XII Einleitung Von den in dem Band „Weitere Orchesterwerke“1 vorgeleg- Wohnort vorgelegt.4 Doberan war 1793 nach südenglischem ten Kompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys bildet die Vorbild als erstes Ostseebad von Friedrich Franz I. ( 1756– 1837) Ouver türe für Harmoniemusik C-Dur op. 24 MWV P 1 inso- eingerichtet worden. Der kunstbeflissene Monarch, seit 1785 fern eine Besonderheit, als sie in mehreren Fassungen existiert Herzog zu Mecklenburg und seit 1815 Großherzog von Meck- und deshalb als einzige Komposition dieser Werkgruppe für lenburg-Schwerin, nutzte Doberan als Sommerresidenz.5 Er den Inhalt des vorliegenden Bandes in Frage kam. Es handelt unterhielt in Ludwigslust eine Hofkapelle, deren Ruf weit über sich um eine zu Lebzeiten Mendelssohns unveröffentlichte Fas- den unmittelbaren Wirkungsort ausstrahlte.6 Einige Musiker sung für elf Blasinstrumente von 1826 sowie um zwei Arrange- versahen ihren Dienst in den Sommermonaten in Doberan, ments für Klavier zu vier Händen, die 1838 im Zusammenhang also an jenem Ort nahe der Ostsee, den Mendelssohn als „ein mit der Hauptfassung für 23 Blasinstrumente und Janitscha- hübsches Dorf im Sande“7 bezeichnete. reninstrumente entstanden. Die herausgehobene Stellung wird Durch insgesamt zehn erhaltene Briefe, die zwischen 3. und zudem durch eine beachtliche Quellenvielfalt, etliche mit der 31. Juli 1824 von Doberan nach Berlin geschickt wurden, ist Entstehung zusammenhängende ungelöste Fragen sowie durch die Nachwelt detailliert über die dortigen Ereignisse und die den Umstand unterstrichen, dass die Ouvertüre in der erweiter- Eindrücke der verreisten Mendelssohns informiert.8 Drei Tage ten Bläserfassung als einziges Stück dieses Werkbestandes vom nach Ankunft resümierte der Fünfzehnjährige humorvoll: „Wir selbstkritischen Komponisten für wert befunden wurde, veröf- haben hier gräulich viel zu thun. Unsere wichtigsten Beschäf- fentlicht zu werden. tigungen sind: Baden, Caffeetrinken, Erdbeerenessen, Mittag- brodessen, Spazierengehn, Schachspielen, Abendbrodessen, und Schlafen. Aber zuweilen sehen wir auch aus dem Fenster. Ist das Inspiration 1824 im Ostseebad Doberan nicht viel?“9 Neben dem ungewohnten, aber beeindruckenden Schwimmen in der Ostsee fanden ausgedehnte Spaziergänge in Im Sommer 1824 verbrachte Felix Mendelssohn Bartholdy mit die Umgebung statt. Außerdem fertigte Mendelssohn mehrere seinem Vater vergnügte Wochen im Seebad Doberan (damals Zeichnungen vom Doberaner Münster und von den Gemäuern allenthalben Dobberan genannt)2 und dem direkt an der Ost- des Zisterzienserklosters an.10 Den unbeschwerten Tagesablauf see liegenden Ortsteil Heiligendamm. Das Gästebuch verzeich- fasste ein weiteres Schreiben nach circa zweieinhalb Wochen net die Ankunft am 3. Juli 1824 unter der laufenden Nummer zusammen: „Des Morgens früh müssen wir Caffee trinken, ud. 142 „Herr Rentier A. Mendelssohn Bartholdy, aus Berlin.“ und dann nach dem Bade fahren. Sind wir gewaschen so gehen wir „143. Herr Fel. Mendelssohn Bartholdy.“, beide untergekom- den größten Theil des Weges zurück, und setzen uns dann in men „b. H. Pr. Röper.