BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG Nr. 13-3 vom 28. Januar 2020 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der Festveranstaltung „30 Jahre Friedliche Revolution und Neugründung des Freistaates Sachsen – 90 Jahre Kurt Biedenkopf“ am 28. Januar 2020 in Dresden: Lieber Kurt Biedenkopf, liebe Ingrid Biedenkopf, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael Kretschmer, und deine Kollegen, sehr geehrte Bundespräsidenten Köhler und Wulff, lieber Norbert Lammert, sehr geehrte aktive und ehemalige Ministerpräsidenten, Minister und Abgeordnete, liebe Gäste – ich könnte hier viele aufzählen –, ich freue mich, heute hier zu sein und mit Ihnen zu feiern. Dazu gibt das Jubiläumsjahr 2020 Anlass genug: 30 Jahre Deutsche Einheit, 30 Jahre Freistaat Sachsen. Und weil aller guten Dinge bekanntlich drei sind, gesellt sich zum Jubiläumsreigen noch der 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf. Auch von meiner Seite: Lieber Kurt, ich gratuliere dir von Herzen zu deinem runden Geburtstag und wünsche dir für das neue Lebensjahr vor allem Gesundheit und Gottes Segen. Alles Gute. Schön, dass wir heute zusammen sind. Am Anfang des neuen Lebensjahrzehnts möchte ich dir zu deinem Lebenswerk gratu- lieren. In der Vielzahl und Breite der Ämter und Funktionen in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik bis hin zum Amt des Ministerpräsidenten ist dein Wirken einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Du hast dich seit jeher offen für Neues gezeigt und Veränderungen eher gesucht als gescheut – auch auf die Gefahr hin, da- bei immer wieder anzuecken. Da könnte ich nun vom Hörensagen aus der Zeit, die mehr als 30 Jahre zurückliegt, manches erzählen. Ich glaube, du hast über alles auch Bulletin Nr. 13-3 vom 28. Januar 2020 / BKin – zum 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf, Dresden - 2 - immer gut Buch geführt. Aber ich will mich hier mehr auf das konzentrieren, was ich selbst gesehen habe. Ich möchte ein Zitat von dir einbringen. Du hast einmal gesagt: „Wenn man nicht quer- denkt, dann kann einem auch nichts Neues einfallen.“ Insofern warst du sozusagen Querdenker von Kind auf und aus Leidenschaft. Was ich immer als sehr faszinierend empfunden habe, weil das in der Politik auch nicht überall verbreitet ist: Du hast dir permanent neue Fragen gestellt, bist dabei auch nicht stehen geblieben, sondern hast nach Antworten gesucht oder bist neugierig gewesen, Menschen zu finden, die Ant- worten geben konnten. Ich zähle jetzt nicht all deine Lebensstationen auf, sonst würden wir den 91. Geburts- tag erreichen. Deshalb möchte ich auf die jüngsten 30 Jahre eingehen. Norbert Lam- mert hat ja schon in die Zeit davor einen kleinen Einblick gegeben. Warum wir heute zum Beispiel nicht dort sind, wo du geboren worden bist, in Ludwigs- hafen, sondern hier in Dresden feiern, erschließt sich aufgrund der Tatsache, dass der Freistaat Sachsen 30 Jahre alt wird. Du hast viele Jahre an Rhein und Ruhr verbracht; und dann hat es dich an die Elbe gezogen. Du warst zwölf Jahre in diesem Freistaat Ministerpräsident. Selbst jetzt noch, 18 Jahre später, bringen dich wohl die meisten Menschen, wenn sie von dir hören, mit Sachsen in Verbindung; und das muss man erst einmal schaffen. Nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung war der Freistaat ja neu entstanden und musste als neues Bundesland erst einmal seine neue Rolle in der Bundesrepublik finden. In dieser Situation musste sich ja ein Quer-, Vor- und Neu-Denker wie Kurt Biedenkopf geradezu eingeladen fühlen, mitzumachen. Warum Sachsen? Es war und ist ja nicht das einzige neue Bundesland. Es gibt famili- äre Verbindungen, denn dein Vater stammte aus Chemnitz. Auch dir selbst lag Sach- sen schon früh recht nahe, weil du in Schkopau und Merseburg im heutigen Nachbar- bundesland Sachsen-Anhalt zur Schule gegangen bist. Kurz nach dem Fall der Mauer folgtest du einer Einladung an die Universität Leipzig, dort eine Vorlesung zu halten. Leider war mein Studium zu diesem Zeitpunkt schon beendet. In Leipzig lerntest du auch Kurt Masur kennen. Er war es auch, der die Idee einer Gastprofessur hatte. So Bulletin Nr. 13-3 vom 28. Januar 2020 / BKin – zum 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf, Dresden - 3 - kam es, dass du 1990 – noch vor der Deutschen Einheit – als erster westdeutscher Professor in Ostdeutschland Vorlesungen gehalten hast. Damals war das noch etwas. Hinterher hat man fast zu viele Westdeutsche gehabt; darüber möchte ich jetzt nicht reden, aber es klang ja hier auch schon an. Sofern sie exzellent waren, war es ja gut. Aber manche aus den alten Bundesländern haben auch versucht, die, die sie nicht so leiden konnten, sozusagen uns unterzujubeln. Das war dann nicht so toll. Ich nenne aber keinen Namen. Du selbst hast von einer großen Lehrzeit für dich gesprochen. Denn es ging dir damals in Leipzig nicht darum, den