Kunst nach 1945 Das Wiederaufleben der Moderne und die Künstlergruppe „junger westen“ Städtische Galerie in der Reithalle Paderborn-Schloß Neuhaus „...wir wollten eigentlich durch unsere Bilder Ordnung schaffen. Wir wollten zeigen, daß wir Kunst nach 1945 auf dem Wege sind, das Chaos und die Resignation Das Wiederaufleben der Moderne zugunsten einer Ordnung zu überwinden.“ und die Künstlergruppe „junger westen“ Thomas Grochowiak Städtische Galerie in der Reithalle Paderborn-Schloß Neuhaus Vorwort Andrea Brockmann erreichen. Bewusst werden die beiden Ausstellungen, die die klas- sische Epoche der modernen Kunst mit der „zweiten Moderne“ Vor 80 Jahren, am 1. September 1939, begann der Zweite Welt- verbinden, nebeneinander gezeigt, um konzeptionell der Frage krieg mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. nachzugehen, wie Künstlerinnen und Künstler auf Kriegserfah- Knapp 60 Millionen Menschen verloren während des sechs Jahre rungen, Unterdrückung und Befreiung reagieren. Kann man von dauernden Krieges ihr Leben. Einher gingen Terror, Zerstörung, Zäsuren sprechen? Wie entwickeln sich Bild- und Formensprache? Leid, Gewalt und Gleichschaltung, auch der Kunst. 1937 begann Sind Traditionen abzulesen? in München die nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“. Sie war Ausdruck einer folgenschweren Mein besonderer Dank richtet sich an Prof. Dr. Ferdinand Ullrich, Kulturpolitik, die freie Kunst an den Pranger stellte. Als „entartet“ der als Kurator der Ausstellung diese Fragen mit seiner pointier- galten dem NS-Regime alle kulturellen Strömungen, deren Äs- ten Auswahl von Werken aus der Zeit von 1945 bis 1960 beant- thetik ihnen als „undeutsch“ erschien und nicht in das von ihnen wortet. Der langjährige Direktor der Kunsthalle Recklinghausen propagierte Menschenbild passte. Im Juni 1939 fand zudem die ist ein ausgewiesener Experte der Kunst nach 1945, insbesondere berühmt-berüchtigte Luzerner Auktion statt, auf der viele Werke des Wirkens der Künstlergruppe „junger westen“. Aufgrund seiner der „Entarteten“, sofern der Naziterror sie bis dahin nicht zerstört guten und kollegialen Kontakte war es möglich, herausragende hatte, devisenbringend verschleudert wurden. und signifikante Leihgaben zu erhalten, die in der Ausstellung die Allgemeinhin wird das Jahr des Kriegsendes als „Stunde Null“ Entwicklung der Nachkriegskunst aus der bildnerischen Gegen- bezeichnet. Diese Art Nullpunkt kann für die Kunstgeschichte ständlichkeit in die Abstraktion dokumentieren. allenfalls eine „Hilfskonstruktion“ (Eduard Trier) sein, denn die Ich danke allen öffentlichen und privaten Leihgeberinnen und Wurzeln der deutschen Gegenwartskunst liegen in den Jahren Leihgebern, die uns vertrauensvoll die Werke ihrer Sammlungen davor. Die deutsche Kunst nach 1945 wurde im Widerstand und aus der Zeit nach 1945 zur Verfügung gestellt haben. in der Unterdrückung vorformuliert. Malverbote, Repressalien, Die Gestaltung des vorliegenden Katalogs hat ebenfalls Ferdinand Verfolgung, Krieg, Zerstörung bedeuteten zwar das offizielle Ende Ullrich übernommen. Die Produktion lag in Händen der Druckerei der modernen Kunst, doch konnte sie sich im Untergrund, im Kettler in Bönen. Vielen Dank für die gute Betreuung. Verborgenen, in der inneren wie äußeren Emigration durchaus Abschließend danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weiterbehaupten und weiterentwickeln. Deshalb ist es durchaus der Abteilung Städtische Museen und Galerien Paderborn, denn legitim, das Jahr 1939 als Wendepunkt für die bildende Kunst nur im Team können die Organisation und der Aufbau einer anzusehen (Bettina Ruhrberg). Ausstellung gelingen. Ein Dank richtet sich auch an den Freundes- kreis der Städtischen Galerien e.V., der die Ausstellung und das Parallel zu „Kunst nach 1945“ wird im Kunstmuseum die Ausstel- Begleitprogramm finanziell unterstützt. lung „Aufbruch 1919 – 100 Jahre Sezession in Berlin und Dres- den“ präsentiert. Als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, der erste Die Ausstellungen „Aufbruch 1919 – 100 Jahre Sezession in Berlin militärische Massenkonflikt, der zeigte, welche Gräueltaten die und Dresden“ und „Kunst nach 1945: Das Wiederaufleben der Mo- westlichen Zivilisationen verüben konnten, und inmitten der revo- derne und die Künstlergruppe junger westen“, die einen Einblick lutionären Umbrüche setzten die Novembergruppe in Berlin und in wichtige Kapitel der deutschen Nachkriegskunstgeschichten die Dresdner Sezession 1919 eigene Akzente, um sich von den geben, zeigen Kunst als Zeugnisse der Zeit. Die Rezeption ihrer Konventionen des Deutschen Kaiserreiches zu befreien und durch Entstehung bietet Chancen einer besonderen Form von empathi- künstlerische Innovationskraft mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu scher Annäherung. 