BAD 58 ALCHEMY 1 STEINER: ... Die Musik besiegt den Tod, aber dann besiegt das Mysterium tremendum die Musik. Orpheus stirbt, von den Mänaden zerrissen. Dann kommt etwas, das für uns heute abend wichtig ist: Der Körper blutet aus, aber, das ist eine archaische Überlieferung, der Kopf singt weiter. Aus dem Mund des toten Orpheus strömt Musik. Das zweite Thema ist Marsyas, dieser grausame, furchtbare Mythos vom Kampf zwischen ihm und Apollon, in dem Marsyas geschändet wird. Auf Tizians berühmtem Gemälde finden wir alle Motive unseres heutigen Gesprächs. Es ist das größte seiner Bilder, und auch das grausamste. Worum ging es in dem Kampf? In dem Logos Apollons heißt es: Musik ist das Ornament der Sprache. Und Marsyas sagt: Der Wind ist Musik, der Vogel singt Musik, das Meeresrauschen ist Musik. Die Sprache ist ein später Gast und ein falscher. Dann das Sirenen-Motiv. Der Gesang tötet, er hält ganz mysteriös das Versprechen. Was sagen die Sirenen? Wir können dir sagen, was in der Welt war, was in der Welt ist und was in ihr sein wird. Die Verheißung des Alten Testa- ments. Die Verheißung des Baums im Paradies, des Baums der Wissenschaft, des Wissens. Hör unserem Gesang zu. Odysseus überlebt, er segelt weiter. Das war der letzte Moment, wo der Mensch in der Musik die Urkraft der Schöpfung hören konnte. Aber die Warnung war da: Musik ist übermenschlich, aber auch unmenschlich. Schopenhauer sagt: Auch wenn die Welt nicht wäre, könnte die Musik bestehen. Ich bin sicher, der Satz stimmt. Zuerst sind wir Gäste der Musik. Vielleicht kommt die Sprache erst viel später. Es ist möglich, sich eine Kul- tur ohne Sprache vorzustellen, aber nicht ohne Musik. … RIHM: Die drei Gestalten: Marsyas, ich nenne ihn bewusst zuerst, Orpheus und Odysseus bei den Sirenen interpretiere ich so: Marsyas ist der Komponisten-Mythos, Orpheus der Inter- preten-Mythos und Odysseus bei den Sirenen der Rezipienten-Mythos. Odysseus wollte die Sirenen ja wirklich hören. Deswegen läßt er sich an den Mast binden und von seinen Ge- fährten, deren Ohren er mit Wachs verstopft hat, an den Sirenen vorbeirudern. Er will sich dem aussetzen, er will die Erfahrung machen, er will davon berichten können, er will wis- sen, was da geschieht. Doch was hört er? Vielleicht, und deshalb ist es für mich der Rezipi- enten-Mythos, vielleicht hört er sein Hören. Vielleicht hört er alles, was zu hören ihm mög- lich ist. Vielleicht wird er mit einer Schicht in sich konfrontiert, die durch dieses Hörenwol- len erst entstanden, in Vibration gekommen ist. Orpheus dagegen ist jener, der durch die Präsentation des Klanges über alles gebietet. Orpheus komponiert nicht, er interpretiert, er singt. Er ist das Gefäß, aus dem es strömt. Aber Marsyas, das bin ich selber. (Wolfgang Rihm, Gespräch mit George Steiner - Sinn und Form, Erstes Heft, Januar/Februar 2005, ) 2 „NISENNEN NISENNEN NISENNENMONDAI!!