Franz Müller Der Werkkatalog Der Gemälde Von Cuno Amiet – Räsonierte Rezeption

Franz Müller Der Werkkatalog Der Gemälde Von Cuno Amiet – Räsonierte Rezeption

Franz Müller Der Werkkatalog der Gemälde von Cuno Amiet – räsonierte Rezeption Separatum aus: Franz Müller, Viola Radlach, Cuno Amiet. Die Gemälde 1883–1919, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft / Scheidegger & Spiess, 2014 (Œuvrekataloge Schweizer Künstler und Künstlerinnen 28) 10 Der Werkkatalog der Gemälde von Cuno Amiet – räsonierte Rezeption Franz Müller Der vorliegende Werkkatalog der Gemälde von Cuno Amiet fügt sich in eine lange kunst- historische Tradition ein: «Bezogen auf die wissenschaftlich-kritische Beschäftigung un- seres Faches mit dem einzelnen Bild liesse sich [Lukas Gloor zufolge] – wenigstens für die Entwicklung der letzten hundert Jahre – die etwas verkürzte Feststellung wagen: Am An- fang aller kunsthistorischen Forschung stand der Sammlungskatalog, an ihrem Ende steht das monografisch einem Künstler geltende Werkverzeichnis.»1 Auch wenn die Gattung des Werkkataloges im Verlauf ihrer Geschichte einem Wandel unterworfen war, handelt es sich dabei nach wie vor um ein kunsthistorisches Leitmedium, nicht zuletzt weil der «Beitrag der Kennerschaft zur Kunstgeschichte [ . ] sich selten so deutlich wie im Werkverzeichnis» offenbart.2 Die primäre Aufgabe eines Werkkataloges ist es, die Authentizität eines Kunst- werkes zu bestätigen. Dies geschieht auf der Grundlage der systematischen Erfassung der Werke nach Kriterien wie Entstehungszeit, Technik und Materialien, Format, Ikonogra- fie, Standort und Herkunft, Literatur- und Ausstellungsnachweisen. Jeder Werkkatalog strebt dabei Vollständigkeit an. Sein Ziel ist es darüber hinaus, die einzelnen Arbeiten «einem Leben und Werk eines Künstlers berücksichtigenden Gesamtgefüge» einzuord- nen 3 und so die Existenz eines Gesamtwerks oder Œuvre als einer in sich abgeschlossenen Einheit zu evozieren. Pointiert ausgedrückt: Ein Künstler schafft Werke, ein Œuvre erhält er aber erst durch den Werkkatalog. Die Objektivität des positivistischen Zusammentra- gens materieller Fakten steht aber in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zur Kon- struktion eines Ordnungsgefüges, das Ausdruck von spezifischen Werturteilen ist. Zum einen dient die Erstellung eines Werkverzeichnisses stets der Promotion eines Künstlers, dessen Werk damit im Gegensatz zu demjenigen eines Kollegen der eingehenden Erfor- schung als würdig gekennzeichnet wird – Antoinette Roesler-Friedenthal weist in diesem Zusammenhang auf die «durch ein Werkverzeichnis gegebene faktische Wertsteigerung des betreffenden Künstlers» hin4 –, und zum andern bedeutet die Beschreibung der Wer- ke immer auch ihre Hierarchisierung, ganz abgesehen von der kunsthistorischen und kom- merziellen Disqualifizierung der ausgeschiedenen Arbeiten. Werkkataloge sind denn auch bisweilen der Kritik der akademischen Kunstwissenschaft ausgesetzt, die seit jeher vor allem deren Nähe zum Kunsthandel mit Unbehagen betrachtet. Abb. 1 | Fotograf unbekannt, Ausstellung Cuno Amiet und August Macke im Jenaer Zwar sind die Begriffe Werkverzeichnis bzw. Werkkatalog und Catalogue raisonné Kunstverein, 1912 in der Praxis austauschbar geworden und werden oft auch nicht mehr strikt gegen den 11 der Monografie abgegrenzt. Dennoch kann man analog zur traditionellen Unterteilung von Sammlungsverzeichnissen in Inventar und Katalog 5 bei Werkkatalogen zwischen ein- fachem Werkverzeichnis und Catalogue raisonné unterscheiden. Das