“3 Der Herr Präpositus und Prediger Fried- den Wagen, fahren den Rest, so ist es halb 10 Uhr. Nun hun- rich Ludwig Röper (1768–1830), bei dem die beiden logierten, gert mich ganz entsetzlich. Ich esse also eilig zwei oder drei Kir- hatte bereits 1808 einen vielbeachteten Reiseführer über seinen schen und einige Bissen Brod dazu. Dann lerne ich auswendig. 1 Siehe Serie I, Band 10 dieser Ausgabe. Er enthält alle Orchesterwerke, die nicht in den Bänden mit den Konzert-Ouvertüren und Sinfonien gedruckt sind. Konkret handelt es sich um die Ouvertüre für Harmoniemusik C-Dur MWV P 1, den Trauermarsch a-Moll MWV P 14, den Marsch D-Dur MWV P 16 sowie um drei weitere Märsche MWV P 17, P 18 und P 19. Im Anhang werden eine unvollendete Sinfonie C-Dur MWV N 19 und ein ebenfalls fragmentarisch überlieferter Tusch Es-Dur MWV P 10 mitgeteilt. 2 Seit 1921 trägt der Ort die Bezeichnung Bad Doberan. 3 Drittes Verzeichniß der im Sommer 1824 zu Doberan angekommenen Cur=Gäste und Fremden, Rostock o. J. 4 F. L. Röper, Geschichte und Anekdoten von Dobberan in Mecklenburg. Nebst einer umständlichen Beschreibung der dortigen Seebadeanstalten und einem Grundrisse von Dobberan. Zur Belehrung für Fremde und Curgäste, Dobberan 1808. 5 Er starb in Ludwigslust, sein Sarkophag steht im Doberaner Münster. 6 „Was nun besonders das Orchester anbetrifft, so darf sich dieses mit Recht und Fug den ersten in Deutschland an die Seite stellen.“, in: Ueber den Zu- stand der Musik in Mecklenburg, in: Allgemeine musikalische Zeitung 21 (1819), Nr. 46 (17. November), Sp. 776–781, das Zitat Sp. 777. 7 Brief vom 6. und 7. Juli 1824 an die Familie (Briefteil vom 6. Juli), Music Division, The New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations (im Folgenden: US-NYp), *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 11, gedruckt in: Felix Mendelssohn Bar- tholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 1, hrsg. und kommentiert von Juliette Appold und Regina Back, Kassel etc. 2008 (im Folgenden: Sämtliche Briefe, Bd. 1), S. 121–124, das Zitat S. 122. 8 Die zehn Briefe sind in der Ausgabe Sämtliche Briefe, Bd. 1 [Anm. 7], S. 120–136, erstmals vollständig wiedergegeben. Es handelt sich um acht Briefe an die Familie sowie um zwei Briefe an Carl Friedrich Zelter. 9 Brief vom 6. und 7. Juli 1824 an die Familie (Briefteil vom 6. Juli), US-NYp, *MNY++ Mendelssohn-Bartholdy, Felix, Familienbriefe, Nr. 11, gedruckt in: Sämtliche Briefe, Bd. 1 [Anm. 7], S. 121–124, das Zitat S. 123. 10 Bodleian Library, University of Oxford (im Folgenden: GB-Ob), MS. M. Deneke Mendelssohn e. 3, fols. 36–38 und MS. M. Deneke Mendelssohn c. 5, fols. 40–42. Ein Blick auf das Münster vom 3. Juli 1824, also dem Tag der Ankunft, wurde erstmals abgebildet in der japanischen Publikation: Reiko Koyanagi (Hrsg.), Mendelssohn, Tokyo 1992 (= Oneiros; No. 7), S. 53. Siehe ferner Ralf Wehner, Vorläufiges Verzeichnis des bildkünstlerischen Werkes von Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Mendelssohn-Studien 20 (2017), S. 227–365, speziell S. 314 und 318. XIII […] Nun ist’s zwölf; man macht sich ordentlich, ud. geht in Mendelssohn Bartholdy eine vergleichbare Reise nach Doberan die Harmoniemusik. Diese besteht aus 1 Flöte, 2 Clarinetten! 