MARTIN MOLL STEUERUNGSINSTRUMENT IM „ÄMTERCHAOS"? Die Tagungen der Reichs- und Gauleiter der NSDAP I. Nahezu sämtliche Analysen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stimmen darin überein, dass der Staat Hitlers je länger desto mehr durch eine fortschreitende Auflösung ordnungsstaatlicher Strukturen geprägt gewesen sei, durch polykratische Kompetenzkämpfe sowie die Verselbständigung sektoraler und regionaler („Gaufürs­ ten") Partikularherrschaften, über denen Hitler als vermeintlich omnipotenter Füh­ rer seine Koordinierungsrolle immer weniger ausgeübt habe1. Spätestens seit 1938 habe mit dem völligen Wegfall der schon zuvor immer sporadischer anberaumten Ka­ binettssitzungen jegliche geordnete Regierungstätigkeit ihr Ende gefunden; es habe sich hierbei um einen Prozess gehandelt, der nach Kriegsbeginn als Folge von Hitlers Rückzug in seine entlegenen Hauptquartiere und seiner vorrangigen Befassung mit militärischen Angelegenheiten noch eine erhebliche Beschleunigung erfahren habe. Der Zugang zum Diktator sei von grauen Eminenzen, insbesondere von Martin Bor­ mann, zunehmend monopolisiert und abgeschnürt worden, so dass nur mehr eine Handvoll seiner Paladine aus dem engsten Führungszirkel ungehinderten und vor al­ lem regelmäßigen Zutritt zum Führerhauptquartier gehabt haben2. Hitlers Kontakte mit den Vertretern des staatlichen Verwaltungsapparates wie auch der Partei seien zu­ nehmend marginalisiert worden, ja der Diktator habe darüber hinaus jede institutio­ nalisierte Kommunikation zwischen den nachgeordneten Herrschaftsträgern unter­ bunden, weshalb der erwähnte Auflösungsprozess in Richtung der Verfestigung sich polykratisch befehdender Teilherrschaften weiter vorangetrieben worden sei3. 1 Vgl. etwa den Forschungsüberblick bei Gerhard Schreiber, Hitler. Interpretationen 1923-1983. Ergebnisse, Methoden und Probleme der Forschung, Darmstadt 1984, S. 292 f. 2 Typisch etwa Laux, der allzu plakativ urteilt, Hitler „verschwand für die innere Führung des Rei­ ches immer stärker hinter den Bunkern von Rastenburg, Winniza und Berlin, wohlabgeschirmt von Martin Bormann". Eberhard Laux, Führung und Verwaltung in der Rechtslehre des National­ sozialismus, in: Dieter Rebentisch/Karl Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 33-64, Zitat S. 61. Ähnlich urteilt Ian Kershaw, Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992, S. 210, der von einer selbstgewählten Isolation Hitlers in den Führerhauptquartieren spricht. 3 Exemplarisch etwa Hans Mommsen, Die Realisierung des Utopischen: Die „Endlösung der Ju- VfZ 49 (2001) © Oldenbourg 2001 216 Martin Moll Nur vereinzelt regte sich gegen diese communis opinio der Forschung zaghafter Widerspruch. Vor einigen Jahren hat Dieter Rebentisch mit überzeugenden Argu­ menten die Auffassung vertreten, Hitler habe noch bis weit in den Krieg hinein an den zivilen Regierungsgeschäften in einem weitaus höheren Maße Anteil genommen, als bislang vermutet worden war4. Die vom Verfasser dieses Beitrags kürzlich vorge­ legte Edition sämtlicher schriftlicher Hitler-Erlasse aus den Kriegsjahren konnte Re- bentischs Urteil schon durch die bloße, zuvor weit unterschätzte Zahl der in ihr do­ kumentierten Führer-Entscheidungen bestätigen5. Trotz dieser einschränkenden Hinweise, die letztlich darauf abzielen, vor einer teilweise bis ins Groteske reichen­ den Verzeichnung des Hitlerschen Regierungsstils und vor einer Verabsolutierung von Einzelphänomenen zu warnen, sind in der Forschung gegenwärtig keine manife­ sten Tendenzen erkennbar, das eingangs skizzierte Bild polykratischen Chaos' grundsätzlich in Frage zu stellen. Auch der vorliegende Beitrag bezweckt keine Totalrevision. Es geht ihm vielmehr darum, das Augenmerk auf mögliche, bislang völlig übersehene Tendenzen der Koor­ dinierung zu richten und so zu einem ausgewogeneren Urteil der Regierungstechnik Hitlers zu gelangen. Der Verfasser ist sich dabei bewusst, dass die Beschäftigung mit vergleichsweise normalen Erscheinungen staatlichen Regierens weitaus weniger spektakuläre Ergebnisse zeitigt als der immer neue Nachweis mitunter lächerlich wirkender polykratischer Grabenkämpfe der NS-Granden. Gleichwohl ist der Blick auf die rationalen Elemente nationalsozialistischer Herrschaft unabdingbar, um die Funktionsweise des Regimes zu verstehen und einseitige oder wenigstens überzeich­ nete Urteile zu vermeiden. Wie sonst ließe sich die auf vielen Gebieten ganz unüber­ sehbare mörderische Effizienz des Regimes bis in die letzten Kriegstage hinein ange­ messen erklären6? Die bis in die Auflösungsphase des Dritten Reiches abgehaltenen, ausdrücklich als solche bezeichneten „Tagungen" der Reichs- und Gauleiter der NSDAP sind bislang in den allermeisten Forschungsarbeiten gänzlich übersehen worden. Wenn über­ haupt, finden sie lediglich kursorische Erwähnung, indem aus einzelnen dort gehalte­ nen Ansprachen7 zitiert wird, ohne das Phänomen der Tagungen als solches zu pro- denfrage" im „Dritten Reich", in: Ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 184-232, hier S. 216. 