Ernst Reicher Alias Stuart Webbs König Der Deutschen Film-Detektive

Ernst Reicher Alias Stuart Webbs König Der Deutschen Film-Detektive

SEBASTIAN HESSE Ernst Reicher alias Stuart Webbs König der deutschen Film-Detektive »Wodurch unterscheidet sich dieser Film von allen anderen Detektivfilms? Durch strengste Logik, nur wirklich mögliche Sensationen, psychologischen Aufbau.«1 Mit diesen Worten kündigt die Continental-Kunstfilm GmbH im Frühjahr 1914 DIE GEHEIMNISVOLLE VILLA2 an - die erste Folge der Stuart Webbs-Reihe, der langlebigsten Detektiv-Filmserie, die für das deutsche Kino 3 stilbildend ist. Bis zum Jahr 1926 entstehen knapp 50 Filme , allesamt mit Ernst Reicher4 in der Hauptrolle. Reicher ist in fast allen Folgen Hauptdarsteller, Drehbuchautor und Produzent in Personalunion. Bereits 1914 wagt er nach dem Zerwürfnis mit der Continental (zunächst gemeinsam mitJoe May) das Risiko einer eigenen Produktionsgesellschaft, der Stuart Webbs Film Company. Das von Reicher entwickelte Strickmuster wird zum Vorbild für Dutzende von Plagiaten, zum Archetypen des frühen deutschen Detektivfilms. Den Inlands­ markt der Kriegsjahre überschwemmen hausgemachte Detektivfilm-Serien um Gentleman-Ermittler mit angelsächsischen Namen wieJoe Deebs, Harry Higgs oder JoeJenkins. Deutsche »Kollegen« finden sich dagegen selten. Auf dem nach außen weitgehend abgeschotteten Filmmarkt im Deutschland der Jahre 1914 bis 1918 fällt diese Genre-Konvention auf, waren Heldenfiguren ausländischer Herkunft doch wenig tauglich für propagandistische Zwecke. Siegfried Kracauer erklärt das Phänomen mit der »Bedingtheit des klassischen Detektivs durch die liberale Demokratie«.5 Ohne je eine demokratische Staats­ form entwickelt zu haben, seien die Deutschen außerstande gewesen, »eine heimische Spielart von Sherlock Holmes hervorzubringen«.6 In der bürokrati• schen Standesgesellschaft des ausgehenden Kaiserreichs sei kein Platz gewesen für den Detektiv, »der auf eigene Faust und kraft seines Verstandes das Spin­ nengewebe irrationaler Mächte zerreißt und Anständigkeit über dunkle Triebe siegen läßt«.7 Er sei vielmehr »der prädestinierte Held einer zivilisierten Welt, die an das Glück von Aufklärung und individueller Freiheit glaubt«.8 Die hiermit attestierte Subversivität solcherlei Filmfiguren mag die Dispositionen eines gebildeteren Publikums mit emanzipatorischen Interessen aufgenommen haben, erklärt aber weder die Massenpopularität des Genres noch die Gleich­ gültigkeit der Zensur gegenüber den Detektivserials der Kriegsjahre. 9 Außerdem hält sich das Genre durchaus während der frühen Jahre der ersten deutschen Republik. Naheliegender als Kracauers Überlegungen scheint mir, den Detek­ tivfilm Reicher'scher Prägung als Beitrag zum Legitimationsdiskurs des frühen Kinos zu sehen. 