Aufsatz Marc Frey Deutsche Finanzinteressen an den Vereinigten Staaten und den Nieder- landen im Ersten Weltkrieg* Wohl kein Bereich der Forschung zur Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg ist so unterrepräsentiert wie die Analyse der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen in den Jahren 1914—1918. Darstellungen der deutschen Kriegswirtschaft betonen die wachsende Rohstoff- und Nahrungsmittelknappheit, deren Ausmaß kaum noch lösbare Anforderun- gen an die deutsche Wirtschaft stellten1. Besonders die aus dem anglo-amerikanischen Raum stammende Forschung zum Wirtschaftskrieg übte nachhaltigen Einfluß auf das Ver- ständnis der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen im Krieg aus. Danach gelang es Groß- britannien, Deutschland mit Hilfe der Blockade bald nach Kriegsausbruch vom Weltmarkt zu verdrängen und den Handel mit dem Ausland im weiteren Verlauf des Krieges ganz zum Erliegen zu bringen2. Schon vor zwanzig Jahren zog Gerd Hardach in seiner inter- nationalen Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs den Erfolg der alliierten Wirtschafts- blockade gegen Deutschland in Zweifel und verwies auf die Rolle der Neutralen als be- deutende Handelspartner Deutschlands3. Bis heute wurden seine Thesen weder aufgenom: men noch einer genauen Uberprüfung unterzogen. So stellte auch die neuere Forschung zu verschiedenen Aspekten der deutschen Kriegswirtschaft die Wirkung der alliierten Blockade gerade im Hinblick auf die deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen nicht in Frage4. Angesichts der großen Bedeutung der neutralen Staaten für die deutsche Kriegs- wirtschaft ist es jedoch erstaunlich, daß die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen Deutsch- lands zu Dänemark, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und den Ver- einigten Staaten von der Forschung bislang unberücksichtigt blieben. Studien, die sich mit * Ich möchte mich bei Herrn Prof. Dr. Jürgen Heideking, Frau Dr. Ragnhild Fiebig-v. Hase und Frau Dr. Vera Nünning von der Anglo-Amerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln sehr herzlich für Rat und Kritik bedanken. Der Artikel ist Teil eines Promotionsprojekts zur politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Niederlande für die Kriegs- gegner Deutschland, Großbritannien und Vereinigte Staaten. 1 Vgl. z.B. die grundlegenden Darstellungen bei Karl Dietrich Erdmann, Der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1973 (= Gebhard Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd 4), § 19; Hans Herzfeld, Der Erste Weltkrieg (dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts), München 71985 (1. Aufl. 1968), S. 179-195; Peter Graf Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, 2. durchges. Aufl. Frankfurt a.M. 1980, S. 162—204. Dort auch weiterführende Literatur. 2 Archibald C. Bell, The Blockade of the Central Empires 1914—1918. (For official purposes only, London 1937), London 1961; Marion C. Siney, The Allied Blockade of Germany, 1914—1916, Ann Arbor, MI 1957; Arthur Marsdon, The Blockade, in: British Foreign Policy under Sir Ed- ward Grey, ed. by F.H. Hinsley, Cambridge 1977, S. 488-515. 3 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg, München 1973 (= Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahr- hundert, Bd 2), S. 43, 160. 4 Vgl. z. B. Hans Gotthard Ehlert, Die wirtschaftliche Zentralbehörde des Deutschen Reiches 1914—1919. Das Problem der »Gemeinwirtschaft« in Krieg und Frieden, Wiesbaden 1982, S. 34—38; Avner Offer, The First World War. An Agrarian Interpretation, Oxford 1989; Anne Roerkohl, Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen wäh- rend des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991, S. 15—19. Militärgeschichtliche Mitteilungen 53 (1994), S. 327—353 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 328 MGM 53 (1994) Marc Frey der Rolle der europäischen Neutralen befassen, beschränken sich in der Regel auf die poli- tischen Beziehungen5. Ziel dieses Artikels ist es, anhand einer Auswertung unveröffentlichter Quellen aus deut- schen Archiven ein differenzierteres Bild der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen zu zeichnen. Beispielhaft werden hier die deutschen Finanzinteressen an den Vereinigten Staaten und den Niederlanden beleuchtet. Der amerikanische Kapitalmarkt war bis zum Kriegs- eintritt der Vereinigten Staaten im April 1917 der bei weitem größte und kapitalkräftigste neutrale Markt. Besonders im ersten Kriegsjahr spielten die USA für die Beschaffung von Devisen eine herausragende Rolle. Die Niederlande dagegen wurden im Ersten Weltkrieg der wichtigste neutrale Außenwirtschaftspartner Deutschlands. Sie rückten im Novem- ber 1915, als die Finanzbeziehungen Deutschlands mit den Vereinigten Staaten zunehmend erschwert wurden, in den Mittelpunkt der deutschen Auslandsfinanzierung. Die Quellenlage zu den Finanzbeziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bzw. den Niederlanden ist höchst unterschiedlich. Schon 1917 stellten deutsche Behörden fest, daß ein Uberblick über die Geschäfte Deutschlands mit Amerika »unmög- lich war, zumal infolge des schwierigen Kabelverkehrs und des ebenso schwierigen Brief- verkehrs eine ausführliche Korrespondenz nicht geführt werden konnte«6. Dennoch ge- lang es, in groben Linien die Entwicklung der deutsch-amerikanischen Finanzbeziehun- gen nachzuzeichnen. Dagegen sind die deutsch-niederländischen Finanzbeziehungen ausführlicher dokumentiert7. I. Ausgangslage und Rahmenbedingungen Deutschland war in der Vorkriegszeit auf die Einfuhr zahlreicher Rohstoffe angewiesen, rund 20 Prozent aller Nahrungsmittel mußten importiert werden. Mit einem Import vo- lumen von 34,83 Milliarden Mark in den Jahren 1908 bis 1911, dem Exporte von rund 28,572 Milliarden gegenüberstanden, war Deutschland eine der führenden Industrie- und Handelsnationen der Welt. Die veränderten Bedürfnisse und Anforderungen der Wirtschaft trugen während des Krieges zu einem dramatischen Rückgang des Außenhandels der Ex- 5 W. M. Carlgren, Neutralität oder Allianz. Deutschlands Beziehungen zu Schweden in den Anfangs- jahren des Ersten Weltkrieges, Stockholm 1962; Steven Koblik, The Neutral Victor. Sweden and the Western Powers 1917—1918, Lund 1972; Brian J. C. McKercher and Keith E. Neilson, The Tri- umph of Unarmed Forces. Sweden and the Allied Blockade of Germany, 1914—1917, in: Journal of Strategic Studies, 7(1984), S. 179—199; Olaf Riste, The Neutral Ally. Norway's Relations with Belligerent Powers in the First World War, Oslo 1965; Tage Kaarsted, Great Britain and Denmark 1914—1920, Odense 1979; Wilhelm E. Winterhager, Mission für den Frieden. Europäische Macht- politik und Dänische Friedensvermittlung im Ersten Weltkrieg. Vom August 1914 bis zum Italie- nischen Kriegseintritt 1915, Stuttgart 1984; Cornells Smit, Nederland in de Eerste Wereldoorlog, 1898—1919, 3 Bde, Groningen 1971—1973. Eine Ausnahme bildet die wirtschaftsgeschichtlich de- tailreiche Studie zur Lage der Schweiz von Heinz Ochsenbein, Die verlorene Wirtschaftsfreiheit 1914—1918. Methoden ausländischer Wirtschaftskontrolle über die Schweiz, Bern 1971. 6 Bundesarchiv-Zwischenarchiv, Dahlwitz-Hoppegarten (BA-DH), Zentral-Einkaufs-Gesellschaft (ZEG) 1370, Die Tätigkeit des Geheimen Oberregierungsrat Albert nach Büchern der ZEG, oh- ne Datum (April/Mai 1917). 7 Als übergeordneter Begriff für die deutschen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen wurde die Be- zeichnung »Außenwirtschaft« gewählt. Diese gliedert sich in »Außenhandelsbeziehungen« und »Auslandsfinanzierung«. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt im folgenden auf der Auslands- finanzierung. Deutsche Finanzinteressen an den Vereinigten Staaten und den Niederlanden 329 porte bei. Neben den kriegsbedingten Umstellungsprozessen war die alliierte Wirtschafts- blockade gegen Deutschland maßgeblich verantwortlich für das Sinken der Im- und Ex- porte. Doch konnte Deutschland während der gesamten Kriegsdauer immerhin Waren im Wert von 22,8 Milliarden Goldmark importieren, die Exporte beliefen sich auf 11,7 Mil- liarden8. Der Warenverkehr Deutschlands mit dem Ausland beschränkte sich im Krieg vorwiegend auf den Austausch mit den benachbarten neutralen Anrainerstaaten. Diese lieferten bis zum Ende der Kampfhandlungen im November 1918 kriegswichtige Güter wie Nahrungsmittel (Dänemark, Niederlande), metallhaltige Erze wie Eisen, Nickel, Zinn und andere Rohstoffe (Norwegen, Schweden) sowie Maschinen (Schweiz). Die Finanzie- rung dieser Importe stellte angesichts der unausgeglichenen Zahlungsbilanz Deutschlands gegenüber den neutralen Nachbarstaaten ein immer größer werdendes Problem dar. Das Reich, während des Krieges mehrfach an der Grenze der Zahlungsfähigkeit, beglich die ausländischen Forderungen gerade in der Anfangsphase des Krieges zu einem großen Teil in Mark. Der unaufhaltsam sinkende Kurs der deutschen Währung an den neutralen De- visenmärkten zwang die Reichsbank jedoch zur Abgabe von Goldbeträgen in einem Um- fang von 800 Millionen, deutsche und ausländische Wertpapiere wurden in Milliardenhö- he veräußert9. Trotz der britischen Blockademaßnahmen gegenüber der neutralen Finanz- welt gelang es der Reichsregierung im Verlauf des Krieges, Kreditforderungen in Milliar- denhöhe im neutralen Ausland anzuhäufen. Deutschland ging im August 1914 wirtschaftlich und finanziell unvorbereitet in den Krieg10. Die Abhängigkeit vom Weltmarkt war allgemein bekannt, doch hielt man eine lange Kriegsdauer für unwahrscheinlich. Weder die politische noch die militärische Lei- tung des Reiches war sich bei Kriegsbeginn darüber im klaren, welche wirtschaftlichen und finanziellen Implikationen der Krieg haben würde und welche Aufgaben auf die nach und nach ausschließlich in den Dienst des Krieges gestellte
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