4 Vgl. Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwick­ lung und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, insbes. S. 550ff. 5 Vgl. Martin Moll (Hrsg.), „Führer-Erlasse 1939-1945". Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997. 6 Vgl. die treffenden Argumente bei Wolfgang Seibel, Staatsstruktur und Massenmord. Was kann eine historisch-vergleichende Institutionenanalyse zur Erforschung des Holocaust beitragen?, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 539-569, hier S. 547ff. 7 Von den zahlreich, z. T. auch in gedruckter Form überlieferten und daher relativ mühelos zugäng­ lichen Redetexten sind immerhin acht ediert bzw. in gedruckte Quellensammlungen aufgenom­ men worden: Rede von Bormanns Mitarbeiter Ruder, 23. 2. 1944, bei Waldemar Besson, Zur Ge- Steuerungsinstrument im „Ämterchaos"? 217 blematisieren. Wo dies vereinzelt doch geschieht, erscheinen die mit beträchtlichem Aufwand organisierten Tagungen als bloße Akklamationsveranstaltungen, als Reichs­ parteitage en miniature oder als Zusammenkünfte der „Alten Kämpfer" im Stile der nostalgischen Bier-Abende in Münchner Bräuhäusern. Allenfalls wurde aus der Tat­ sache der Reichs- und Gauleiter-Treffen ein Indiz für Hitlers Anhänglichkeit und Kameraderie gegenüber seiner engsten Clique abgeleitet und daraus wiederum auf deren starke, weil Führer-unmittelbare Machtstellung geschlossen. Ausgeblendet bleibt hingegen die Frage, ob den Tagungen nicht darüber hinaus ein Element echter Bündelung und Koordinierung der Regierungsaktivitäten, zumal im Kriege, zuzu­ sprechen ist oder ob nicht wenigstens die Organisatoren derartige Absichten mit Ernsthaftigkeit verfolgten. Ebenso sporadische wie vage Bemerkungen, wonach die Tagungen „der einheitli­ chen Ausrichtung der Parteiinstanzen auf Reichs- und Gauebene" dienten und die Parteigranden in der zweiten Kriegshälfte vermehrt „über die allgemeine Situation, einzelne Probleme und neue Maßnahmen informiert wurden", hat die Forschung nicht aufgegriffen8. Stattdessen dominiert noch immer das quellenmäßig unzurei­ chend belegte Urteil Peter Hüttenbergers in seiner Monographie über die Gauleiter, demzufolge nach 1933 der persönliche Kontakt Hitlers zu seinen Gaufürsten loser geworden sei; Tagungen der Reichs- und Gauleiter hätten nur noch selten stattgefun­ den; auf ihnen sei es obendrein kaum zu Aussprachen oder Diskussionen gekommen, da die Veranstaltungen nur als kurze Schulungskurse konzipiert gewesen seien9. Hin- schichte des nationalsozialistischen Führungsoffiziers (NSFO), in: VfZ 9 (1961), S. 76-116, hier S. 104-112; Theodor Eschenburg, Die Rede Himmlers vor den Gauleitern am 3. August 1944, in VfZ 1 (1953), S. 357-394; die Ansprachen Himmlers vom 29. 2. 1940 „vor Gauleitern und anderen Parteifunktionären" sowie auf der Posener Tagung am 6. 10. 1943, in: Bradley F. Smith/Agnes F. Peterson (Hrsg.), Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974, S. 115-144 bzw. S. 162-183; Goebbels' Ansprache vom 3. 8. 1944, in: Helmut Heiber (Hrsg.), Goebbels Reden, Bd. 2: 1939-1945, München 1972, S. 360-404; das Redemanuskript Jodls vor der Parteispitze am 7. 11. 1943, in: Der Prozeß gegen die Haupt­ kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, 14. 11. 1945-1. 10. 1946 (künftig: IMT), 42 Bände, Nürnberg 1947-1949, hier Bd. XXXVII, S. 630-668; Rede Sauckels, 6. 2. 1943, in: Ebenda, Bd. XXVII, S. 584-612; der Vortrag Leys auf der Tagung vom 23./24. 2. 1944 als Fak­ similedruck einer zeitgenössischen Publikation, in: Tilman Harlander/Gerhard Fehl (Hrsg.), Hit­ lers sozialer Wohnungsbau 1940-1945. Wohnungspolitik, Baugestaltung und Siedlungsplanung. Aufsätze und Rechtsgrundlagen zur Wohnungspolitik, Baugestaltung und Siedlungsplanung aus der Zeitschrift „Der Soziale Wohnungsbau in Deutschland", Hamburg 1986, S. 335-339. Über Hitlers Ansprachen im Zuge der Tagungen finden sich in der Edition von Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, 2 Bän­ de, Würzburg 1962 und 1963, nur Pressekommuniques, aber keine vollständigen Texte. 8 Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920-1945,
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