Hugo Von Hofmannsthal Und Rudolf Kassner Briefe Und Dokumente Samt Ausgewählten Briefen Kassners an Gerty Und Christiane Von Ho

Hugo Von Hofmannsthal Und Rudolf Kassner Briefe Und Dokumente Samt Ausgewählten Briefen Kassners an Gerty Und Christiane Von Ho

Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner Briefe und Dokumente samt ausgewählten Briefen Kassners an Gerty und Christiane von Hofmannsthal Mitgeteilt und kommentiert von Klaus E. Bohnenkamp Teil II 1910 –1929 Kassner an Gerty von Hofmannsthal 1 Hotel Ste Anne 10, Rue Ste Anne Paris. 20 / 5 10. < Freitag > Liebe Gerty! Vielen Dank für Ihre freundliche Karte. Protzen Sie bitte nicht mit Ihrer Vergessensfähigkeit, die haben Sie gar nicht. Die würde auch gar nicht zu Ihnen passen. Zu Ihnen paßt ein langes, langes Gedächtnis, ein Gedächtnis, das gleichsam immer länger wird … Es ist übrigens gar nichts Schlechtes, auch gar nichts Unelegantes – ein so langes, treues Gedächtnis. Man kann sogar auch ein ganz verfl uchter Kerl sein mit so einem langen Gedächtnis. Mir geht es gut hier. Körperlich vielleicht nicht so sehr, habe viel Kopfschmerzen, mein Magen etc. Dafür aber geistig. Werde wieder Schriftsteller sein diesen Sommer.2 Sogar ganz tüchtig. Und das Andere wird mir ganz wurst sein, aber wirklich ganz Wurscht. Eine kleine Weile. Eine große Weile. Je nach dem. Und trotzdem habe auch ich ein langes Gedächtnis – Aber so auf meine geheimnisvolle Art. Sehe einige Menschen. Rilke, Gide, Rysselberghe 3 etc. Holitscher ist 1 1 Bogen mit gedrucktem Briefkopf; 4 beschriebene Seiten. 2 Kassner konzipiert in diesen Monaten seine »Elemente der menschlichen Größe«. 3 Theo van Rysselberghe (1862–1926), belgischer Maler, Freund André Gides. Hofmanns- thal, der ihn Ende August 1903 in Weimar im Hause Kesslers kennengelernt hatte (BW Kess- ler, S. 51, 480), wird ihm einige Monate später, im Oktober 1910, in Neubeuern begegnen, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner II 7 auch wieder da.4 Lerne russisch bei einer kleinen fetten, blonden Russin, die immerfort vor lauter noch unerwiederten Gefühlen, Hoffnungen, Einbildungen etc kocht u. dabei auch ein wenig transpieriert. Gehe auch in die Theater. Das Material ist wohl sehr gut, die Haltung dafür aber minder, die Regie die vor 40 Jahren. Was machen Ihre Freunde? Eingeschlossen Zifferer? 5 Oder ist der gar nicht Ihr Freund? Wer sind eigentlich alle Ihre Freunde? Der Reihe nach? Und wo halte ich? Und wo der im Grunde grobe Louis? Nun adieu! Alles Gute Hugo. Ihr Rud. Kassner Gegen Ende der Pariser Frühsommer-Wochen kommt es am 12. Juni 1910 zu der denkwürdigen Begegnung zwischen Kassner und Harry Graf Kessler. Die- ser lädt Rilke und Kassner, dem er kurz zuvor – wohl am 9. Juni – bei Theo van Rysselberghe vorgestellt worden war, zum Frühstück im Restaurant Laurent an der Nordseite der Champs-Elysées ein. Im Verlauf der Unterhaltung gewin- nen beide Partner einen durchaus zwiespältigen Eindruck voneinander. In der Bilanz, die Kassner rückblickend in einem undatierten Brief an Elsa Bruckmann als der Maler Dora von Bodenhausen mit ihren Kindern porträtiert (vgl. BW Nostitz, S. 96; Carina Schäfer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 1. 2002, Nr. 11, S. 54). 4 Ähnlich heißt es an Lili Schalk: »Ich gehe sehr viel spazieren, auch viel in die Theater, sehe nicht zu viele Menschen. Außer Hollitscher, doch den behandle ich mehr als Legat als Person. Meine französischen Freunde sind sehr liebe Menschen, aber ich bin so merkwür- dig schnell fertig mit ihnen. Und dann sind sie alle so entsetzliche Literaten u. heimliche oder offene Cliquemenschen. Und das ist alles nicht das was ich brauche. […] Rilke sehe ich nicht oft. Leider! […]: Mit dem kann ich reden. […] Übrigens soll ich morgen Kessler treffen. Bin neugierig.