376 John Waters Was ist bloß aus dem Showgeschäft von einst geworden?1 Liberace hatte ein Wort dafür. Variety ebenso. Das Wort war «showman- ship» – aber in letzter Zeit scheint dieser Begriff aus dem Vokabular der Filmbosse verschwunden zu sein. Bei den vielen schlechten Filmen heut- zutage, könnten da nicht wenigstens die Werbekampagnen Spaß machen? Was ist aus den haarsträubenden, aber erfinderischen Marke- ting-Instrumenten vergangener Zeiten geworden, diedie Zuschauer im Glauben an ihr Vergnügen ließen, selbst wenn der Film miserabel war? Hat sich das Publikum drum geschert? Teufel, nein. Siemögen den Film gehasst haben, aber den Gimmick liebten sie, und er war ohnehin das einzige, woran sie sich im Nachhinein erinnerten. Wer wird indie Fußstapfen der großen Billigproduzenten Samuel Z. Arkoff und Joseph E. Levine treten, die ihre Filme gekonnt hochzu- spielen pflegten? Warum vergeuden die Produzenten von heute Millio- nen, um Journalisten durch die Gegend zu fliegen, Spots im nationalen Fernsehen zu zeigen und gigantische Printanzeigen zu schalten, wenn sie so etwas Reizendes und Wirkungsvolles ausprobieren könnten wie das Verteilen von Kotztüten vor einem Horrorfilm? Oder wiewäre es mit dem spektakulären und doch spottbilligen Streich, den sich diePro- duzenten einer proletenhaften Kuriositätmit dem Titel The Worm Eaters (Die Wurmfresser, USA 1977, Herb Robins) erlaubten? Als sie begriffen, dass der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Filmeinkäufer in Cannes hart seinwürde, aßen sie munter lebende Würmer aus einem Eimer, während die bestürzten Verleiher in die Vorführung defilierten. Wirkönnen sogar weit indie Geschichte zurückgehen, biszuMom and Dad (Falsche Scham, USA 1945, William Beaudine), einem langweili- gen Pseudo-Aufklärungsfilm aus den 40er Jahren, der auf brillante Weise von dem Ur-Ur-Großvater des Exploitation, Joe Solomon, unters Volk ge- bracht wurde. Der Film enthielt Aufnahmen von einer echten Geburt, und Mr. Solomon begriff dies als eine Gelegenheit, um auf legale Weise weibliche Nacktheitzuzeigen. Vermutlich dachte er, dass das voyeuris- 1 Zuerst erschienen unter dem Titel «Whatever Happened to Showmanship?» In: Ame- rican Film 9,3, Dezember 1983, 55–58. 377 tische Publikum das Baby einfach ignorieren und sich ganz auf die Ana- tomie der Mutter konzentrieren könnte. Solomon mietete in jeder Stadt einKino auf eigene Kosten an und verdiente ein paar Cents dazu, indem er eine falsche Krankenschwester Sexualkunde-Pamphlete zwischen den Sitzreihen verteilen ließ, bevor der Hauptfilm begann. Er provozierte weitere Kontroversen, indem er die Zuschauer nach Geschlechtern trennte – Frauen nur am Nachmittag und Männer abends. Schließlich schuf er den wohl absonderlichsten Werbetrick der Filmgeschichte, in- dem er gleich zu Beginn der Vorführung die Belüftung ausschalten ließ. Als sich das Publikum immer unwohler zu fühlen begann, setzte er ein schädliches Gas durch die Luftschächte frei und wartete, bis der erste Zuschauer in Ohnmacht fiel. Umgehend rief Mr. Solomon sowohl einen Krankenwagen als auch die lokale Presse an und beeilte sich dann vor das Filmtheater, um süffisant dem hektisch fotografierten «Abtransport eines geschockten Gastes» beizuwohnen, wohl wissend, dass ihm die Schlagzeile des kommenden Tages gehören würde. Der größte Showman unserer Tage war jedoch zweifellos William Castle, König der Gimmicks. William Castle war mein Idol. Seine Filme erweckten inmir den Wunsch, Filme zu machen. Ich bin nachgerade nei- disch auf sein Werk. In der Tat wünschte ich mir, William Castle zu sein. Was ist los mit den Filmfans heutzutage? Warum zögern sie, diesem ultimativ exzentrischen Regisseur/Produzenten Kultstatus zu verleihen? Wäre es nicht Zeitfüreine Retrospektive? Einen Dokumentarfilm über sein Leben? Eine hochtrabende Besprechung in den Cahiers du Cinéma? Wäre es nicht Zeitfüreine Neuauflage seiner wunderbaren Autobiogra- phie, Step Right Up! I’m Gonna Scare the Pants Off America?2 Vergesst Ed Wood. Vergesst George Romero. William Castle war der Beste. William Castle war Gott. Der erste Film, mit dem Mr. Castle bekannt wurde, war Macabre (USA 1958). Gewiss, eigentlich nicht so sehr der Film, sondern der Gim- mick. Macabre war ein Abklatsch von Les Diaboliques (Die Teuflischen, F 1955, Henri-Georges Clouzot), gedreht in nur neun Tagen mit 90 000 US-Dollar. Als Castle begriff, dass das fertige Produkt nichts Besonderes war, kam ihm eine Idee, die mehr Erfolg hatte, als er es sich inseinen wildesten Träumen hätte ausmalen können. Er schloss mit Lloyd’sof London eine Versicherungspolice ab, die jeden Kartenkäufer für 1000 US-Dollar versicherte, sollte er vor Angst sterben. In allen Zeitungsan- zeigen erschienen unechte Versicherungspolicen. Riesige Reproduktio- 2 Anm. d. Ü.: Das New Yorker Verlagshaus Pharos Books kam diesem Wunsch nach und publizierte den Band 1992 miteiner Einführung von John Waters. 