Tag Des Gedenkens Für Die Opfer Des Nationalsozialismus Gedenkstunde Des Deutschen Bundestages Am 27

Tag Des Gedenkens Für Die Opfer Des Nationalsozialismus Gedenkstunde Des Deutschen Bundestages Am 27

Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2012 Day of Remembrance for the Victims of National Socialism Ceremony of Remembrance at the German Bundestag on 27 January 2012 4 Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages 6 Programm der Gedenkstunde 8 Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert 12 Rede von Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki 22 Profile 23 Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki 26 Mieczysław Weinberg, Komponist 27 Jascha Nemtsov, Pianist, Kolja Blacher, Violinist 28 Sophia Whitson, Harfenistin 29 Gabriele von Lutzau, Künstlerin und Bild- hauerin 30 Jugendbegegnung des Deutschen Bundes- tages anlässlich des Gedenktags .Fault .יארחא .Адказны . Provinění„ 32 Culpabilité. Schuld.“ 42 Ausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Ge- schichte“: eine Ausstellung des Anne Frank Zentrums in Berlin in Zusammen- arbeit mit dem Anne Frank Haus Ams- terdam 50 Ausstellung „Fiederungen“: eine Ausstellung der Künstlerin Gabriele von Lutzau Inhalt Contents 58 Day of Remembrance for the Victims of National Socialism – Ceremony of Remembrance at the German Bundestag 60 Programme 62 Speech by the President of the German Bundestag, Professor Norbert Lammert 66 Speech by Professor Marcel Reich-Ranicki 76 Profiles 77 Professor Marcel Reich-Ranicki 80 Mieczysław Weinberg, composer 81 Jascha Nemtsov, pianist, Kolja Blacher, violinist 82 Sophia Whitson, harpist 83 Gabriele von Lutzau, artist and sculptor 84 The German Bundestag’s Youth Encounter marking the Day of Remembrance .Fault .יארחא .Адказны . Provinění“ 86 Culpabilité. Schuld.” 96 Exhibition Yours, Anne. One girl’s historic story An exhibition by the Anne Frank Centre Eine DVD, die auch von Menschen mit Seh- in Berlin in cooperation with the Anne behinderung betrachtet werden kann, befin- Frank House, Amsterdam det sich auf der letzten Umschlagseite der Ge- denkschrift. 104 Exhibition Featherings A DVD which is also accessible to people with An exhibition by the artist a visual impairment can be found on the in- Gabriele von Lutzau side back cover. 4 Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus Gedenkstunde des Deutschen Bundestages Berlin, 27. Januar 2012 5 Frédéric Chopin, Nocturne in cis-Moll Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert Rede von Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki Mieczysław Weinberg, Sonate für Violine und Klavier Nr. 3, Opus 37 Andantino Programm der Gedenkstunde 6 Ehrengast Marcel Reich-Ranicki, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Präsident des Bundes- verfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, Bundespräsident Christian Wulff und Bundesratsprä- sident Horst Seehofer (v. l.). 7 Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Verehrter, lieber Herr Reich-Ranicki! Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren! Frédéric Chopin ist einer der großen europä- ischen Künstler, die der Welt gehören – auch wenn Polen wie Franzosen ihn verständlicher- weise gerne als ihren Landsmann für sich in Anspruch nehmen. Seine Werke sind Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Und zu sei- nen Meisterwerken zählt ohne Zweifel das un- scheinbare Nocturne in cis-Moll, das wir ge- rade gehört haben. Der polnische Pianist und Komponist Władysław Szpilman, dem der be- eindruckende Film Der Pianist ein Denkmal gesetzt hat, spielte dieses Nocturne im polni- schen Rundfunk, als dieser seine Sendung Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert 8 wegen des Angriffs deutscher Truppen auf Warschau unterbrach. Mit genau demselben jene, die – wie Sie – für den „Judenrat“ arbei- Stück – wieder gespielt von Władysław teten. Mit Ihrer im vergangenen Jahr verstorbe- Szpilman – nahm der polnische Rundfunk sei- nen Frau Teofila, die Sie in Freuden und Lei- ne Sendungen nach dem Zweiten Weltkrieg den über Jahrzehnte begleitet hat, entgingen wieder auf. Sie gemeinsam der Deportation und der Er- Stellvertretend für viele Gäste, insbesondere mordung der Juden des Warschauer Gettos im Überlebende und Vertreter der Opfergruppen, KZ Treblinka. Ein halbes Jahr später, im Januar begrüße ich heute Morgen Detlev Hosenfeld, 1943, sollten auch Sie und Ihre Frau deportiert dessen Vater, der Wehrmachtshauptmann Wil- werden. Sie konnten sich in letzter Sekunde helm Hosenfeld, seit 1940 in Polen NS-Opfer retten, indem Sie flohen und sich versteckten, versteckte, darunter den Pianisten Szpilman, anderthalb lange Jahre – im Unterschied zu Ih- der deshalb überlebte. ren Eltern und Ihrem Bruder, die von den Na- In seiner Biografie schreibt Marcel Reich- zis ermordet wurden. Ranicki, dass