143 Die »Reform-Detektivfilms« um Stuart Webbs in der zeitgenössischen Rezeption Der eingangs zitierte Auszug aus der Werbekampagne für DIE GEHEIMNISVOL­ LE VILLA belegt, wie gezielt Filmproduktion und Werbewirtschaft 1914 auf aktuelle Diskussionen um die Qualität des Kinodramas reagieren. In der Fach­ presse der Filmwirtschaft setzt sich diese Tendenz fort: »Diese neueste Schöp• fungJoe Mays bei der Continental-Kunstfilm GmbH bedeutet ohne Übertrei• bung eine neue, unendlich vollkommenere Phase auf dem Gebiet gerade des Detektivfilms«10, heißt es zur Uraufführung von DIE GEHEIMNISVOLLE VILLA. Zum Erscheinen der fünften Webbs-Folge ist ein Jahr später in der Licht-Bild­ Bühne zu lesen: Es kann nicht abgestritten werden, daß der Begriff der Detektiv-Films im Laufe der Jahre einen gewissen unangenehmen Beigeschmack gehalten (sie!) hat, der ja auch im übrigen in der kriegsministeriellen Zensur-Verfügung zum Ausdruck gekommen ist. Der typische Film-Detektiv ist fast zur lächerlichen Karikatur in den Herzen ernster Kritiker geworden. Auf diesem Gebiete eine Reformverbesserung eingeführt zu haben ist das Verdienst der Stuart W ebbs-Film-Co., die mit allen ihren bisherigen Films glänzendes Material als Dokumente dafür geschaffen hat, daß man einen Detektiv-Film nicht mehr so ohne weiteres mit einem früher verständlichen Miß- trauen zu beargwo ""h nen hat. 11 Mit fast wörtlichen Anklängen werden hier Postulate aus einer Detektiv-Film­ debatte aufgegriffen und vorweggenommen, die sich zeitgleich in der Fachpresse entwickelt hat. Die gängige Kritik am Detektiv-Schlager, er sei zur haarsträu• benden Aneinanderreihung der unglaubwürdigsten Sensationen verkommen, greift die Filmwirtschaft selbstkritisch auf und fordert eine Reform des Genres. Kurz vor Erscheinen der ersten Stuart W ebbs-Folge widmet der Kinematograph dem Detektivfilm seinen Aufmacher. »Eine ganze Anzahl Detektivstücke der letzten Zeit, die mit kolossalem Aufwand aller möglichen und unmöglichen Regiemittel verschwenderisch ausgestattet waren, vermochten trotzdem keine tiefere Wirkung auszulösen, weil ihnen das fehlte, was im Detektivdrama schein­ 12 bar Nebensache ist: das psychologische Moment!« , schreibt dort der Filmkri­ tiker R. Genenncher. Dieses Postulat einer größeren psychologischen Glaub­ würdigkeit zieht sich kursorisch durch sämtliche Beiträge zur Detektivfilm-De­ batte. Gemeint sind realistische Plots, innere Logik der Handlung sowie vor allem überzeugende, differenzierter gezeichnete Hauptfiguren. Genenncher weiter: »Solange es nicht glückt, auch auf (sie!) dem Detektivfilm das psycholo­ gische Moment der Handlung herauszuholen, uns die Helden auch menschlich näher zu bringen und vor allen Dingen die Gesetze strengster Logik einzuhalten, wird er sich nicht zu jener Höhe emporschwingen können, die trotz mannigfa- 144 eher Schwierigkeiten für ihn sehr wohl erreichbar ist.« 13 Kurz nach der Premiere wird DIE GEHEIMNISVOLLE VILLA von der Licht-Bild-Bühne als hoffnungsvoller Ansatz zur Aufwertung des Genres gefeiert: »Die Spannung und das Interesse ist nicht durch die Handlung erweckt (die Situationen sind uns durch die Kriminalliteratur hinlänglich bekannt), das rege Interesse an dem Schicksal Webbs' wurde dadurch wachgehalten, wie die Szenen gebracht wurden, und zwar vom regietechnischen wie vom darstellerischen Standpunkt aus« 14, ein Lob an die Adresse des Regisseurs May wie auch des Hauptdarstellers und Autors Reicher. Kinoreformer und Detektivfilm Was in diesen Texten als Selbstbesinnung des Genrekinos daherkommt, ist genauer betrachtet ( abgesehen vom Werbeeffekt für die Reform-Detektivfilms) ein Versuch, die unverändert virulente, für die Filmwirtschaft existenzbedro­ hende Agitation der Kinoreformer