378 William Castle mit einer eigenwilligen Hommage an den master of suspense, Alfred Hitchcock. nen hingen an den Anzeigentafeln der Kinos. Leichenwagen parkten vor dem Eingang und falsche Krankenschwestern inUniform wurden enga- giert, um im Foyer herumzustehen. Die Zuschauer schluckten es mit Stumpf und Stiel. Niemand sprach über den Film, aber jeder war erpicht zu sehen, ob nicht irgendein Trottel tot umfallen und abkassieren würde. Natürlich starb niemand. Aber wäre es geschehen, hätte es sich umso mehr ausgezahlt. Ein Todesfall be- liebiger Art im Inneren des Kinos hätte Lloyd’s of London nur lumpige 1000 US-Dollar gekostet, und man stelle sich den Hype vor, den das er- zeugt hätte! Mr. Castle war vom Promoten so mitgerissen, dass er zu einigen Premieren imLeichenwagen erschien und den Zuschauern aus einem Sarg entgegensprang. War das nicht der Gipfel des Auteurismus? Wäre Jean-Luc Godard so weit gegangen? Wäre Godard ineinem Autowrack vorgefahren, um Weekend (F/I 1967, Jean-Luc Godard) zu bewerben? Wäre Sergej Eisenstein ineinem Panzerkreuzer erschienen? Ich denke nicht. Ich hasse diesen Eisenstein. William Castle war keine Schlafmütze. Er begnügte sich nicht da- mit, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Vielmehr setzte er seinen fie- berhaften kleinen Verstand in Bewegung, um das zu liefern, was die Stu- dios wollten – mehr Gimmicks und höhere Einnahmen. Seinnächstes Projekt war House on Haunted Hill (Das Haus auf dem Geisterhügel, USA 1959), ein flotter kleiner Horrorfilm, der mitVincent Price auftrumpfte, dem ersten echten Star des Regisseur-Produzenten. Aber Castles neuer Verkaufstrick «Emergo» stahl selbst Price die Schau.Über der Leinwand jedes Kinos wurde ein großer schwarzer Kasten befestigt. Zu einem be- 379 Werkfoto zu The House on Haunted Hill (USA 1958). Filmmuseum Berlin/Deut- sche Kinemathek. stimmten Moment des Films sprangen dieTüren des Kastens plötzlich auf, ein knapp vier Meter großes Plastikskelett erleuchtete und surrte an einem Draht über das Publikum zur Vorführkabine hinüber. Die Studio- manager wurden zunächst skeptisch, als bei der ersten Testvorführung die Ausrüstung versagte, das Skelett von seinem Draht sprang und die wahrhaftig erschreckten Zuschauer nach Deckung suchen ließ. Nach wei- teren Tests war Emergo jedoch perfektioniert und wurde in den Kinos des ganzen Landes installiert. DieKids drehten völlig durch. Sie kreisch- ten. Sie umklammerten ihre Freundinnen. Sie warfen mit Popcorn-Tüten nach dem Skelett. Das Wichtigste war jedoch, dass sie ihr Taschengeld ausgaben und den Film zu einem großen Hit machten. War dies nicht der erste Streifen, der das Prinzip der Zuschauerbeteiligung ad absur- dum führte? House on Haunted Hill muss mitSicherheit spaßiger gewe- sen sein als die Kostümierung à la Brad und Jane und das Reiskör- ner-Werfen bei den Vorführungen von The Rocky Horror Picture Show (USA 1975, Jim Sharman). Danach kam The Tingler (Schrei, wenn der Tingler kommt, USA 1959), bei dem es sich wohl um Mr. Castles Meisterwerk handelt. Wieder 380 ein Horrorfilm, und wieder mitVincent Price ineiner Galavorstellung. Aber diesmal hatte das Drehbuch einen Twist. Ein «Tingler»ist einOr- ganismus, der im menschlichen Rückgrat lebt. Eine Kreuzung zwischen einer Auster und einer Krabbe, die nur dann zum Leben erweckt wird, wenn eine Person sich fürchtet. Dieeinzige Möglichkeit, dieses kleine Scheißding zu töten, besteht darin, zu schreien. In Castles Film schlägt das kleine Monster ineinem Kino zu und tötet den Vorführer. In den wirklichen Kinos, die den Film zeigten, wurde dieLeinwand indiesem Augenblick weiß und eine Stimme verkündete:«Achtung! Der Tingler ist indiesem Filmtheater ausgebrochen. Bitte schreien Sieumihr Leben.» Natürlich antwortete das Publikum, indem es sich die Lungen aus dem Leibe brüllte, aber das reichte dem Meister der Verkaufstricks noch nicht. Er erfand «Percepto», den «neuesten und erschreckendsten Lein- wand-Gimmick». Einem bekannten Scherzartikel ähnlich, der beim Handschlag vibriert, handelte es sich bei Percepto um nichts anderes als kleine Motoren, die unter den Sitzpolstern angebracht und vom Vorfüh- rer genau dann aktiviert wurden, wenn sich das Publikum inwilder Aufregung befand. Als es an den Ärschen der Kinobesucher zu summen begann, brach imKino das reine Chaos aus. Castle schätzt inseiner Au- tobiographie, das er mehr als zwanzigMillionen amerikanischer Ärsche besummt hat. Natürlich gab es auch Probleme. In Philadelphia geriet einkräftig gebauter Fernfahrer so außer sich, das er den ganzen Sitz aus seiner Ver- ankerung riss und von fünf Platzanweisern gebändigt werden musste. In einer anderen Stadt richtete das Management pflichtbewusst
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