ELSTERN in BERLIN MONDRIAN v. LÜTTICHAU M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de Der rohtext von 'Teil eins: Westberlin & hauptstadt' (ab seite 3) wurde 1987 aus den tagebüchern herausgezogen und 2007 (in leipzig) bearbeitet. Ein kurzer auszug erschien unter dem titel '..wie eine große schwester' im westberliner 'Tagesspiegel' vom 5.4.1987. Der rohtext von 'Teil zwei: Berlin' (ab seite 67) wurde 2001 aus den tagebüchern herausgezogen (nach der lektüre von stefan heym: 'Nachruf'). Einer der leser dieses manuskripts war der bekannte DDR-journalist karl-heinz gerstner, dem der text sehr gut gefallen hat: "Sollte doch veröffentlicht werden!" Der text wurde 2007 bearbeitet. 'Teil drei: Meine liebsten bücher aus der DDR' (ab seite 126) wurde im jahr 2007 zusammengestellt. © 2009 VERLAG AUTONOMIE & CHAOS LEIPZIG Mondrian W. Graf v. Lüttichau ISBN 978-3-923211-52-4 www.autonomie-und-chaos.de Diese online-ausgabe kann für den eigengebrauch kostenfrei heruntergeladen werden 2 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de Teil eins: Westberlin & hauptstadt 3 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de Mir scheint, daß der Sinn der schöpferischen Tätigkeit eines Schriftstellers darin besteht, alltägliche Dinge so zu schildern, wie sie sich in den freundlichen Spiegeln künftiger Zeiten zeigen werden, in ihnen die duftige Zartheit aufzuspüren, die erst unsere Nachkommen in jenen fernen Tagen empfinden werden, wenn jede Kleinigkeit unseres gegenwärtigen Alltags schon an sich schön und festlich sein wird, in jenen Tagen, wenn einer, der das einfachste heutige Jackett anzieht, bereits für den feinsten Kostümball herausgeputzt ist. Vladimir Nabokov: Stadtführer durch Berlin Für NINIVES Lassehn ist wie benommen. In diesen 30 Minuten, die die Fahrt vom Schlesischen Bahnhof nach Charlottenburg dauert, wird ihm eigentlich zum ersten Male bewußt, daß diese riesenweite Stadt seine Heimat ist, und er hat darin bisher nichts Bemerkenswertes gesehen, ihre Gaben als Selbstverständlichkeit hingenommen, als könnte es gar nicht anders sein. Jetzt sieht er ein, daß vieles unwiderbringlich verloren ist und, da das Ende des Krieges noch nicht abzusehen scheint, noch viel mehr in Schutt und Asche sinken wird. Heinz Rein: Finale Berlin (1948) Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Umgangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins verschwindend Geringfügige hinein entziffern, das Erstarrte und Verstummte zum Sprechen bringen, dessen Nuancen ebenso Spuren von Gewalt sind wie Kassiber möglicher Befreiung. Theodor W. Adorno: Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (1968) 4 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de Mittwoch, 25. april 1984, im wedding. Draußen, zum offenen fenster rein, zwitschert ein vogel. Warme luft, - es geht dem sommer entgegen. Brandmauer, zugewucherter hinterhofgarten, stille; von irgendwo großstadt-geräusche. Ruhe, gelassenheit. Berlin; der erste tag. Am hohenzollernkanal.. den saatwinkler damm entlang, - in einer ecke vom flughafen tegel sitzen und schauen & hören, horchen: da ist ja ruhe! - Nur ist wohl eigene, innere ruhe nötig, um die hier zu finden. Ich lag im gras (am goethepark, in der seestraße, zwischen dem brummen der autos von beiden seiten) und hab geheult, weil so viel LEBEN da war, um mich rum, in mir mitklang, - so viel ZUHAUSE hab ich gespürt.. Ach; - ich kann noch nicht wirklich drüber schreiben; ich werde wochen brauchen, um das zu verdauen. April 1984 Ein traum, den ich träume, seit ich 14 oder 15 bin, und immer wieder hab ich den in winzigen brocken irgendwo gefunden, in einzelnen gefühlen, bei städten, bei musik.. – fetzen einer lebendigkeit, die aber doch nie ganz war; jetzt bin ich in berlin und innerhalb von 24 stunden ist klar: Das ist es, - ganz und gar! Gestern hab ich den ganzen tag immer wieder nur geheult, hab geweint & gelacht zugleich, immer wieder hat's mich überschwemmt. Noch niemals im leben hab ich mich gefühlt wie in diesen tagen, war noch nie so grenzenlos erschüttert gewesen, so ganz betroffen von einer lebenssituation, wie jetzt: in berlin, und im fortwährenden austausch mit judith, ständiges feuerwerk von assoziationen und gegenseitiger befruchtung! Ich bin zuhause in berlin von der ersten stunde an, mehr als sonstwo (außer in heidelberg); berlin ist wie eine große schwester, und heidelberg ist meine kleine schwester unter den städten. Natürlich empfinde ich städte als weiblich.. Am westhafen - - - Ich dachte an die aufgegebenen piers in new york, wo nichtkommerzielle maler die mauern vollmalen, - so viel ruhe ist hier, gelassenheit: das sind wörter, die immer wieder neu passen, wenn ich in berlin rumlaufe. 