weiteres Mal auf Lorenz Engells Aufsatz zurückzukommen: über sich selbst, Marburg (Schüren) 1996, 67 – 86; Lorenz Engell, Die ge- Die serielle Figur ähnelt nicht nur der episodischen Figur der ‹primitiven› netische Funktion des Historischen Fernsehserie, sondern sie nimmt gleichzeitig die Gedächtnispolitik der Post­ in der Geschichte der Bildmedien, in: ders., Joseph Vogl (Hg.), Mediale Network­Serie vorweg, in der Figuren nicht länger als die Erinnerungssubjek­ Historiographien, Weimar (Archiv für te fungieren: «Sie verfügen nicht über das Gedächtnis, das Gedächtnis verfügt Mediengeschichte) 2001, 33 – 56; Denson, Mayer, Grenzgänger. Und über sie».3 speziell in Bezug auf ausgewählte Deshalb sind serielle Figuren auch in ganz anderer Weise – pointierter, of­ serielle Figuren und Formate: Shane Denson, Tarzan und der Tonfilm. fensichtlicher – medial selbstreflexiv, oder vielleicht besser: medial rekursiv, Verhandlungen zwischen ‹science› angelegt als episodische Figuren. Für die Karriere dieser Figuren spielt die und ‹fiction›, in: Gesine Krüger, Ruth Mayer, Marianne Sommer (Hg.), Selbstbeobachtung von Medien eine wichtige Rolle.4 Im Folgenden interes­ «Ich Tarzan». Affenmenschen und Men- sieren wir uns jedoch für den Effekt, den der medial spezifische Blick auf ein schenaffen zwischen Science und Fiction, Bielefeld (transcript) 2008, 113 – 130; anderes Medium für die episodische Arretierung oder Verortung einer seriellen Frank Kelleter, Daniel Stein, Great, Figur hat. Mit dem Fernsehen nehmen wir ein massenkulturelles Leitmedium Mad, New: Populärkultur, serielle Ästhetik und der frühe amerikani- in den Blick, das das Selbstverständnis anderer medialer Unterhaltungsforma­ sche Zeitungscomic, in: Stephan te (Roman, Spielfilm) ab den 1930er Jahren wesentlich affizierte. Anstelle uns Ditschke, Katerina Kroucheva, Dani- el Stein (Hg.), Comics. Zur Geschichte mit der Inszenierung serieller Figuren in der Fernsehserie zu beschäftigen (was und Theorie eines populärkulturellen sicherlich auch eine Betrachtung wert wäre), wollen wir uns dem momenta­ Mediums, Bielefeld (transcript) 2009, 81 – 118; Shane Denson, Marvel nen Aufscheinen des Fernsehers als Bildträger, Kommunikationsmedium und Comics’ Frankenstein. A Case Study Mattscheibe im plurimedialen seriellen Fluss der Inszenierung von seriellen in the Media of Serial Figures, in: Amerikastudien 56/4 (2012), 531 – 553; Figuren annehmen. Der Fernseher, so unsere Hypothese, wird immer wieder Ruth Mayer, Machinic Fu Manchu. auf sehr unterschiedliche Weise als Medium der seriellen Selbstvergewisserung Popular Seriality, and the Logic of Spread, in: Journal of Narrative Theory inszeniert. Für diese Zwecke interessiert bezeichnenderweise nicht nur der 43/3 (2013, im Erscheinen). 91 SHANE DENSON / RUTH MAYER serialitätsaffine Charakter des Mediums Fernsehen, sondern immer auch der spannungsreiche Gegensatz von televisueller Ortlosigkeit (der ‹Sendung›, der ‹Ausstrahlung› oder der ‹Übertragung›) und materieller Präsenz (des Fernseh­ apparats), der die kulturelle Wahrnehmung des Mediums wesentlich bestimmt5 und der dafür sorgt, dass das Fernsehen und der Fernseher gleichermaßen als Inbegriff der seriellen Sequenzialität und als Störfaktor oder Instrument der Ar­ retierung im Fluss der seriellen Figureninszenierung erscheinen. Unsere Fall­ beispiele versuchen eine historische Entwicklung nachzuzeichnen, sie ließen sich im Bezug auf weitere serielle Figuren ergänzen, verfeinern und kompli­ zieren. 1939: Fu Manchu. Der Fernseher im Roman 1939 war Fu Manchu seit fast 30 Jahren damit beschäftigt, die Weltherrschaft zu erringen. In den Romanen Sax Rohmers, der mit dem chinesischen Meister­ schurken weltberühmt geworden war, sah man ihn ein ums andere Mal gegen seinen Gegner Sir Nayland Smith triumphieren und dann doch verlieren.6 Im neunten Band der Serie, The Drums of Fu Manchu, wird als Erzähler der Jour­ nalist Bart Kerrigan etabliert. Kerrigan hat wie seine Vorgänger – die wech­ selnden Erzählerfiguren der Fu Manchu­Geschichten – die schwierige Auf­ gabe, den schnellen Fluss der Ereignisse zu dokumentieren. Mehr als frühere Erzähler kämpft Kerrigan aber auch mit dem Problem, die Serienvergangen­ heit, an der er selbst keinen Anteil hatte und mit der er auch nur vage vertraut ist, mit den aktuellen Entwicklungen der Diegese in Bezug zu setzen. Dazu kommt 1939 der prekäre Erzählumstand, dass nun die funktionale Ästhetik des Romans nicht nur durch literarische
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