Ludwig Wittgenstein

Ludwig Wittgenstein

Ludwig Wittgenstein Ludwig Wittgenstein, 1910 Ludwig Josef Johann Wittgenstein (* 26. April 1889 Ludwig Wittgenstein als Kleinkind, 1890 in Wien;† 29. April 1951 in Cambridge) war ein österreichisch-britischer Philosoph. Er lieferte bedeutende Beiträge zur Philosophie der Logik, der Sprache und des Bewusstseins. Sei- ne beiden Hauptwerke Logisch-philosophische Ab- handlung (Tractatus logico-philosophicus 1921) und Philosophische Untersuchungen (1953, postum) wurden zu wichtigen Bezugspunkten zweier philosophi- scher Schulen, des Logischen Positivismus und der Analytischen Sprachphilosophie. 1 Leben und Werk Ludwig Wittgenstein als Kind, vorne rechts mit den Schwestern Wittgenstein entstammt der österreichischen, früh assi- Hermine, Helene, Margarete und Bruder Paul milierten jüdischen Industriellenfamilie Wittgenstein, de- ren Wurzeln in der deutschen Kleinstadt Laasphe im Wittgensteiner Land liegen. Er war das jüngste von acht zu einer der reichsten Familien der Wiener Gesellschaft Kindern des Großindustriellen Karl Wittgenstein und sei- der Jahrhundertwende. Der Vater war ein Förderer zeit- ner Ehefrau Leopoldine, die aus einer Prager jüdischen genössischer Künstler, die Mutter eine begabte Pianistin. Familie stammte (geb. Kalmus). Karl Wittgenstein ge- Im Palais Wittgenstein verkehrten musikalische Größen hörte zu den erfolgreichsten Stahl-Industriellen der späten wie Clara Schumann, Gustav Mahler, Johannes Brahms Donaumonarchie, und das Ehepaar Wittgenstein wurde und Richard Strauss. 1 2 1 LEBEN UND WERK ges, den er 1911 in Jena besuchte, nahm Wittgenstein ein Studium in Cambridge am Trinity College auf, wo er sich intensiv mit den Schriften Bertrand Russells be- schäftigte, insbesondere mit den Principia Mathematica. Sein Ziel war es, wie bei Gottlob Frege die mathemati- schen Axiome aus logischen Prinzipien abzuleiten. Rus- sell zeigte sich nach den ersten Begegnungen nicht beein- druckt von Wittgenstein: „Nach der Vorlesung kam ein hitziger Deutscher, um mit mir zu streiten […] Eigent- lich ist es reine Zeitverschwendung, mit ihm zu reden.“ (16. November 1911.) Doch nach nicht einmal zwei Wo- chen sollte sich Russells Meinung ändern: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr Gedenktafel am Bundesrealgymnasium in Linz musikalisch, angenehm im Umgang (ein Österreicher), und ich glaube, wirklich intelligent.[1]“ Schon bald hielt Russell Wittgenstein für höchst talentiert, und Russell war Wittgenstein wurde katholisch erzogen. Er selbst wie schließlich der Meinung, Wittgenstein sei geeigneter als auch seine Geschwister zeichneten sich durch außeror- er, sein logisch-philosophisches Werk fortzuführen. Rus- dentliche musische und intellektuelle Fähigkeiten aus. sell urteilte über ihn Ludwig Wittgenstein spielte Klarinette. Sein Bruder Paul verlor im Ersten Weltkrieg den rechten Arm und machte „[Wittgenstein was]... one of the most excit- dennoch als Pianist Karriere. Diesen Talenten stand eine ing intellectual adventures [of my life]. ... [He problematische psychische Konstitution gegenüber: Drei had] fire and penetration and intellectual purity seiner sieben Geschwister begingen Selbstmord (Hans, to a quite extraordinary degree. ... [He] soon Rudolf, Kurt). Auch Wittgenstein zeigte, insbesondere knew all that I had to teach. nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, depressi- His disposition is that of an artist, intuitive and ve Züge. Im Kontakt zu anderen soll er teils autoritär und moody. He says[,] every morning he begins his rechthaberisch, teils auch übersensibel und unsicher ge- work with hope, and every evening he ends in wirkt haben. despair.“ Ein entfernter Großcousin von Wittgenstein war der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek. „[Wittgenstein war] ... eines der erregends- ten intellektuellen Abenteuer [meines Lebens]. Wittgensteins intellektuelle Erziehung begann mit häus- ...[Er hatte] Feuer und Eindringlichkeit und ei- lichem Privatunterricht in Wien. Ab 1903 bis 1906 be- ne intellektuelle Reinheit in einem ganz außer- suchte er die K. k. Staats-Realschule in Linz. Adolf Hit- ordentlichen Ausmaß. ... Nach kurzer Zeit ler hat die Schule davor von 1900 bis 1902 besucht. Am wusste [er] alles, was ich beizubringen hatte. 28. Oktober 1906 immatrikulierte Wittgenstein sich an Seine Verfassung ist die eines Künstlers, intui- der Technischen Hochschule Charlottenburg. Ursprüng- tiv und stimmungshaft. Er sagt von sich, dass lich hatte er bei Ludwig Boltzmann in Wien studieren er jeden Morgen voller Hoffnung beginne, aber wollen. Für Berlin entschied sich Wittgenstein, weil sein jeden Abend in Verzweiflung ende.