« (Neue Zürcher Zeitung, 9. 9. 1973, S. 50; dort auf den 8. Mai 1910 datiert, was offenkundig auf »8. Juni« zu korrigieren ist, da Rilke erst um den 12. Mai 1910 in Paris eintrifft und die angekündigte erste Zusammenkunft mit Kessler vor dem 12. Juni stattfi ndet.) 5 Der Schriftsteller Paul Zifferer (1879–1929), seit 1908 Feuilletonredakteur der Wiener »Neuen Freien Presse«; die erhaltene Korrespondenz mit Hofmannsthal (BW Zifferer) wird am 18. August 1910 durch ein Antwortschreiben Zifferers eingeleitet, das eine nähere Be- kanntschaft voraussetzt. Wenig später, am 1. September 1910, wird Zifferer Hofmannsthal berichten, Fürstin Thurn und Taxis habe ihm »aus Lautschin einen langen und lieben Brief geschrieben: ich soll über den Kassner schreiben. Es ist nett, daß sie sich so viel Mühe gibt. Und ich möchte ja selber gerne den Kassner und das Publikum der Neuen Freien Presse zusammenbringen. Aber wie die Brücke fi nden? Es ist eine verteufelte Aufgabe. Ich zerbreche mir den Kopf, um die richtige Form zu fi nden; where is a will…« (BW Zifferer, S. 22). Zifferer wird in der Folge keinen Artikel über Kassner veröffentlichen. 8 Klaus E. Bohnenkamp zieht, kommt indirekt auch Hofmannsthal zu Wort: »Die so vielfach gewünschte und auch betriebene entre vue zwischen Kessler u. mir hat stattgefunden. Er ist ein wirklich sehr höflicher, sehr hübscher Mensch, durchaus ehrlich u. tempera- mentvoll, aber Dilettant bis in die Knochen u. eigentlich ohne Geist im strengen Wortsinn. Der arme Hofmannsthal nannte mir ihn einmal ›groß‹. Wenn Kessler eine Frau wäre, so würde ich sagen: Dieses Urtheil gehört zu Hofmannsthals erotischen Mißverständnissen; so ist es nur allgemein albern u. ein Zeichen von seiner Menschenunkenntnis. Kessler u. ich zankten uns beinahe […] zu Rilke’s großem Schrecken, ein Wort mehr u. ich wäre grob geworden, weil ich gewisse Dummheiten nur noch mehr als persönliche Beleidi< gu > ngen auffassen kann. Doch zuletzt schieden wir ganz friedlich.«6 Während Gerty und Hugo von Hofmannsthal sich in der zweiten und drit- ten Junidekade am Lido von Venedig aufhalten, begibt sich Kassner Ende des Monats für knapp vier Wochen erneut nach London und nimmt hier unter derselben Adresse Wohnung wie zwei Jahre zuvor. Kassner an Gerty von Hofmannsthal 7 20 Margaret St. London W. 1 / 7 10. < Freitag > Wenn mich die niedliche Gerty noch einmal so lange auf einen Brief warten läßt, wird sie gar keinen mehr bekommen sondern vielleicht nur eine Ansichtspostkarte mit einer nicht besonders schönen Ansicht, Mansion house, oder Towerbridge. Oder sonst etwas. Ich habe in Paris gar keine besonders schönen Frauen gesehen. Da- für aber hier. Obwohl diesen hier wieder manches andere fehlt. Diese schöne, elegante, mondäne Engländerin ist durch alle Prüderie hindurch zu einer ihr ganz eigenthümlichen, höchst unnatürlichen Schamlosigkeit gekommen, über die Italiener und Ungarn, vielleicht auch Deutsche sehr entzückt sein dürften, die mir aber höchst peinlich ist. So eine ganz un- menschliche Sache! Besonders wenn sie, wie man das hier jetzt sehr oft trifft, ausgezeichnet französisch spricht u. das auch weiß. Ich weiß nicht, ob es auf der Welt etwas Frivoleres im Herzen gibt als diese Londoner 6 Vgl. Rainer Maria Rilke und Rudolf Kassner, Freunde im Gespräch. Briefe und Do- kumente. Hg. Von Klaus E. Bohnenkamp. Franfurt a. M., Leipzig 1997 (künftig zitiert als: Freunde im Gespräch), S. 29 f. 7 1 Blatt, 2 beschriebene Seiten. Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner II 9 Welt, die augenblicklich um König Ed. schwarz geht.8 Auszunehmen sind da nur wahrscheinlich die ganz großen Familien u. Namen. Übrigens ist sie sehr amüsant und voll ergötzlicher Situationen. Wenn ich Engländer wäre, würde ich Gesellschaftscomödien schreiben. Gut, daß Sie Artzibascheff lesen. Das Buch ist gut, dabei bleibt es. Trotz allen erotischen Aufdringlichkeiten.9 Es muß wohl in mir ein Russe sein, ich finde mich selbst in ihren Büchern wieder u. auch andere sehen es. In London gibt es wundervolle Dinge zu sehen, eine Ausstellung chi- nesischer Bilder u. dann die Anna Pavlowa.10 Ich schwöre jetzt bei ihr. In 10 –14 Tagen gehe ich nach Frankreich zurück. In die Bretagne oder nach Dieppe in die Normandie. Viel Glück zur Automobiltour.11 Grüße an Sie u. Hugo u. Hans, wenn Sie ihn sehen, und Mimi u. etc etc. Rud. Kassner 8 König Edward VII., geb. am 9. September 1841, war am 6. Mai 1910 gestorben. 9 M< ichael > Artzibaschew, Ssanin. Roman. Dt. von André Villard und S. Bugow. Mit Einleitung von André Villard. München, Leipzig: Georg Müller 1907; ab 1909 zahlreiche Neuaufl agen (mit sämtlichen die Konfi skation des Werkes in deutscher Sprache betreffenden Gerichtsbeschlüssen und Sachverständigengutachten; die Zensur hatte 1908 konstatiert, der Roman sei »geeignet, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normal empfi ndenden Lesers in geschlechtlicher Beziehung gröblich zu verletzten«); zur gleichen Zeit erschienen auch andere Übertragungen, so die von Stefanie Goldenring (Berlin 1908) und L< ully > Wiebeck (Berlin 1909). Kassner selbst hatte das Buch, einem Brief an Lilli Schalk vom 30. 7. 1909 zufolge, bereits im Vorjahr gelesen und es auch Martin Buber am 29. 9. 1909 empfohlen. In einer – später gestrichenen – Bemerkung seiner Einleitung zu Gogols »Toten Seelen« (1925) wird er den nicht namentlich genannten »Verfasser des ›Ssanin‹« in der von ihm postulierten »Korrespondenz zwischen den Dichtern und Zaren Rußlands« als Nikolaus II. zugehörig be- trachten: Rudolf Kassner. Sämtliche Werke. Hg. Von Ernst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp. Pfullingen 1969 –1991 (künftig zitiert als: KW mit Band- und Seitenzahl), IV, S. 653. 10 Anna Pawlowa (1882–1931), russische Tänzerin; von 1909–1911 Solistin und Partne- rin von Vaslav Nijinsky in Diaghilews »Ballets Russes«, deren Aufführungen Kassner – zu- sammen mit Rilke – zuvor in Paris besucht hatte (vgl. Freunde im Gespräch, S. 29). Der Tod Edwards VII. hatte Diaghilews Hoffnung auf ein Londoner Gastspiel im Jahre 1910 zunichte gemacht; die Pawlowa hingegen gastiert dort im Palace-Theatre (Richard Buckle, Diaghilew. Deutsch von Jürgen Abel. Herford 1984, S. 166). In einem späten Gespräch mit A. Cl. Kensik wird sich Kassner erinnern: »Ich habe den Nijinsky im Pas de deux mit der Pawlowa, mit der < Tamara > Karsawina wiederholt gesehen, im ›Spectre de la rose‹, im ›Carnaval‹, im ›Après-midi‹; aber ich habe sie nicht so bewegt, mich verwandelnd, entschwerend empfunden, nicht so bedeutend gesehen, wie ich’s hätte tun sollen. Das habe ich versäumt. Wagner war dagegen« (Neue Zürcher Zeitung, 7. 9. 1958, Blatt 6, Sp. 7). 11 Die Fahrt, zusammen mit dem Ehepaar Friedmann, führt im letzten Julidrittel »über 10 Klaus E.

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