Ingeborg Schnelling-Reinicke Gründung und Entwicklung der Ruhrfestspiele in Recklinghausen* Im Jahr 1965 wurde in Recklinghausen ein neues Festspielhaus fertiggestellt und eingeweiht. Es trägt folgende Inschrift: VOR DEN RUINEN DES VATERLANDES/VEREINTEN SICH IM JAHRE 1946 /BERG­ LEUTE UND KÜNSTLER/ ZU GEGENSEITIGER HILFE AUS DEM TAUSCHE/KOHLE GEGEN KUNST/KUNST GEGEN KOHLE/WUCHS FREUNDSCHAFT I ERSTANDEN DIE RUHRFESTSPIELE DIESES HAUS/IST EIN WERK DER DEMOKRATIE ES SOLL NACH DEM WORT/VON THEODOR HEUSS SEIN:/EINE HEIMAT DER MUSEN / EINE HERBERGE MENSCHLICHER BEGEGNUNGEN /UND EINE BURG FREIHEITLICHEN SEINS 1 In diesen wenigen Worten verdichtet sich der Mythos der Ruhrfestspiele, ihrer Gründung und ihr Auftrag. Die darin sehr verkürzt wiedergegebene Gründungsgeschichte der Fest­ spiele, wie sie seither immer wieder in dem Schlagwort "Kohle gab ich fiir Kunst - Kunst gab ich fiir Kohle" werbewirksam wiederholt wird, wurde im Jahr 1996, dem Jahr der 50. Ruhrfestspiele, in zahlreichen Veröffentlichungen, u. a. Fernseh- und Rundfunksendun­ gen ausruhrlieh präsentiert.2 Die folgenden Überlegungen wollen den Besonderheiten und Eigenarten der bis heute erfolgreichen Festspiele nachgehen. Sie werden sich auf die ersten beiden Jahrzehnte der Festspiele beschränken, den Zeitraum, an dessen Ende der Bau des Festspielhauses einen äußerlich sichtbaren Einschnitt in die Festspielgeschichte darstellt. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Ruhrfestspiele lohnt sich, nicht nur, weil sie jetzt über 50 Jahre im großen und ganzen erfolgreich bestehen, sondern auch, weil sie ohne Vorgänger• institutionen, an die man hätte anknüpfen können, gegründet wurden. Sie bieten so die selte­ ne Gelegenheit, an einem Beispiel die Grundbedingungen und die wesentlichen Vorausset­ zungen fiir eine trotzdem erfolgreiche Gründung im Einzelnen kennen zu lernen. Doch zuvor noch einige wenige Bemerkungen zur Quellen- und Literaturlage. Für diesen Beitrag wurden ausschließlich die einschlägigen Akten im Nordrhein-Westfälischen Haupt- * Der folgende Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, der am 14. März 1997 vor dem Brauweiler Kreis an1äßlich dessen 18. Jahrestagung zum Thema "Kulturpolitik und Kunstforderung in Nordrhein-West­ falen nach dem Zweiten Weltkrieg" gehalten wu;de. Der Text wurde für die Drucklegung geringfügig überarbeitet und mit den notwendigen Anmerkungen versehen. 1 Die Inschrift befindet sich an der Portalfassade und entstand nach einem zeichnerischen Entwurf des Recklinghäuser Graphikers Heinz Ridder: 50 Jahre Ruhrfestspiele, hg. v. den Ruhrfestspielen Reck­ linghausen, Bottrap 1996, S. 190. Dort ist auch eine Abbildung der Inschrift zu sehen. 2 Dabei fand man z. T. noch prägnantere Formulierungen, etwa "Kohlen für Don Carlos. Der Kohlen­ klau, der Kulturgeschichte machte". So lautete der Titel eines Films von Axel Bornkessel, der am 27. April1996 in 3Sat ausgestrahlt wurde. Geschichte im Westen (GiW) Jahrgang 13 (1998), S. 40-60. © Rheinland-Verlag GmbH, Köln . ISSN 0930-3286 40 Gründung und Entwicklung der Ruhrfestspiele in Recklinghausen Staatsarchiv Düsseldorf ausgewertet. Die Literatur ist dadurch gekennzeichnet, daß sie über• wiegend Festschriften und damit eher Beiträge