“ Realschulzeugnis ihm die Einschreibung an der Univer- sität erst nach einem weiteren Studium erlaubte. Dort be- [2] schäftigte sich Wittgenstein, so seine Schwester Hermine – Bertrand Russell in ihren Familienerinnerungen, „viel mit flugtechnischen Fragen und Versuchen. [Und weiter:] Zu dieser Zeit oder Unter anderem mit Russells Unterstützung wurde Witt- etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d.h. das genstein im November 1911 in die elitäre Geheimge- Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und sellschaft Cambridge Apostles gewählt. In David Pin- so völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der sent fand er dort seinen ersten Geliebten.[3] Sie erwar- doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und ben gemeinsam ein Holzhaus in Skjolden in Norwegen, sich wie zerspalten vorkam.“ wo Wittgenstein 1913 für einige Monate an einem Sys- Nach dem Abschlussdiplom als Ingenieur 1908 ging tem der Logik arbeitete. Dass Wittgenstein homosexuell Wittgenstein nach Manchester, wo er an der Universi- war, hatte zuerst sein Biograph William Warren Bartley tätsabteilung für Ingenieurwissenschaften versuchte, ei- 1973 auf Grund von Aussagen anonymer Freunde Witt- gensteins und zweier in Geheimschrift verfasster Tagebü- nen Flugmotor zu bauen. Diesen Plan gab er jedoch bald [4] auf. Danach arbeitete er an „Verbesserungsvorschlägen cher öffentlich gemacht. für Flugzeugpropeller“, einem Projekt, für das er am 17. Ab 1912 begann Wittgenstein mit Arbeiten an sei- August 1911 ein Patent erhielt. Schließlich dominierte nem ersten philosophischen Werk, der Logisch- die Philosophie: Nicht zuletzt auf Anregung Gottlob Fre- philosophischen Abhandlung, die er bis 1917 in einem 1.1 Frühwerk 3 Tagebuch als Notizen festhielt. Auch während seiner kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, durch Zeit als österreichischer Freiwilliger im Ersten Weltkrieg welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst er- beschäftigte er sich weiter damit, bis er das Werk zeugt werden. Ziel philosophischer Analysen ist die Un- schließlich im Sommer 1918 vollendete.[5] Es erschien terscheidung von sinnvollen und unsinnigen Sätzen durch jedoch erst 1921 in einer fehlerhaften Version in der eine Klärung der Funktionsweise von Sprache: „Alle Phi- Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie. 1922 wurde losophie ist ‚Sprachkritik‘.[7]“ Die Hauptgedanken des schließlich eine zweisprachige Ausgabe unter dem heute Tractatus erwuchsen aus der Auseinandersetzung – und bekannten Titel der englischen Übersetzung veröf- in gegenseitiger Befruchtung – mit Bertrand Russell und fentlicht: Tractatus Logico-Philosophicus. Abgesehen werden meist der Philosophie des Logischen Atomismus von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und zugerechnet. einem Wörterbuch für Volksschulen blieb die Logisch- Der Kern von Wittgensteins früher Philosophie ist die philosophische Abhandlung das einzige zu Lebzeiten Abbildtheorie der Sprache.[8] Danach zerfällt die Wirk- veröffentlichte Werk Wittgensteins. lichkeit in „Dinge“ (Sachen, die sich zueinander verhal- Im Rahmen seiner Kontakte zu der von Ludwig von ten). Jedes „Ding“ hat einen „Namen“ in der Sprache. Be- Ficker herausgegebenen Kulturzeitschrift Der Brenner deutung erhalten diese Namen erst durch ihr Zusammen- und dem Innsbrucker „Brenner-Kreis“ lernte Wittgen- stehen im Satz.[9] Sätze zerfallen – wie die Wirklichkeit stein Werke des Dichters Georg Trakls kennen. Im Juli in Dinge – in deren Namen. Wenn die Anordnung von 1914 beschloss Wittgenstein, sein beachtliches Erbe Namen im Zeichen eines Satzes die gleiche Struktur auf- für wohltätige Zwecke zu verwenden. Gefördert wurde weist wie die Anordnung der von den Namen vertretenen unter anderem Trakl mit einer einmaligen Summe von Gegenständen in der Wirklichkeit, also denselben „Sach- 100.000 Kronen, was damals etwa vier Jahresgehältern verhalt“ darstellt, wird ein Satz dadurch wahr. Bilden die eines mittleren Beamten entsprach. Auch war Witt- Dinge in Wirklichkeit einen anderen Sachverhalt als ihre genstein indirekt in das Geschehen um den Tod Georg Namen im Satzzeichen, wird ein Satz dadurch falsch. Trakls involviert. Auf Bitten Trakls, der sich nach einem „Sinnlos“ sind dagegen Sätze, die unabhängig von Sach- Selbstmordversuch in einem Krakauer Garnisonsspital verhalten in der Wirklichkeit wahr oder falsch sind, also befand, reiste Wittgenstein am 5. November 1914 nach zum Beispiel Tautologien und Kontradiktionen.[10] Wo- Krakau, um Trakl zu besuchen. Trakl war jedoch zwei [6] gegen Sätze „unsinnig“ genannt werden, deren Zeichen Tage vor Wittgensteins Eintreffen in Krakau gestorben. überhaupt keine Dingverbindungen in der Wirklichkeit darstellt wie: „Der Satz, den ich hiermit ausspreche, ist Im Ersten Weltkrieg kämpfte Wittgenstein als österrei- falsch“. Dieser Satz bezieht sich nicht auf eine mögli- chischer Soldat an der Ostfront in Galizien. Durch die che Dingverbindung oder Wirklichkeit, sondern

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