SEHEN STATT HÖREN ...12. November 2011 1533. Sendung In dieser Sendung: Martin Zierold – erster gehörloser Politiker in Deutschland Reportage aus Berlin-Mitte Gehörloser Abgeordneter Präsentation Anke Klingemann: Hallo, herzlich willkommen bei Sehen statt Hören! Heute steigen wir voll ein in die Politik. Im Mo- ment sind ja viele Bücher von Politikern auf dem Markt, von denen auch einige Bestseller sind. Das Buch, das ich hier vor mir habe, wurde von einer Politikerin geschrieben, die allerdings noch nicht so bekannt ist wie die anderen: Es ist Helene Jarmer, Abgeordnete des Österreichischen Parla- ments und eine der wenigen gehörlosen Politiker in Europa! (Buch groß: „Schreien nützt nichts“) Ein lesenswertes Buch, in dem Frau Jarmer auch ihren Weg beschreibt, wie sie in die Politik ge- kommen ist. In dieser Sendung steht aber nicht sie im Mittelpunkt, sondern ein junger deutscher Politiker. Er hat noch kein Buch geschrieben. Aber er ist der erste Gehörlose, der bisher bei uns in ein politisches Amt gewählt wurde! Alles Weitere erfahren wir jetzt von Thomas Zander aus Ber- lin… Martin Zierold geht mit Dolmetscher zur Martin bei Abstimmung BVV im Rathaus Berlin-Mitte: (Stimme im OFF:) Eindeutig die Mehrheit. Hallo. – Hallo! Schön, dich zu sehen. Geht’s Thorsten Reschke / CDU- dir gut? Fraktionsvorsitzender BVV-Mitte: Ich hab Ja, danke. – Und, aufgeregt? ihn bisher jetzt noch nicht kennenlernen kön- Das bin ich. – Das ist normal. nen, freue mich aber sehr, halte das für einen Zur BVV müssen wir in den 1. Stock, dann großen Vorteil. Es ist jetzt tatsächlich für alle, nach rechts und immer gerade aus. bei jeder Sitzung, wo Herr Zierold mit dabei – Okay, dann lass uns reingehen. ist, immer dieses Thema auch präsent. Man Begrüßung im Fraktionsbüro Bündnis 90/Die kann immer sehr schön an einem Arbeitstisch Grünen, Jutta Schauer-Oldenburg gebärdet davon reden, man kann Drucksachen schrei- Herzlich willkommen! (Zu einem Nebenste- ben, jetzt hat man jemand, der tatsächlich henden:) Das bringt er uns bei. andauernd damit ankommt. Und andauernd Martin nimmt im BVV-Saal seinen Platz ein muss man darauf auch reagieren. Und das ist Moderation Thomas Zander: Die Parlamen- sehr schön, das erhöht den Druck auf alle, te, die wir kennen, sind meistens groß, so wie und das kann nur helfen. der Bundestag. Dieses hier ist kleiner – es ist Martin unterhält sich mit Kollegin: Es ist das Stadtparlament von Berlin-Mitte. Genauer komisch, hier als einziger Gehörloser zu sit- gesagt nennt es sich: Bezirksverordneten- zen. Bisher bin ich immer die Sitzungen mit Versammlung (BVV), und die Abgeordneten Gehörlosen gewöhnt, aber hier ist es voll- heißen hier: Bezirksverordnete. Es ist der 27. kommen anders. Oktober 2011. Ein wichtiger Termin für alle Konstituierende Sitzung der Bezirksverordne- hier. Aber für einen der Verordneten ist es ein tenversammlung Mitte von Berlin besonders großer Tag. Er hält heute hier Ein- Rede von Jutta Schauer-Oldenburg, Al- zug als frisch gewählter Kommunalpolitiker terspräsidentin der BVV Mitte, Martin und ist damit der erste gehörlose Politiker in Zierold schaut auf Dolmetscher: „Wir benö- Deutschland: Martin Zierold! tigen eine gerechte Finanzierungsdebatte, eine