zur Glorifizierung der Festspiele bietet. Eine eingehende problemorientierte Untersuchung der Geschichte der Festspiele, die auch das Ar­ chivmaterial der Festspiele selbst, heute im Stadtarchiv Recklinghausen, und des DGB im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung heranzieht und auswertet, exi­ stiert bis heute lediglich in der Dissertation von Mattbias Franck,3 die sich jedoch nur auf die ersten zehn Jahre der Festspiele bezieht. Eine vollständige Untersuchung kann auch hier nicht geleistet werden. Stattdessen werde ich mich in zwei Abschnitten schwerpunktmäßig zunächst mit der Gründung und der Gründungsphase der Festspiele, die bis etwa 1950 andau­ erte, beschäftigen und dann der Frage nach der Attraktivität der Festspiele während der bei­ den ersten Jahrzehnte ihres Besteheus nachgehen. 1. Die Gründung der Ruhrfestspiele Der Ausgangspunkt aller späteren Festspiel-Kulturereignisse in Recklinghausen war eine ma­ terielle Notlage, wie sie im zweiten Nachkriegswinter 1946/47 keine Seltenheit darstellte.4 Weil den Hamburger Theatern kein Heizmaterial in ausreichender Menge zur Verfügung stand und so nicht nur für die Schauspieler und Zuschauer die Kälte unzumutbar wurde, son­ dern auch die Bühnenmechanik der Theater Schaden litt, drohte eine Unterbrechung des ge­ samten Spielbetriebs. Eine kleine Gruppe von Angehörigen der Theatertechnik und der Theaterverwaltung aus mehreren Hamburger Theatern wollte daraufhin im Ruhrgebiet Koh­ len "organisieren". Vorteile versprach man sich von privaten Kontakten einiger Theaterleute, so z. B. von Verwandten von Will Quadflieg in Oberhausen. Zufällig war es dann aber die Recklinghäuser Zeche König Ludwig 4/5, wo die Hamburger die gesuchte Hilfe in Form der dringend benötigten Kohlen erhielten. Vorbei an den strengen Bestimmungen der britischen Besatzungsmacht zweigten die Bergleute Kohle für die Theater in Harnburg ab, die auf diese Weise ihren Spielbetrieb fortsetzen konnten. Nicht alle Einzelheiten dieser Aktion können heute noch rekonstruiert werden. Ob etwa Recklinghausen die erste Station war, an die die Gruppe aus Harnburg herantrat,5 muß eben­ so offen bleiben wie die Menge der Kohlen, die Harnburg auf diese Weise zur Verfügung 3 Matthias Franck, Kultur im Revier. Die Geschichte der Ruhrfestspiele Recklinghausen 1946-1956, Würzburg 1986. 4 Zur Gründungsgeschichte siehe v. a. die beiden Festschriften, die anläßlich des vierzig- und des fünfzigjährigen Bestehens der Ruhrfestspiele erschienen sind: Ihr für uns und wir für euch. 40 Jahre Ruhrfestspiele Recklinghausen, hg. v. den Ruhrfestspielen Recklinghausen, Berlin/Bonn 1986, S. 16- 21; 50 Jahre Ruhrfestspiele (wie Anm. I), S. 24; Franck (wie Anm. 3), S. 23-28. s Von mehreren vergeblichen Versuchen an anderen Orten des Reviers sprechen Darstellungen der Gründungsgeschichte, die von Autoren der damaligen DDR stammen, z. B. Andre Müller, Ruhrfest­ spiele- für wen? Von Wert und Entwerten einer Idee, in: Theater der Zeit 9 (Berlin-DDR, 1958), S. 5-7; hier S. 5: "Die Geschichte der Ruhrfestspiele beginnt in jenem Winter 1946/47, als die Ham­ burger Theater wegen Kohlen- und Koksmangel nicht mehr weiterspielen konnten und ihre Vertreter von Zeche zu Zeche reisten und um Kohlen bettelten (die damals in langen Eisenbahnzügen ins Aus­ land verfrachtet wurden)." 