Räsonnement in Form der Kommentare zu den einzelnen Werken macht aus dem schlichten Werkverzeich- nis einen Catalogue raisonné, einen kommentierten oder kritischen Werkkatalog. Es prägt somit die Gestalt des Œuvre und unterzieht es zugleich einer Analyse. Für Dieter Schwarz stellt das Räsonnement, das kritische Unterscheiden, Auswählen und Deuten denn auch nicht erst die «abschliessende Handlung [ . ], mit der die Verfasser den Catalogue raison- né abrunden» dar, vielmehr beginne es schon «mit der Konzeption des Verzeichnisses, mit der Definition des Objekts, mit dem Sichten der so definierten Objekte, und jede Ent- scheidung, die Form, Umfang und Inhalt des Kataloges angeht, ist Teil davon.»6 Zweiteiliges Katalogkonzept als Spiegel der Rezeption Ein so umfassend verstandenes Räsonnement führte zum hybriden Konzept des vorlie- genden Werkkataloges. Hybrid ist der Katalog, weil das im engeren Sinn aufgefasste Räsonnement, die kritische Bearbeitung des Œuvre, sich auf Cuno Amiets Gemälde der Jahre 1883 bis 1919 beschränkt, während die Arbeiten der Jahre 1920 bis 1961 als einfache, unkommentierte Werkliste zur Verfügung gestellt werden. Die Differenzierung der separierten Œuvrebereiche betrifft nicht nur die Bearbeitungstiefe, den Informations- gehalt und die Beurteilung, sondern erstreckt sich auch auf die Publikationsmedien. Nur der kritische Katalog der Gemälde der früheren Werkphase erscheint in Buchform, der zweite Teil, die Gemälde von 1920 bis 1961, hingegen ausschliesslich in einem online zugänglichen digitalen Verzeichnis, das im Gegensatz zum vorliegenden Buch das gesam- te gemalte Werk umfasst. Datenbank und Internet gestatten – trotz der unterschiedlichen Gewichtung der Œuvresegmente –, dem Anspruch der Vollständigkeit eines Werkver- zeichnisses gerecht zu werden. Darüber hinaus erlauben die verschiedenen Such- und Ordnungsmöglichkeiten des digitalen Katalogs gleichsam die Generierung einer Vielzahl differierender Œuvres, was die traditionelle Form des «autoritativen» Werkkataloges in- frage stellt und zugleich erweitert.7 In der erwähnten Zweiteilung des Amiet-Werkkataloges kommt eine für Werkver- zeichnisse unübliche Hierarchie von Werkphasen zum Ausdruck. Dahinter stehen prag- matische Überlegungen. Der Umfang des fast acht Jahrzehnte umfassenden gemalten Schaffens von Cuno Amiet kann auf mindestens 3000 Bilder geschätzt werden:8 rund 1100 in der von der vorliegenden gedruckten Publikation berücksichtigten Phase bis 1919, rund 2000 von 1920 bis 1961. Weil insbesondere die Werke der späteren Zeit in sehr verstreuten Privatbesitz gelangten, sind ein vollständiges Inventar und ein darauf gründendes Räson- nement in vernünftiger Frist und mit vertretbarem Aufwand nicht zu leisten; eine Buch- publikation wäre auf längere Sicht ausgeschlossen. Eine online einsehbare Datenbank ist für diesen Bereich hingegen die angemessene Form, da laufend Ergänzungen und Korrek- turen vorgenommen und publiziert werden können. Für das frühe Werk ergibt sich ein anderes Bild. Seit den 1970er Jahren ist es vom Schweizerischen Institut für Kunstwissen- schaft kontinuierlich inventarisiert worden,9 so dass für diese Schaffensphase mit nur ge- ringfügiger Unschärfe von einem Œuvre complet ausgegangen werden kann, das eine ein- gehende systematische Bearbeitung und die Publikation in gedruckter Form zulässt. Der genannte Fokus der bisherigen Inventarisierung auf die früheren Werke und als Konsequenz daraus die Gestalt des Werkkataloges reflektieren die unterschiedliche kunst- 12 historische