ressortübergreifende Schwerpunktset- Wie er zur Politik gekommen ist, interessiert zung durch das Bezirksamt. Und Bürgerbetei- mich. Und auch, wie er in der Partei wahrge- ligungen bieten vielfältige Chancen für eine nommen wird und wie er dort auch ankommt zukunftsfähige kommunale Entwicklung. Des- und wie er integriert ist in die Partei, bezie- halb muss der Bürger verstärkt in eine kon- hungsweise generell, wie Gehörlose in die krete politische Gestaltung seiner Umwelt mit Politik integriert sein können. einbezogen werden. Er hat ein Recht auf poli- Fotoshooting tische Mitgestaltung und Mitsprache bei The- Silke Gebel (Bündnis 90/Die Grünen, Di- men, die er global oder lokal für wichtig hält. rektkandidatin Berlin-Mitte): Für mich geht Unser Gemeinwesen bedarf einer bürger- es darum: Wenn ich Wirtschaftspolitik mache, schaftlich gestärkten Demokratie.“ dann schaue ich darauf, was die ökologische Thomas: Wie hat es Martin auf diesen Platz Komponente ist, ich schaue, was die sozialen hier geschafft? Ich habe ihn schon einige Wo- Bedingungen sind, und ich schau halt auch, chen vorher getroffen und ihn beim Wahl- dass man verschiedene Menschen mit einbe- kampf begleitet, als noch niemand wusste, ob zieht und ihnen da eben ermöglicht, dran teil- er wirklich gewählt wird, weil ich sehen wollte, zunehmen am Berufsleben. Und das sind wie sein politischer Weg begonnen hat. dann Menschen, die gehörlos sind, das sind Wahlkampf in Berlin, Plakate / Straßenwahl- Menschen, die im Rollstuhl sind, dass sind kampf der Grünen in Berlin-Mitte, September Menschen, die alleinerziehende Mütter sind… 2011, Martin räumt auf E-Mobil kommt, Stand wird aufgebaut Martin Zierold geht in die Geschäftsstelle Martin Zierold: Die Grünen in der BVV haben Bündnis 90/Die Grünen Berlin-Mitte und ar- heute per Mail dazu aufgerufen, in der letzten beitet an seinem Schreibtisch heißen Phase des Wahlkampfes noch einmal Martin: Ich bin in einem kleinen Dorf auf ei- alles zu mobilisieren, also Flyer zu verteilen, nem Bauernhof aufgewachsen. Meine Eltern bei Bewohnern zu klingeln, hier am Infostand und Großeltern haben damals schon bei der zu sein und bei Podiumsdiskussionen vertre- Ernährung auf Biosachen geachtet. Sie haben ten zu sein. Die Aufgaben werden aufgeteilt. Gemüse nicht irgendwo eingekauft, sondern Heute bin ich hier, um auf der Straße Leute alles im eigenen Garten angepflanzt. Sie ha- anzusprechen. ben immer davon gesprochen, dass sie die Martin verteilt Prospekte / Martin gibt Inter- Lebensmittel nicht woanders einkaufen müs- view für Reporterin der SZ / Jetzt sen, sondern alles selbst anbauen können. Martin: Alleine geht das nicht. Ich brauche an Ich habe auch gemerkt, dass die Sachen aus meiner Seite einen Dolmetscher. Ich bin mehr dem eigenen Garten viel besser schmecken. oder weniger immer in einem Team. Das wird Da habe ich schon ein Bewusstsein für Öko- bis ins hohe Alter so sein. Der Dolmetscher logie bekommen, dass man sich für die Pflan- bildet die Brücke zwischen Hörenden und zen und die Natur einsetzen muss und dann Gehörlosen, weil er so die Kommunikation auch etwas zurückbekommt. Ökologie ist ein vermitteln kann. wichtiger Bestandteil im Programm der Grü- Reporterin