5 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de Die 'West Side Story' spielt ja auch fast bei uns, in berlin. Dann krieg ich mit, daß von den rampen der güterbahn hier am westhafen die juden in die konzentrationslager, in den tod verfrachtet wurden. Von 9 bis 16 uhr sind wir quer durch berlin gelaufen, von der FU in dahlem über den ku'damm bis zum wedding. Judith hatte gemeint, das ist zu weit, - aber wir sind gelaufen und gelaufen, sie hat noch nie soviel von westberlin gesehen (weil sie ja auch immer in der U-bahn hockt, wie die meisten) – und es waren 7 stunden mit immer neuen "berliner landschaften" (judith). Über die hälfte der strecke bin ich barfuß gelaufen; das wird mir hier immer wichtiger: die körperliche, organische sinnlichkeit von berlin kann ich auch dadurch ein bißchen besser empfinden – und beantworten. Ich, meine füße sind in kontakt mit berlin.. Keine spur von verdreckt und hundescheiße, außer im wedding, - wiedermal ein vorurteil. Die straßennamen, das gefühl für die himmelsrichtungen.. – Ich fühle mich nur zuhause; vermutlich könnte ich 20 jahre hier sein und doch jeden tag noch leben aus der stadt beziehen! Und unsere besäzzerfreunde (manche jedenfalls) hocken in kreuzberg, wollen nirgendwo anders wohnen, fahren nur U-bahn oder trampen in der stadt, sehen nix von ihr, wollen eigentlich auch nix davon sehen, und jammern über das tote von berlin. Das doch nur in ihnen liegt und in ihrer konsumistischen erwartungshaltung. Berlin ist funktional, improvisiert und direkt (unvermittelt) lebendig – nicht museal wie wien, nicht kalt wie zumindest ich münchen und hamburg empfinde. Aber leben muß jeder selbst, in westberlin mehr als anderswo; sonst geht er unter in der maschine des unbändigen lebenswillens dieser komischen halben stadt. Platten am ku'damm in einer grabbelkiste entdeckt: LA VELLE und ROBERTA d'ANGELO und STEPHEN SLENO, für jeweils 3.90 DM - - ganz ungewöhnliche, eigene sachen, entdeckungen für mich! Diese stadt schenkt so viel, dem, der offen ist dafür. Jede straßenecke gibt ein anderes gefühl, 'ne andere atmosphäre; - überall ist etwas zu finden, - lebendiger müll überall.. WestBÄRlin ist gar keine stadt, - das ist eine welt, ist ein system, das sich seiner (relativen) abgeschlossenheit zu jedem zeitpunkt vollkommen bewußt ist. Nichts war je meinem lebensgefühl im internat so ähnlich wie 6 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN www.autonomie-und-chaos.de das hier, - und noch nie hab ich mich so voll in meinem leben gefühlt wie hier, außer in der internatskommune.* Wessis am bahnhof zoo, am ku'damm: sofort spür ich das fremdkörperhafte (wie wenn besucher im internat waren). Das unlebendige, unbetroffene. Das verschüchterte, kurzatmige. Die ratte sonnt sich, hängt in den irrsten stellungen auf dem bücherregal, still & konzentriert.. Judith liest, fenster sind offen, frühling ist. Selten hab ich ruhe, stille so bewußt wahrgenommen wie in berlin, grad in unserer liebenwalder-wohnung bei offenen fenstern, - durch den gegensatz zu der allgegenwärtigen chaotischen vielfalt, dem meer, in dem wir schwimmen, atmen, das uns nährt. Chaos & gelassenheit: das ist westberlin. Irgendwo rufen spielende kinder.. zum vierten stock hoch kommen die geräusche gemildert und bleiben doch klar. Einzelne autos (weit weg), das gurren der tauben im hinterhofgarten.. Die stimmen draußen hallen in den hohen hausschächten, von den mauern. Wir hören sehr oft keine musik, eigentlich die meiste zeit nicht, - und doch ist immer die musik der stadt in den räumen, unaufdringlich und unüberhörbar. Und wenn wir tatsächlich musik hören, gehört die gleich zu allem um uns rum, - ganz berlin soll sie hören, denk ich manchmal, ganz berlin könnte mitsingen! Wir gehören doch dazu; berlin, das ist doch WIR. Gestern nachmittag haben wir beim spazierengehen im wedding lange mit ein paar gassenjungen geschwätzt, die sich zuerst aufgeregt hatten über meine kleidung – die kinderrote strumpfhose von doris, drüber ein kurzes lila samtkleid, die schwarze strickjacke von christoph aus der 'Indianerkommune'. Später teilte sich ihre front und es wurde mit den beiden älteren, 11 oder 12 waren sie, noch sehr nett und intelligent! Ein nachtrag. - - Als wir auf der transitstrecke an den schildern richtung EISENACH, NAUMBURG, HALLE, LEIPZIG, DRESDEN, MAGDEBURG vorbeikamen, mußte ich dauernd das weinen zurückdrängen; einmal bin ich an den rand gefahren. Noch stunden später brach das hervor, als wir längst in berlin waren und ich dran dachte. Da merk ich erst, wie tief diese seltsame stimmung in meinem elternhaus in mich hineingewachsen ist, - * siehe 'WIR INTERNATLER' (I und II) 7 M ondrian graf v. lüttichau - ELSTERN IN BERLIN
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