Bewertung der Werkphasen, die sich in der Rezeption von Amiets Schaffen durchgesetzt hat. Ein Blick auf einige der grösseren Amiet-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte macht dies deutlich. In der gemeinsamen Schau von Amiet und Giovanni Giacometti anlässlich ihres hundertsten Geburtstages 1968 im Kunstmuseum Bern reprä- sentierten von den 71 gezeigten Gemälden bloss drei Arbeiten aus den Jahren 1921 bis 1923 das Schaffen nach 1919. Die 1973/1974 durch mehrere amerikanische Städte reisende Aus- stellung über Amiet, Giovanni und Augusto Giacometti zeigte ein ähnliches Bild, integ- rierte mit einer Winterlandschaft von 1951 und der zweiten Fassung des Paradieses von 1958 aber immerhin zwei Spätwerke. 1979 fand in Zürich und Berlin die Ausstellung «Cuno Amiet und die Maler der Brücke» statt. Gezeigt wurden dem Thema entsprechend Arbei- ten ausschliesslich aus der Zeit vor 1914. In der Retrospektive im Kunstmuseum Bern von 1999/2000 befanden sich unter den 154 Exponaten nur vier, die nach 1919 entstanden waren. Eine Ausstellung im Jahr 2005 im Kunstmuseum Solothurn war «Frühen Arbei- ten auf Papier» gewidmet. In Jena wurde 2007 auf die 1912 am gleichen Ort präsentierte Doppelausstellung von August Macke und Amiet (Abb. 1) zurückgeblickt, und es waren dementsprechend nur frühe Werke zu sehen. Eine der Künstlerfreundschaft zwischen Amiet und Ferdinand Hodler geltende Schau 2011/2012 in Solothurn und Hamburg beschränkte sich ebenfalls auf die Jahre bis 1918. Einzig André Kamber präsentierte 1986 in Solothurn den «späten Amiet», das heisst, einen Querschnitt durch das Werk von 1950 bis 1961. Das Schaffen der mehr als dreissig Jahre zwischen 1918 und 1950 wurde hingegen stets stiefmütterlich behandelt. Herausragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang George Mauner zu. Der amerikanische Kunsthistoriker, der sich seit den 1970er Jahren um die Amiet- Forschung grosse Verdienste erwarb, konzentrierte sich in seinen für die Wahrnehmung Amiets heute verbindlichen Schriften und den von ihm verantworteten Ausstellungen konsequent auf das Schaffen des Malers vor dem Ersten Weltkrieg10 bzw. behandelte seine spätere Entwicklung sehr viel summarischer.11 Eine Ausnahme stellt sein Aufsatz zur Technik von Amiets Spätwerk dar.12 Für den ursprünglich von ihm geplanten, aber bis zu seinem Tod 2004 nicht vorgelegten Werkkatalog beabsichtigte er ebenfalls, die Grenze im Jahr 1914 zu setzen.13 Abb. 2 | Fotograf unbekannt, 19. Biennale von Venedig, Ausstellung Cuno Amiet und Hermann Haller. Vor dem Schweizer Pavillon auf der Isola di Sant’Elena, in der Amiets Rezeption und die Kanonisierung der Moderne Bildmitte Cuno Amiet (mit weissem Kinnbart), 1934 Diese Sicht auf

View Full Text

Details

  • File Type
    pdf
  • Upload Time
    -
  • Content Languages
    English
  • Upload User
    Anonymous/Not logged-in
  • File Pages
    21 Page
  • File Size
    -

Download

Channel Download Status
Express Download Enable

Copyright

We respect the copyrights and intellectual property rights of all users. All uploaded documents are either original works of the uploader or authorized works of the rightful owners.

  • Not to be reproduced or distributed without explicit permission.
  • Not used for commercial purposes outside of approved use cases.
  • Not used to infringe on the rights of the original creators.
  • If you believe any content infringes your copyright, please contact us immediately.

Support

For help with questions, suggestions, or problems, please contact us