der SZ interviewt Martin: Und nen. Deshalb gab es für mich schon einen wo dozierst du? Was machst du beruflich? Anknüpfungspunkt. Martin: Ich bin sozialpädagogischer Assis- Internetseiten / Martin Zierold tent, also so eine Art Jugendbetreuer. Im Ge- Martin: Das ist Alessa, durch sie bin ich mit hörlosenzentrum gibt es viele verschiedene den Grünen in Kontakt gekommen. Im Pro- Bereiche. Der, bei dem ich arbeite, heißt gramm der Grünen ist der Begriff „Bildung“ „Sinneswandel“. Ich war im Raum Berlin bis- sehr klar erklärt, dass zum Beispiel Bildung her der einzige Gehörlose bei den Grünen. für ALLE sein soll. Alessa hat mir immer wie- Vor kurzem sind noch drei dazu gekommen. der davon erzählt, dass dieses Recht auf Bil- In Hamburg gibt es aber mehr. Ich bin froh, dung für Jugendliche oder Kinder selbstver- wenn wir mehr sind, weil wir Gehörlose uns ständlich ist. Aber für Gehörlose sieht die dadurch besser austauschen können. Praxis vollkommen anders aus. Das war der Anne Fromm (Reporterin Süddeutsche Zei- Moment, wo ich mich zu den Grünen hinge- tung): Mir geht es darum, wie er arbeitet, was zogen gefühlt habe. genau er macht, wofür er sich einsetzen will. Internetseite: Wahlprogramm „10 für Berlin“ in schafts- und Bildungsentwicklung braucht. Ich Gebärdensprache würde mal sagen: Eine Vision für Berlin! „Ein solidarisches Berlin, in dem keine und Zuschauer applaudieren keiner zurückbleibt. Wir nehmen nicht hin, Rotes Rathaus mit Berliner Fernsehturm, Ber- dass Menschen an den Rand gedrängt wer- liner Fahne flattert den.“ Thomas vor dem Roten Rathaus: Bei der Martin über seine politischen Ziele: Für Wahl in Berlin am 18. September wurde es mich sind vor allem drei Ziele wichtig. Im dann richtig spannend. Schafft es Renate Schulbereich gibt es die Gehörlosenschulen. Künast, Regierende Bürgermeisterin von Ber- Darüber hinaus sollen die Gehörlosen aber lin zu werden? Und schafft es unser Martin auch die Möglichkeit haben, Regelschulen zu Zierold, als Kandidat auf dem Listenplatz 14 besuchen. Dafür müssen zusätzlich Dolmet- zum Bezirksverordneten der Grünen in Berlin- scher und Sozialpädagogen bereitstehen. Mitte gewählt zu werden? Zweitens: Behörden müssen durch eigenes Martin mit seinen Eltern auf dem Weg zum gebärdensprachkompetentes Personal oder Wahllokal / Martin holt Wahlunterlagen ab und durch Dolmetscher die Kommunikation für geht zum Wählen in die Kabine / Martin er- gehörlose Bürger sicherstellen. Drittens sollen klärt Stimmzettel und zeigt die Berlinkarte im Kiezbereich, also im persönlichen Woh- Martin: Es gibt die Bezirks- und die Landes- numfeld, Gehörlose auch bürgerliche Teilha- liste, und dann die Liste mit den Direktkandi- be erfahren, mitdiskutieren können. Dafür daten. Man kann drei Kreuze machen: Einmal brauchen wir Barrierefreiheit. für einen Direktkandidaten, dann auf der Lan- Freitag 16. September 2011: Martin kommt desliste (das ist die Zweitstimme), und für den mit Fahrrad zur Wahlkundgebung auf dem Bezirksverordneten. Das ist die Karte von Winterfeldplatz in Berlin-Kreuzberg / Martin Berlin. Ich wohne hier im Bezirk Mitte. Dort mit GSD-Dolmetscher Daniel Meixner bin ich bei den Grünen
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