“ So müsste ich das Loblied auf dieses Trio aus Tokyo anstim- men, wenn ich dazu die passen- de Gremlins-auf-Helium-Stimme hätte. Was die Bassistin Yuri Zai- kawa, die Gitarristin Masako Takada und die Drummerin Sa- yaka Himeno da am 21. Febru- ar 2008 im Würzburger Im- merhin bei ihrem einzigen Öd- land-Auftritt (zwischen Stationen in Rom, Wien, Utrecht, Paris, Genf oder Oslo) ablieferten, das macht aus dem Land des Lä- chelns die Heimat des ‚Selig-lächeln-machens‘! Wann wurden Würzburger Freaks je derar- tig über den Manga-Dancefloor gepeitscht? Dabei spielt Zai, ein wie einem Holzschnitt entstiegener Strich in der Landschaft, nur anderthalb Bass- töne pro Stück, während sie mit dem Turnschuh die Bass- trommel am Wandern hindert. Die nicht weniger blei- stiftdünne Masako triggert mit Pokerface eins, zwei, drei, vier Gitarrenriffs als Loops und hat so eine rhythmisch-orches- trale Wall of Sound, auf die sie helle Harmonien schraffiert. Und Hime, die unglaubliche Hime, klopft dazu 4/4 auf der Basstrommel, so straight wie ein Metronom, und pitcht dazu fast nur ihr Hi-Hat, was einen Beat ergibt wie man ihn zuletzt auf 80er Wave-Stompern gehört hat. Ihr Pferdeschwanz we- delt im Takt mit, wenn sie im Feuereifer die Tom Toms taiko- betrommel, immer nur kurze Querschläge, wie intuitiv, dann wieder das Hi-Hat, wie besessen. Kein Mann würde sich ge- trauen, so unorthodox Schlagzeug zu spielen. Aber der Effekt gibt ihr recht und entsprechend sachlich zupft sie nach je- dem Gang durchs Feuer Pferdeschwanz und Bluse zurecht. Sie ist kaum 1 Meter 50, aber sie oder eine ihrer Partnerin- nen Mädchen zu nennen, verbietet sich. Sie sind, auch wenn das Auge ganz anderes ver- mutet, fortgeschrittene Twens und verheiratet. Was sie da machen, kann man Minimal oder Hypno-Rock nennen, es ist so konsequent und eigen wie nur was. Stoisch drehen sie je etwa eine Viertelstunde lang ihre Beatmühle mit ostinatem Riffing, gleichzeitig mo- noton und wild durch die offenen Wirbel von Hime und Masa- kos Loops, in die sie schräge Zacken einbaut und dazu stän- dig Öl ins Feuer gießt. Nach einer Dreiviertelstunde kommt eine gepiepste Absage von Masako und die Drei entpuppen sich als schüchtern bis zum Gehtnichtmehr. Für die Zugabe bringen sie wieder ihre Handtaschen mit - einfach nicht zu fassen. Und spielen noch ein absolutes Freakout-Freerock- stück, ähnlich dem ‚Bonus‘-Track auf Rokuon (Bijin Records). Danach Autogrammstunde für die becirct und verRock‘n‘Rollt grinsenden Freaks. Dass die drei Nisennenmondais nicht immer schüchtern sind, zeigen sie mit frechem Gekicher auf ihrer von Uptem- po-Energie und dreckigem Klang geprägten Rokuon-CD. Denn um sich dermaßen vom Salarymen- und Nipponpop-Ja- pan abzusetzen, bis man zum Darling der Noisecore-Szene wird, muss man gehörig Selbstbewusstsein haben, für das The Slits oder Yoshimi P-We Rolemodels sein mögen, auch wenn der Sound aus anderen Anregungen schöpft. 3 glen or glenda Sind meine Freunde auch die Freunde meiner Freunde? Wäre Nietzsche gern mal mit Ale- jandro Jodorowsky durch die Nacht geschlendert, Serge Gainsbourg mit Edda Dell‘Orso? In Mathieu Fusters Kopf scheinen solche Freunde miteinander Geistergespräche zu führen. Der Bassist von Glen or Glenda aus Bordeaux (nicht aus Edingburgh), dessen Energie auch noch in Erez Martinic, Il Fulgurante (Fake-Italo-Punk), L Observance (Improvisation totale) und Oharu (Core-Gore) Ventile findet, gab am 25. Februar 2008 im Würzburger Im- merhin im Blicktausch mit der Drummerin Melody Gottardi die ersten rhythmischen Riffs und Breaks