Die Glorie Der Mittelalterlichen Buchproduktion: Vom Manuskript

Die Glorie Der Mittelalterlichen Buchproduktion: Vom Manuskript

applyparastyle “fig//caption/p[1]” parastyle “FigCapt” Mediaevistik 33 . 2020 71 2020 Albrecht Classen University of Arizona 1 Die Glorie der mittelalterlichen Buchproduktion: 1 Vom Manuskript zur Inkunabel, aus literatur- und 71 kulturhistorischer Sicht. Wie dunkel war also das Mittelalter? 88 2020 Abstract: Wenngleich die Geschichte der mittelalterlichen Handschrift bereits vielfach un- tersucht worden ist, lohnt es sich immer wieder, die zentrale Rolle der Handschriften für die moderne Bewertung jener mittelalterlichen Gesellschaft in Betracht zu ziehen. Immer noch hören wir viel zu schnell vom sogenannten ‘dunklen Mittelalter’, so als ob jeder Aspekt der damaligen Zeit negativ oder primitiv, ja barbarisch gewesen wäre. Kulturhistorisch erweist sich solch ein Pauschalurteil sowieso immer als höchst problematisch. Indem hier erneut die Entste- hung und das Wesen mittelalterlicher Handschriften vor allem im literarhistorischen Kontext betrachtet wird, ergibt sich die ungemein wichtige Möglichkeit, innovative epistemologische Kategorien zu entwickeln, um unser Wahrnehmungsvermögen vergangener Kulturen wie der des europäischen Mittelalters kritisch zu schärfen und zu erkennen, dass unsere Urteile über die Vergangenheit meist doch durch konkrete subjektive Filter bestimmt sind, die kaum der kritischen Überprüfung standzuhalten vermögen. Mittelalterliche Handschriften repräsentie- ren bestimmt nicht die gesamte Gesellschaft der damaligen Zeit, vielmehr nur die intellektuelle und soziale Elite, aber sie bestätigen auf ihre Weise, dass auch in der Vormoderne ungemein hochentwickelte und ästhetisch und philosophisch bedeutsamste Kunst- und Schriftwerke ent- stehen konnten. Keywords: Handschriften, Illuminationen, mittelalterlicher Literaturbetrieb, Überlieferung mittelalterlicher Texte, Autorporträts, Sammelcodices, Glorie des Mittelalters Einleitung Zwischen 1504 und 15016 bemühte sich der Bozener Zöllner Hans Ried darum, im Auftrag von Kaiser Maximilian I. das später so benannte Ambraser Heldenbuch per Hand zu schreiben. Er schuf damit eine der prächtigsten spätmittelalterlichen Hand- schriften, und dies zu einer Zeit, als der Buchdruck längst schon vorherrschend gewor- den war und nicht mehr Pergament, sondern Papier das Schreib- bzw. Druckmaterial ausmachte.1 Natürlich dominierte seit der Erfindung der Druckpresse durch Johann Gutenberg die Inkunabel (ca. 1450‒ca. 1500) bzw. das gedruckte Buch,2 aber sowohl diese Prachthandschrift als auch viele andere dokumentieren das unablässige Interes- se an dieser traditionellen Methode, Texte zu überliefern und weiterzureichen. The online edition of this publication is available open access and licensed under a Creative Commons Attribution CC-BY 4.0 license. To view a copy of this license, visit https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ © 2020 Albrecht Classen https://doi.org/10.3726/med.2020.01.03 72 Mediaevistik 33 . 2020 Eigentlich ist diese Faszination an der Handschrift bis heute nicht völlig verloren gegangen, denn wertvolle Dokumente bedienen sich weiterhin des Pergaments, und wenn ein solches per Hand beschriftet worden ist, genießt es einen ganz besonderen Wert. Dazu gehören Geburtsurkunden, Stiftungsurkunden, Auszeichnungen, Ver- träge, Verfassungen etc. Trotzdem muss man davon ausgehen, dass heute praktisch die gesamte Druckwelt auf Papier beruht bzw., was sich mittlerweile ganz rasant herausstellt, auf dem digitalen Medium, befinden wir uns ja in einem umfassenden Paradigmenwechsel. Die Handschrift aus Pergament gehört also zu den Raritäten in der modernen Welt und repräsentiert ein außerordentlich wertvolles Objekt, oft mit hohem Sakralwert ‒ die Aura des mittelalterlichen Manuskripts lebt fort! Moderne Torahs (Toras) werden bis heute aus feinem Kalbs- oder Schafsleder hergestellt, wenn möglich von Föten, denn dann ist das Beschriftungsmaterial besonders fein und dünn und erlaubt sehr günstig das Auftragen der Schrift mittels einer Truthahnfeder oder anderer Stifte. Das Erstellen einer Torah konstituiert bis in die Gegenwart quasi einen religiösen Akt und ist nur auserwählten Schreibern bzw. Gelehrten gestattet, die ihre Arbeit auf koschere Art und Weise durchführen müssen. Sowohl hohe Kunstfertigkeit als auch beträchtliche Bildung sind hierbei vonnöten, um ein solches ‚heiliges‘ Buch für eine Synagoge herzustellen, was uns aber direkt mit der Welt der Handschriften aus der Zeit vor dem Buchdruck verbindet. Die Erforschung mittelalterlicher Literatur und anderer Text reicht schon mehre- re Jahrhunderte zurück, und obwohl weiterhin oftmals neue Funde gemacht werden, wenn man gründlicher die Archive durchforstet, verfügen wir doch mittlerweile eine sehr solide Kenntnis von der Welt der Handschriften der Vormoderne.3 