Studenten ein ihnen damals noch fremdes marktwirtschaft- liches Gedankengut einfach so vorzutragen. Was dich vielmehr ausgezeichnet hat, war, dass du dich vorher selbst in die praktische Lebenserfahrung einer Zentralen Planwirtschaft hineingedacht hast, um dann die Herausforderungen der wirtschaftli- chen Transformation umso verständlicher vermitteln zu können. Das klingt logisch, war aber keineswegs selbstverständlich. Denn wir DDR-Bürger haben damals durchaus die Erfahrung gemacht, dass das Interesse von Westdeutschen am Leben und Arbei- ten in der ehemaligen DDR nicht immer ausgeprägt war. Ganz anders Kurt Biedenkopf. Als Spitzenkandidat der CDU zur Landtagswahl im Oktober 1990 machte er klar: „Ich bin jetzt Sachse, und ich habe auch die Absicht, genau das zu leben.“ Diese Haltung zeugte von Selbstbewusstsein. Mit dieser Haltung hast du auch viele angesteckt, die dieses Selbstbewusstsein dann auch gefunden haben. Und tatsächlich war Selbstbewusstsein angesichts der gewaltigen Aufgaben, vor denen Sachsen wie auch die anderen neuen Länder vor 30 Jahren standen, dringend erforderlich: eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft, veraltete Infrastrukturen, teils marode Innenstädte und katastrophale Umweltbedingungen. Nicht nur die Wirtschaft war auf Vordermann zu bringen, auch die Verwaltung musste vollkommen neu aufgebaut werden. Damit tat sich für Kurt Biedenkopf ein interessantes Betätigungsfeld auf. Er verbreitete Aufbruchstimmung und ebnete Sachsens Erfolgen den Weg. – Du hast damals ja auch fast in einer Kommune gelebt, um viel zu lernen. Man erinnert sich; manche in diesem Raum waren sicherlich dabei. – Natürlich geschah dies zusammen mit vielen Wegge- Bulletin Nr. 13-3 vom 28. Januar 2020 / BKin – zum 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf, Dresden - 4 - fährten und Mitstreitern aus Sachsen und aus den alten Ländern. Das war ein Gemein- schaftswerk, für das wir alle miteinander dankbar sein können – gerade auch mit Blick auf die Ausgangssituation vor 30 Jahren. Kurt Biedenkopf legte großen Wert auf eine solide Haushaltspolitik, lange bevor die Schuldenregel in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Konsolidieren und Investie- ren – das war für ihn kein Widerspruch. Sparen dient ja keinem Selbstzweck, sondern dem Zweck, Freiraum für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Vor allem aber haben für Kurt Biedenkopf die Begriffe Freiheit und Ordnung einen besonderen Stellenwert. Er sah auch darin keinen Gegensatz, sondern ein Paar, das zusammengehört. Es zeich- net Kurt Biedenkopf auch aus – ich habe davon persönlich sehr profitiert –, dass er das, was er tat, auch immer einordnen und erklären konnte und uns damit sozusagen systematisch den Weg aufgezeigt hat, im praktischen täglichen Tun die Grundzüge einer freiheitlichen Ordnung zu verstehen. Er war und ist der Meinung, dass Freiheit einen ordnungspolitischen Rahmen braucht, damit die Wirkmacht bzw. die Marktmacht sich letztlich nicht nur auf wenige Akteure konzentriert, sondern allen zugutekommt. Kurt Biedenkopf machte nie ein Hehl daraus, dass Reformen nicht nur notwendig sind, sondern durchaus auch schmerzhaft sein können. Er suchte deshalb stets das Ge- spräch, erklärte, versuchte, die Menschen auf Veränderungen vorzubereiten – wir ha- ben das am Anfang wunderbar gehört –, zu vermitteln und immer wieder deutlich zu machen: Veränderungen können und werden Chancen mit sich bringen. Die Entwick- lung gab ihm Recht. Und so hatte er nicht nur um Vertrauen geworben, sondern auch sehr viel Vertrauen gewonnen. Auch seine Rekord-Wahlergebnisse brachten das zum Ausdruck. Kurt Biedenkopf ging bzw. geht immer so an die Dinge heran, um auch Mut und Zu- versicht im Freistaat zu stärken. Er bestärkte die Menschen darin, stolz auf Sachsen zu sein. Wenn man nicht aus Sachsen kam, war man manchmal schon ganz bedrückt, weil man nicht ganz so stolz sein konnte. Aber gut, die Sachsen und die Mecklenburger – das ist sowieso ein langes Kapitel. In der Zeit der friedlichen Revolution stand auf den Zügen: „Schlaft ruhig weiter.“ Wir holen trotzdem auf. Bulletin Nr. 13-3 vom 28. Januar 2020 / BKin – zum 90. Geburtstag von Kurt Biedenkopf, Dresden - 5 - Hätte es den Begriff Landesvater nicht schon längst gegeben, dann hätte man ihn damals erfinden müssen. Man kann das alles aber auch weniger pathetisch ausdrü- cken. Zum Beispiel wuchs das sächsische Bruttoinlandsprodukt während der Regie- rungszeit von Kurt Biedenkopf von 36 Milliarden auf über 80 Milliarden Euro an. Sach- sen gewann mehrere Großinvestoren und damit auch tausende neue Arbeitsplätze. Sachsen ist heute zum Beispiel ein moderner Automobilstandort. Das alles zu errei- chen, war alles andere als einfach. Aber wenn es um die Interessen Sachsens ging, legte sich Kurt Biedenkopf auch mit der Europäischen Kommission an, um über
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