vor als Einstieg in einen musikalisch denkwürdigen Montagabend. Wie schon bei Nisennenmondai mit Sayaka Himeno, zog dabei eine Schlagzeugerin die Aufmerksamkeit auf sich, hier in Gestalt einer rotmähnigen ‚Marianne‘, die mit durchgedrücktem Kreuz mit ebenfalls unorthodoxer Schlagtechnik aufwartete. An ihrer Seite spielt Christophe Ratier Altoklarinette und, oft gleichzeitig, einen alten Synthesizer und als neuer vierter Mann geigt Shlam elektrifiziert. Das ist auch nötig, denn angesagt ist, die mit Verstärkern zugestellte kleine Bühne lässt es schon ahnen, Electric Chamberrock, durchsetzt mit ambienten und orientalischen Passagen, mulmigem Dröhncore und free-jazzigen Ausbrüchen, bei denen Ratier röhrend und grollend aufs Ganze geht. Drei lange Instrumentals, eigenwillig und ent- sprechend verblüffend strukturiert aus, wie Melody hinterher erläutert, 50:50 improvisier- ten und verabredeten Teilen. Melody klopft vorwiegend Snare und Toms mit oft marschähn- lichen Rolls und Rimshots, dazu lässt sie ständig das Hi-Hat klicken und versetzt gezielte Beckenschläge. MF spielt druckvolle Zeuhl-Basslinien und drückt den Kippschalter von pul- sierendem Schlangenbeschwörergroove zu stehenden Wellen, bei denen dann Ratier und Shlam mit Noiseeffekten die Wall of Sound mit Graffiti beschmieren. Dazwischen wird das Klangbild unerwartet ausgedünnt für Geigenpizzikati und perkussives Tickling, im Wechsel mit wilden Eruptionen und dann wieder ganz allmählich sich aufschaukelnden Acceleran- dos, die zum Headbangen geradezu nötigen, wobei Drums und Bass Schnitte und Ausrufe- zeichen setzen. Eine Zugabe gab es trotz allem Hurra keine. Wie im Kino oder Theater fiel der Vorhang und alles war gesagt. In Glen or Glendas Musik hörten die Babyblauen Seiten, der La Contrabande des Mouches-LP (Les Potagers Na- ture, 2006) lauschend, Guapo und Bohren Und Der Club Of Gore widerhallen, vor allem aber die schaurige Schönheit von B-Movie-Soundtracks (mit Lapsteel- sounds von Melody und Gewisper von Ana, der LP-Co- ver-Illustratorin, und beim Titelstück auch noch dem Ra- dikal-Satan-Akkordeon von Mauricio Amarante). Melody bekennt sich als RIO-beeinflusst, was aber offenbar mehr ihr Selbstverständnis betrifft als die Musik. Glen or Glenda würde ich eher Shub-Niggurath als verwandt an die Seite stellen, die ähnlich goblineske Stimmungsbil- der ins Hirn projezierten. Frankreich wurde jedenfalls seinem Ruf als Quelle frischer Ideen einmal mehr ge- recht. 4 left live leanDass LEAN LEFT auf der Anreise nach Weikersheim den Ausstieg in Würzburg verschlafen haben, ist bezeichnend. Würzburg? Weiterschlafen. Ken Vandermark, Terrie Ex, Andy Moor & Paal Nilssen-Love landeten dafür noch rechtzeitig im w 71 in Weikersheim. Der überwiegend mit Vander- mark-Fans gefüllte Club war am 15.03.2008 erwartungsvoll, was zwei der angesagtesten NowJazzer wohl mit zwei älteren Ex-Punk-Gitarristen am Hut haben könnten. Aber nur schlecht Informierte können übersehen haben, dass Andy Moor seit 1995, zuerst mit Terrie als Partner, dann mit Kletka Red, THERMAL, mit dem Corkestra oder solo längst auch ein improvisatorisches Spielbein schwingt. Terrie Ex wiederum hat seinen
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