Die folgenden Betrachtungen sollen sich daher nicht so sehr auf rein philologische oder paläogra- phische Aspekte beziehen, die für jedes mittelalterliche Werk, das heute mindestens in einer modernen Editionen vorliegt, bereits ausführlich behandelt worden sind (sie- he z.B. Walther von der Vogelweide).4 Statt dessen besteht mein Anliegen darin, an- hand der mittelalterlichen Literaturproduktion auch im rein technischen Sinne das Augenmerk auf ein zentrales, dennoch oftmals viel zu wenig beachtetes Anliegen zu richten und mittels der Konzentration auf die Handschriften einen relevanten Zugang zur Vormoderne zu entwickeln. Für den Experten werden viele Themen mittlerweile längst selbstverständlich sein, aber aus kulturhistorischer Sicht lohnt es sich doch, diese noch einmal im größeren Zusammenhang vor Augen zu führen, um dann genau- er nachzufragen, welche kunsthistorische, philosophische, literaturwissenschaftliche oder theologische Bedeutung solche Manuskripte des Mittelalters insgesamt besitzen.5 Das ‚dunkle Mittelalter‘ Man hört allenthalben von sehr negativen Urteilen über das Mittelalter, das oft- mals, ganz naiv und ohne jegliches Hintergrundwissen, als das ‘dunkle Mittelalter’ charakterisiert wird.6 Natürlich ist es ein leichtes, aus kulturhistorischer Sicht ne- gative Urteile zu fällen, denn man muss ja nur ein Raster auswählen, mittels dessen positive Elemente schlicht verschwinden, während die negativen übrigbleiben und Mediaevistik 33 . 2020 73 das Bild komplett dominieren. Ohne Frage erweist sich dann die Vormoderne als eine Kulturepoche, die jedenfalls technisch gesehen weit hinter unseren eigenen zurücksteht. Viele Dinge des alltäglichen Lebens, die wir heute als selbstverständ- lich ansehen, gab es damals nicht. Die medizinische Versorgung und die allgemei- ne Hygiene waren weitgehend sehr unterentwickelt; das globale Weltbild war noch geozentrisch ausgerichtet; der Glaube an Gott beherrschte die Menschen weitge- hend vollständig; die Kenntnisse über fremde Länder oder gar Kontinente waren sehr beschränkt; etc. Trotzdem kommt man nicht umhin, will man gerade das 20. Jahrhundert mit dem Mittelalter vergleichen, das Urteil zu fällen, dass die wahrhafte Barbarei erst in der Moderne auftrat. Zwar hören wir in der Vormoderne ebenfalls von vielen Kriegen, von den Kreuzzügen, von Hungersnöten, Pestilenzen etc., ja auch von Pogromen ge- gen die Juden und globaler Feindschaft gegen die Muslime (aus europäischer Sicht), aber einen Holocaust hat es nicht vor der eigenen Gegenwart gegeben. Genozide wie derjenige der Türken gegen die Armenier fand erst 1915 statt, und derjenige in Burun- di der Tutsis gegen die Hutu vollzog sich in drei großen Wellen, 1972, 1988 und 1993. Die Zahl der Massenvernichtungswaffen, die heute in vielen Ländern der Welt zur Verfügung stehen, reicht aus, um mehrfach die gesamte Erde auszulöschen. Man hüte sich also davor, die Moderne in ein rosiges Licht zu tauchen, um als Kontraststrategie das Mittelalter als barbarisch oder primitiv hinzustellen. Natürlich gab es in der Ver- gangenheit ebenfalls zahllose Kriege, behandelten Machthaber ihre Untergebene in oftmals brutaler, extrem repressiver Weise, gab es Morde, kam es zu Vergewaltigun- gen oder anderen Verbrechen. Aber wir merken bei dieser Kontrastierung doch nur zu schnell, welche subjektiven Kategorien bei der Bewertung ganzer Kulturen, Völker oder Epochen zum Tragen kommen. Natürlich besteht zunächst die Gefahr, dass man aus diesen Überlegungen heraus genauso irreführend das Mittelalter idealisieren oder glorifizieren könnte. Darum soll es aber gar nicht gehen und wäre sowieso aus wissenschaftlich-objektiver Sicht voll- kommen falsch. Aber das pauschale Negativurteil über die Vormoderne erweist sich als gefährlich und fehlerhaft. Man kann und soll schlicht nicht eine Kulturepoche ver- gleichend neben eine andere stellen, man würde dabei sowieso nur verkehrte Kriterien ins Feld führen und gar keine soliden, verifizierbaren Ergebnisse erhalten. Elektrizität z.B. gehört zu unserer modernen Welt, aber deswegen war das Mittelalter nicht auto- matisch ‘dunkel’ im wortwörtlichen und übertragenen Sinn. Die mittelalterliche Handschrift Die Existenz einer unglaublichen Fülle an mittelalterlichen Handschriften belegt so- fort, dass unsere kulturhistorischen Wertvorstellungen äußerst subjektiv sein können. In Frankreich allein existieren bis heute ca. 50 000 solche Bände aus der Zeit vor 1500, 25 000 davon in der Nationalbibliothek Paris, ca. 22 000 in Stadtbibliotheken und 3 700 in Universitätsbibliotheken.7 Diese waren natürlich fast komplett der intellektu- 74 Mediaevistik 33 . 2020 ellen und politischen Elite vorbehalten bzw. für diese geschaffen und spiegelten ihre Bildung und ökonomische Macht. Konzentrieren wir uns im Gegensatz dazu etwa auf die Welt der einfachen Bauern, könnte

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