die deutsche Wehrmacht, direkt Ihr Schicksal steht stellvertretend für das von nachdem sie in Warschau einmarschiert war, Millionen Menschen. All jener, die während ein Chopin-Denkmal sprengte. Die Nationalso- der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zialisten unterstellten seiner Musik revolutio- ausgegrenzt, gedemütigt, beraubt, vertrieben, näre Gedanken. Verboten war es ohnehin, Mu- verfolgt, gefoltert und ermordet wurden, ge- sikwerke aufzuführen, die mit der polnischen denken wir heute, am Jahrestag der Befreiung Nationaltradition zusammenhingen – schon des Konzentrationslagers Auschwitz. Wir ge- gar im Warschauer Getto. denken der Juden, der Sinti und Roma, der Im Sommer dieses Jahres jährt sich zum 70. Mal Homosexuellen, der Menschen mit Behinde- der Tag, an dem die SS die sogenannte Um- rungen, der Kranken, der Zwangsarbeiterin- siedlung der Juden aus dem Warschauer Get- nen und Zwangsarbeiter, der Künstler und to befahl. Sie, verehrter Herr Reich-Ranicki, Wissenschaftler, der aus rassistischen, politi- mussten am 22. Juli 1942 ebenjene Sitzung pro- schen oder religiösen Motiven Verfolgten. Wir tokollieren, an dem Tag, so schreiben Sie, an erinnern auch an diejenigen, die schikaniert, dem – Zitat – „über die größte jüdische Stadt inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, Europas das Urteil gefällt worden war, das To- weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten desurteil“. Von dieser Deportation ausgenom- Menschen Schutz und Hilfe gewährten. Wir men sein sollten nur wenige, da runter auch gedenken aller Opfer des Nationalsozialismus, 9 Angst leben können. Das ist unser Ziel und für dessen Grausamkeit und Menschenverach- unsere Verpflichtung. Die vergangenen Wochen tung nicht zuletzt die sogenannte Wannsee- und Monate mit der Aufdeckung einer bei- Konferenz steht, die sich vor einer Woche spiellosen Mordserie haben uns allerdings zum 70. Mal jährte. wieder vor Augen geführt, dass wir dieses Ziel Anfang Januar 1942 hatte Reinhard Heydrich, noch nicht erreicht haben. Aber: Jeden Tag Chef der Sicherheitspolizei, hochrangige Ver- setzen sich überall in Deutschland Bürgerin- treter von SS- und Polizeidienststellen für den nen und Bürger dafür ein. 20. Januar zu einer – Zitat – „Besprechung mit Da sind Einzelne, Vereine, ganze Dörfer; da anschließendem Frühstück“ eingeladen. Bei sind Menschen, die den Rechtsextremen, die diesem Treffen, unter Beteiligung von Staats- durch ihre Städte marschieren wollen, immer sekretären aus dem Auswärtigen Amt, dem wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden Justiz- und Innenministerium sowie Görings eure Diffamierungen, euren Hass nicht, schon Superministerium und Hitlers Reichskanzlei, gar nicht eure Gewalt. wurde der Holocaust generalstabsmäßig ge- plant und organisiert – an mehr als elf Milli- Beifall onen Menschen nach Adolf Eichmanns Be- rechnungen über die Anzahl der Juden im Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, Herr schafts bereich des NS-Regimes, in den die nicht wegsehen, Diskriminierungen nicht Staaten der Verbündeten, der Neutralen wie unwidersprochen stehen lassen. Es sind Men- der Kriegsgegner. Beschlossen war der Mas- schen, die ein Beispiel geben und die Mut sen mord damals längst und die Schwelle zum machen. Genozid bereits überschritten, als in der Villa Dieses Engagement werden wir brauchen und am Wannsee der systematische Ablauf und die diesen Mut auch. Nach dem Expertenbericht perfiden Details für den industriell perfektio- zum Antisemitismus in Deutschland, den der nierten Völkermord besprochen wurden. Deutsche Bundestag 2008 in Auftrag gegeben Das Haus der Wannsee-Konferenz ist heute ei- hatte und vor wenigen Tagen erhalten hat, gibt ner der vielen Orte der nationalsozialistischen es hierzulande einen latenten Antisemitismus Gewaltherrschaft, die uns erinnern und mah- in der Größenordnung von etwa 20 Prozent nen, uns dafür einzusetzen, dass in Deutsch- der Bevölkerung. Das sind für Deutschland ge- land alle Menschen frei und gleich und ohne nau 20 Prozent zu viel. Bundespräsident Christian Wulff, Ehrengast Marcel Reich-Ranicki und der Präsident des Bundesver- fassungsgerichts Andreas Voßkuhle (v. l.). 10 Beifall Trawniki ermordet. Mieczysław Weinberg machte es sich zu seiner Lebensaufgabe, mit Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Musik an das tragische Schicksal seiner Fa- Reich-Ranicki, Ihr Buch Mein Leben ist, wie milie und der Millionen ermordeter Juden zu Sie schreiben, „voll von kleinen Geschichten, erinnern. „Ich sehe es als meine moralische die helfen, die große Geschichte besser zu ver- Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den stehen“. So heißt es im Vorwort zu jenem Aus- Gräueln, die der Menschheit in unserem wahlband Ihrer Biografie, der mittlerweile in

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