2 antrat, diesmal in Begleitung seiner einundzwanzigjährigen Oboen, 2 Fagotten, 2 Horne, 1 Trompete ud. 1 Baßhorn. Das Tochter Fanny Mendelssohn Bartholdy, kam die Erinnerung an ist ein großes Instrument von Blech, hat einen schönen, tiefen die Doberaner Kapelle zurück in das Haus Mendelssohn und Ton, und sieht so aus wie eine Gießkanne, oder eine Spritze hatte unmittelbare kompositorische Konsequenzen. […].“11 Bei diesem tiefen Blasinstrument handelt es sich um ein englisches Basshorn (Corno inglese di basso), auf das im weiteren Verlauf dieser Einleitung noch näher eingegangen Das so genannte „Nocturno“ für elf Blasinstrumente von 1826 wird. Es waren wohl jenes für den jungen Mendelssohn so un- gewöhnliche Instrument und die aparte Besetzung der Kapelle Zwei Jahre nach dem bemerkenswerten Aufenthalt in Doberan insgesamt, die bei ihm nicht nur zu der detaillierten Briefschil- und in unmittelbarem Vorfeld zur Entstehung der Sommer- derung, sondern auch zu einem nachhaltigen Eindruck füh- nachtstraum-Ouvertüre op. 21 MWV P 318 notierte Mendels- ren sollten. Doch vom Komponieren war in den ganzen vier sohn ein einsätziges, aus einem Andante und einem Allegro vi- Wochen des Aufenthaltes an der Ostseeküste höchst selten die vace bestehendes Werk für elf Blasinstrumente. Er wählte dabei Rede. Mendelssohn löste eine kontrapunktische Denkaufgabe ein Instrumentarium, das exakt der Besetzung der Hofkapelle für seinen Lehrer C. F. Zelter,12 schrieb ein Allegro vivace für entsprach, die er 1824 in Doberan erlebt hatte: Den doppelt Klavier13 und arbeitete ansonsten an seiner komischen Oper Die besetzten Oboen, Klarinetten, Fagotten und Hörnern wurden Hochzeit des Camacho op. 10 MWV L 5. Kurz vor der Abreise jeweils eine Flöte, Trompete sowie ein Corno inglese di basso hieß es: „Im Ernst ich möchte bald wieder to Hus14 sein, mir ist zugeordnet. Die siebzehnseitige autographe Partitur versah der zuweilen ganz miserabel zu Muthe, und dann komponir’ ich, Komponist mit dem Schlussdatum „27 Juny 1826“19. Ganz of- so kam’s daß dieser Tage die Oper einen gewaltigen Ruck be- fensichtlich steht dieses Datum in Zusammenhang mit einer un- kommen hat […].“15 Ein Werk für die Kurkapelle ist jedoch in mittelbar bevorstehenden Fahrt von Abraham und Fanny Men- keinem der Briefe erwähnt. Gegen Ende des Aufenthalts wird delssohn Bartholdy nach Doberan und Mendelssohns Wunsch, noch einmal das Ensemble beschrieben: „Denk dir, Fanny, ich etwas für die dortigen Musiker mitzugeben. Das Vorhaben ge- bin auf einmal der declarirte Liebhaber von Hoboen geworden. lang praktisch in letzter Minute vor der Abreise, sodass die Par- Mag es nun sein, daß ich hier nur ZehClarinetten16 höre, oder titur schon drei Tage darauf an der Ostsee war. Wie dem ersten daß ich wirklich umgesattelt habe, kurz, ich lebe und sterbe für Brief der Schwester aus Doberan zu entnehmen ist, erreichte Hoboen. Auch Trompeten stehn sehr in meiner Gunst; denn es die kleine Reisegesellschaft das Ziel nach 21 Stunden Fahrtzeit sind so sehr sanfte Instrumente (wenn sie piano blasen natür- in der Nacht zum 30. Juni 1826.20 Anderthalb Wochen später, lich). Auch werd’ ich Hörner bald sehr lieben; so balds mit den am 11. Juli 1826, übergab Fanny Mendelssohn Bartholdy, wie Trompeten vorbei
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