abzuwehren. Deren Kritik am Kinodrama, den Schundfilms, hatte sich ab 1907 an angeblichen gesundheitlichen und vor allem moralischen Gefährdungen durch den Kinematographen festgemacht, letztere wegen angeblicher Verherrlichung von Sexualität und Verbrechen. Der Artikel »Detektivfilm und Hintertreppenfilm« stellt diesen Bezug 1915 in der Licht-Bild-Bühne selber offen her. Er geißelt »das zeitweilige Vorherrschen krasser, d.h. brutal-geschmackloser Detektiv- und Sensationsfilms«15 und öff• net sich der Argumentation der Reformer: »Die prinzipiellen Filmfeinde beka­ men hier eine Waffe in die Hand gedrückt, wie sie diese besser gar nicht wünschen konnten. Zahlreiche Zensurmaßnahmen, Kinobeschränkungen und filmgegnerische Maßregeln kommen ausschließlich aufs Konto dieser Films.«16 Ein Blick auf Agitationstexte aus Reformerkreisen bestätigt das. Der Arzt und Psychologe Robert Gaupp schreibt 1911: »Für noch gefährlicher halte ich die oft grauenhaft plastischen Darstellungen aus dem Verbrecherleben. Enden diese Verbrecherdramen auch in der Regel mit einem moralischen Schluß, bei dem das Verbrechen seine Sühne findet, so wäre es doch völlig verfehlt, daß solche Darbietungen deshalb ungefährlich seien. Der Abschreckungswert des moralischen Schlusses fällt gar nicht ins Gewicht gegenüber der tiefen Wirkung, welche die Heldentaten des kühnen Verbrechers auf das jugendliche Gemüt ausüben.« 17 Immer wieder wird eine potenzierte Gefahr im Vergleich zu den populären Romanheftehen - allen voran der Nick Carter-Serie - beschworen, gegen die das Bildungsbürgertum seit ihrem Aufkommen um die Jahrhundert­ wende zu Felde zieht. Gaupp listet charakteristische Elemente der frühen Kino­ dramen auf und folgert: »Alle diese Dinge teilt das Drama im Kino mit dem Schund- und Detektivroman. Allein der Kinematograph wirkt schädlicher und nervenzerstörender durch die zeitliche Konzentration der Vorgänge.«18 Der Journalist und Theatermann Willy Rath verknüpft diese Argumentation 1912 145 mit der ebenfalls zeittypischen Angst vor ausländischer Infiltration: »Auch der kolossale Großbetrieb der Schundliteratur war (obwohl seit Jahrzehnten Kol­ portage-Schmutz übergenug im Inland erzeugt wurde) vorzüglich dem Ausland, im besonderen dem anglo-amerikanischen, zu verdanken. Kaum war es dem bewundernswerten Zusammenarbeiten deutscher Bildungsvertreter gelungen, den papierenen Schund einigermaßen zurückzudrängen, als er im Schundfilm hundertfach gefährlicher wiedergeboren und zunächst natürlich wieder von skrupellosen Einheimischen sklavisch nachgeahmt wurde.«19 In dieser scharfen Verurteilung speziell des Kriminalfilms und seiner trivialliterarischen Pendants sind sich die bürgerlichen Kinoreformer und die Kinokritiker der Arbeiterbe­ wegung einig. 1912 werden im sozialdemokratischen Periodikum Die Gleichheit die »nervenaufpeitschenden Detektivdramen« als Ablenkung von der geistigen Weiterbildung der Arbeiterschaft gegeißelt: »Gegen die Schundliteratur der Kolportageromane und Nick-Carter-Hefte wenden wir uns mit aller Energie; weit eindringlicher und gefährlicher wirkt aber dieser Kinoschund, bei dem man sich das Häßliche nicht nur in der Vorstellung ausmalen muß, sondern wo man alles

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