4 5 Von der Abstrahierung zur Abstraktion – Die Anfänge der Nachkriegskunst in Westdeutschland Ferdinand Ullrich „das Motiv wird erzeugt und nicht vorangestellt.“ 6 Er spricht sich für eine Kunst aus, die sich die Freiheit des Experiments erhalten hat und auf diese Weise das „Unbekannte in der Kunst“ jeweils Die deutsche Nachkriegskunstgeschichte fand nicht nur in den für die Zeit neu zum Ausdruck bringt. Vehement verteidigt er die Metropolen statt. Auch die kleineren Zentren hatten in dieser moderne Kunst gegen den Vorwurf Sedlmayrs, sie entbehre einer unsicheren wie offenen Situation unmittelbar nach dem Zweiten „Mitte“, weil sie das Menschenbild verunstalte und verschwinden Weltkrieg die Chance, die Initiative zu ergreifen. Der politische lasse: und wirtschaftliche Neuanfang sollte auch geistig-kulturell „Ich protestiere gegen die Behauptung, die moderne Kunst sei ein begründet werden. Zudem gab es einen künstlerischen Nachhol- Symptom für eine allgemeine Entartung oder sei Entartung selbst. bedarf insbesondere bei den Künstlern, die ihre Ausbildung schon [...] Die abstrakten Formen können wirkliche Kräfte enthalten, vor dem Krieg begonnen und abgeschlossen hatten. bewahren oder aufnehmen. Sie sind Formkräfte, sie sind Kräfte. Aber zunächst stand die „Funktionsfähigkeit des Alltäglichen“ 1 Ungegenständliche Ausprägungen des menschlichen Geistes sind an erster Stelle. Dies galt besonders für das im Kriege stark in dem Transzendenten geöffnet. An den gegenständlichen Darstel- Mitleidenschaft gezogene Ruhrgebiet – „ein Ballungszentrum der lungen haftet immer mehr oder weniger Erdenschwere, [...] Auch Ruinenfelder ...“ 2. Dass aber gerade an einem solchen Ort und in enthält Gegenständliches Bestimmbarkeit auf seine begrenzte einer solchen Situation intensive kulturelle Aktivitäten entstan- Art, während Abstraktes nicht bestimmbar eng bleibt.“ 7 den, muss doch erstaunen. Die Gründung der Ruhrfestspiele in Mit dieser Haltung wurde er zum Vorbild und Mentor einer gan- Recklinghausen 1947 ist exemplarisch für diese Phase und zum zen Künstlergeneration in den 1950er Jahren. Mythos geworden: der Tausch „Kunst gegen Kohle – Kohle gegen Es bilden sich mehr oder weniger streng organisierte Freundes- Kunst“. So stark das Bedürfnis nach Kunst und Kultur auch war, kreise und Gruppen von Künstlern. Man wollte sich nicht Orien- so ambivalent waren die ersten künstlerischen Äußerungen und tierung von außen aufzwingen lassen, sondern aus der eigenen, Positionen. Dass die Ideologie des Dritten Reiches gescheitert unmittelbar praktischen Erfahrung und der Diskussion mit Gleich- war, war offensichtlich, aber neue Werte standen noch nicht zur gesinnten eine eigene Position gewinnen. Neben der 1947/48 in Verfügung. Der Wille war, eine neue Kunst zu schaffen, um die Recklinghausen gegründeten Künstlergruppe „junger westen“ „Zeitnotwendigkeiten“ auszudrücken. Es fehlten aber die geisti- waren es vor allem folgende Vereinigungen, die einen neuen Weg gen Anhaltspunkte. „Das Selbstbewußtsein war geschwächt ...“ 3 versuchten: ZEN8 aus München, gegründet 1949, QUADRIGA9, Zwei Schriften machten dies deutlich und bestimmten die hefti- entstanden 1952 im Umkreis der Zimmergalerie Franck in Frank- gen künstlerischen Diskussionen der ersten Nachkriegsjahre: Willi furt am Main und die Gruppe 5310, 1953 in Düsseldorf gegründet. Baumeisters Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ 4 von 1947 und Im europäischen Raum war es besonders die 1948 in Amsterdam Hans Sedlmayrs Schrift „Verlust der Mitte“ 5 von 1948. Auf der gegründete Gruppe CoBrA11, die von Bedeutung ist. einen Seite stand der auf die Gesamtheit der Kunstgeschichte zu- In Recklinghausen förderte vor allem der Schriftsteller, Lehrer rückblickende Kunsthistoriker Sedlmayr, der die zeitgenössische und erste Museumsdirektor der Kunsthalle Recklinghausen Franz Kunst insgesamt als Symptom eines geistigen und moralischen Große Perdekamp die Gründung der Künstlergruppe „junger Verfalls sah. Auf der anderen Seite forderte der aktive, zeitgenös- westen“. Er war ein langjähriger Freund von Josef Albers, von dem sische Künstler Baumeister neue Wege der Kunst, auch wenn sie er die Bauhausideen übernahm und in die Künstlergruppe trug. sich noch nicht in kunstgeschichtlichen Kategorien niedergeschla- Er formulierte dabei einen hohen moralischen und historischen gen hatten. Baumeister, der akademische Lehrer, verteidigt eine Anspruch an die Bildende Kunst der Gegenwart: Es „[...] muss Kunst, die nicht einer vorgegebenen Motivwelt verpflichtet ist: doch mit allem Nachdruck gesagt werden, daß die Jungen völlig 6 7 ihren Weg verfehlen würden, wenn sie sich nicht der absoluten sche Fortschrittlichkeit und künstlerische Avantgarde problema- Neuartigkeit der heutigen Welterfahrung bewusst würden.“ 12 tisieren.14 Die industrielle Umwelt wird
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages41 Page
-
File Size-