41 Ingeborg Schnelling-Reinicke gestellt wurde. Nach erinnernden Aussagen von beteiligten Bergleuten aus dem Jahr 1996 war es allerdings "erheblich".6 Im Frühjahr 1947 kündigten die Hamburger an, daß sie zum Dank für diejenigen, die ihnen in der Notlage geholfen hatten, Theater spielen wollten. Mit Unterstützung der Stadt Reck­ linghausen konnten als Spielstätte der städtische Saalbau, aber auch Unterkunft und Verpfle­ gung der Schauspieler in Privatquartieren gesichert werden7 und die drei Hamburger Bühnen - die Staatsoper, das Deutsche Schauspielhaus und das Thalia-Theater- führten an insge­ samt fünf Tagen, vom 28. Juni bis 2. Juli 1947, mehrere Gastspiele in Reddinghausen auf. Der Charakter eines Dankgastspiels wurde dadurch unterstrichen, daß die Schauspieler in diesem Jahr auf eigene Gagen verzichteten und der Erlös der Veranstaltungen den Unter­ stützungskassender Zeche König Ludwig zugute kam.8 Aufgrund der überaus positiven Re­ aktion der Zuschauer aus der Stadt und der Umgebung von Recklinghausen entwickelte der Hamburger Erste Bürgermeister Max Brauer, der die Theater seiner Stadt begleitet hatte, die Idee, solche Spiele nicht nur zu wiederholen, sondern sogar zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Leider ist das Manuskript dieser Rede nicht erhalten. Der "Neue Westfälische Kurier" vom 6. Juli 1947 faßte wesentliche Passagen der Rede folgendermaßen zusarnrnen: "Brauer sprach [. .. ] die Erwartung aus, daß Recklinghausen künftig nicht nur das Attribut ,Kohle', sondern auch das Attribut ,Festspiele' haben werde. Er glaube, daß Hamburgs Künstler nicht zum letzten Male in Recklinghausen gewesen seien und daß diese Gastspiele zu einer Dauereinrichtung im Stil wirklicher Festspiele werden mögen[ ...]". 9 Ein zentraler Satz, besser gesagt, eine rhetorische Frage dieser Rede Brauers jedoch wurde über viele Jah­ re hinweg irnrner wieder zitiert, nämlich: "Warum Festspiele nur in Salzburg und Bayreuth, warum nicht auch Festspiele in Recklinghausen?" 10 Es ist auffallend, wie früh und wie lang anhaltend auch von Seiten der Festspiele selbst diese hier wiedergegebene Gründungsgeschichte auf die vermeintliche "Tauschhandlung" verkürzt, als "Kompensationsgeschäft" bezeichnet und eine Vorsätzlichkeit der Handlung behauptet wurde, wie sie sich z. B. auch in der eingangs zitierten Inschrift niederschlägt. 11 Dagegen ist festzuhalten, daß die Festspiele sich aus einem Zufall heraus entwickelten, daß von einem 6 In diesem Winter sollen noch mehrere Lastwagen "Recklinghäuser Briten-Kohle" nach Harnburg ge­ gangen sein: 50 Jahre Ruhrfestspiele (wie Anm. 1), S. 10. 7 Vgl. hierzu 50 Jahre Ruhrfestspiele (wie Anm. 1), S. 18 f.; Walter Dirks, Ein Fest und ein Zeichen. Zehn Jahre Ruhrfestspiele, Frankfurt-M. 1956, S. 23 f. s Plakat des Dankgastspiels in: 50 Jahre Ruhrfestspiele (wie Anm. 1), S. 18 f. Der Erlös machte ca. 20000 RM aus: Franck (wie Anm. 3), S. 31. 9 Neuer Westfälischer Kurier vom 6. Juli 1947, zit. nach: So viel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945-1949, hg. v. Hermann Glaser u. a., Berlin 1989, S. 156. 1o
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